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REZENSION/629: W. Baer, K.-H. Dellwo (Hg.) - Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien (Geschichte) (SB)


Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo (Hg.)


Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien

Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus.



Ein neuer Band des Laika-Verlages in seiner Bibliothek des Widerstands

Mit "Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien. Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus" hat der Laika Verlag einen neuen Band (31) in seiner "Bibliothek des Widerstands" herausgebracht. Nach "Die blutigen Tage in Genua" (Bd. 17) ist es die zweite Publikation über Italien.

Einer Einführung von Karl Heinz Roth folgen drei Kapitel: 1. Cesare Bermani: "Der Antifaschismus im Juli 1960" (wobei die Ausstrahlung auf die folgenden Jahre einbezogen ist); 2. Sergio Bologna: "Der Operaismus: Eine Innenansicht" und 3. Jacopo Chessa und Annemaria Licciardello "Ein Kino von allen und keinem" über das Entstehen des militanten italienischen Kinos der 1960er Jahre, seine Inhalte und seine Gestalter. Beigefügt sind zwei DVDs mit Filmen aus diesen Jahren, die in eindrucksvoller Weise die Darlegungen im 1. und 2. Kapitel belegen und auch ergänzen. Auch etwa drei Dutzend Originalfotos über den aufrüttelnden Widerstand gegen den faschistischen Vormarsch, dem die Staatsmacht mit blutiger Repression begegnete, illustrieren die Beiträge. Die Rezension konzentriert sich auf das 1. Und 2. Kapitel.


Der Hintergrund: IKP nutzte revolutionäre Chancen nicht [1]

Die Akteure im 1. Kapitel sind mit Konsequenzen der Nachkriegsstrategie der IKP (PCI) konfrontiert: Der Nichtnutzung der Chancen zur Einleitung revolutionärdemokratischer Veränderungen mit einer sozialistischen Perspektive durch IKP-Generalsekretär Palmiro Togliatti, der stattdessen auf den parlamentarischen Weg setzte, um das in der Resistenza geschlossene Bündnis mit der führenden großbourgeoisen Partei Democrazia Cristiana (DC) fortzusetzen. Zu den dazu gemachten weitreichenden Zugeständnissen gehörte, dass Togliatti als Justizminister das "Hohe Kommissariat zur Verfolgung der Regimeverbrecher" auflöste und einer so genannten Amnestie der "nationalen Versöhnung" zustimmte, die zu einer Revision von über 11.000 Urteilen führte. Freigelassen wurde u. a. der Chef der zur Partisanenbekämpfung eingesetzten 10. Torpedoboot-Flottille (Decima Maas), Fürst Valerio Borghese, der wegen wenigstens 800-fachen Mordes als Kriegsverbrecher verurteilt worden war. Das begünstigte, dass sich die Mussolini-Faschisten bereits im August 1945 in der Sammlungsbewegung Uòmo Qualunque (Jedermann) wieder organisieren konnten. Daraus ging im Dezember 1946 die Wiedergründung der Mussolini-Partei in Gestalt des Movimento Sociale Italiano (MSI) hervor, dem sofort Zehntausende alte Faschisten zuströmten. Mit der Wahl des MSI ins Parlament wurde die These von dessen "demokratischer Legitimität" kreiert. Staatschefs und Ministerpräsidenten empfingen MSI-Delegationen und stützten sich bei Wahlen auf dessen Stimmen. 1962 wurde der DC-Bewerber Antonio Segni und 1972 Giovanni Leone mit den MSI-Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt.

Das war die Situation, in der Cesare Bermani mit der Darlegung der Proteste gegen Ministerpräsident Fernando Tambroni (DC) beginnt. Der frühere Hauptmann der Miliz der RSI [2], seit 1926 Mitglied der faschistischen Partei, war ebenfalls mit den Stimmen des MSI gewählt worden und hatte diesem dafür die Durchführung eines für den 2. Juli 1960 in Genua anberaumten Parteitages genehmigt. Mit Karl Heinz Roth hat ein profunder Kenner und produktiver Publizist der radikalen Linken, die er immer als "revolutionäres Subjekt" sah, eine Einführung geschrieben. Eine Skizzierung der erwähnten Situation hätte die Bedeutung des heroischen Kampfes der jungen Antifaschisten, von denen viele den Protest gegen die Regierung Tambroni mit ihrem Leben bezahlten, hervorgehoben. Leider geht Roth auf dieses über die Hälfte des Buches umfassende Kapitel kaum ein, sondern widmet sich überwiegend dem im zweiten Kapitel behandelten Operaismus.

Bermani war als Mitglied des Jugendverbandes der IKP in der Resistenza aktiv, nach 1945 als Schriftsteller und Publizist tätig, darunter in der bekannten linken Zeitschrift "Primo Maggio" (Erster Mai). Er sammelte mündliche Quellen zur Gestaltung der Geschichte, gehörte zu den Mitbegründern des dazu geschaffenen Instituts sowie der Associazione Italiana di Storia Orale. Zeitweilig arbeitete er im Verlag von Giangiacomo Feltrinelli.[3]


Blutige Ausschreitungen der DC-Regierung

Gestützt auf die Berichte von Militanten und auf Zitate von Zeitzeugen legt Bermani Entstehen und Verlauf der Protestbewegung und der Kampfaktionen 1960 gegen die Tambroni-Regierung dar. Großartig wird das in DVD 1 "1960 I Ribelli" und in DVD 2 "La via sicura" (Der sichere Weg), einem Streifen der IKP, vorgeführt.[4] Diesen kämpferischen Antifaschismus, den Bermani "neuen Antifaschimus" nennt, führten vor allem jungen Antifaschisten an, von denen nicht wenige der IKP und ihrem Jugendverband angehörten, aus der Sozialistischen Partei - ISP (PSI) kamen oder auch parteilos waren. Viele aber begannen aus Enttäuschung über die inkonsequente Haltung von IKP und ISP, sich eigenständig zu organisieren. Sie traten dafür ein, das revolutionäre Erbe der Resistenza zu bewahren und die in der Verfassung festgelegten antifaschistischen Positionen - "gegen das gemäßigte und gesetzestreue Vorgehen der linken Parteien und Gewerkschaften in Genua" (S. 62) - entschieden zu verteidigen.

Das Vorgehen Tambronis war eine ungeheuerliche Provokation gegen das Erbe der Resistenza. Die Hafenstadt war eine Hochburg der Linken und des Antifaschismus und mit dem Titel "Heldenstadt der Resistenza" ausgezeichnet. Gegen die faschistische Provokation demonstrierten am Vorabend des Kongresses über einhunderttausend Menschen. Als Tambroni die Polizei einsetzte, kam es zu blutigen Zusammenstößen. Am Abend rückten Panzer in die Stadt ein. In Genua, Mailand u. a. Städten Norditaliens wurde der Generalstreik ausgerufen. Auf Kundgebungen und Demonstrationen erklang der Ruf: "Nein zum Faschismus", "Nieder mit der Regierung Tambroni" (S. 78). In Reggio Emilia schoss die Polizei in die Menge, es gab fünf Tote, in Palermo kamen drei Menschen, in Catania einer ums Leben. Bermani schreibt: "Die Polizisten schießen aus allen Ecken des Platzes. Sie schießen aus nächster Nähe. Auf die Leute. Sie schießen ununterbrochen. Der Erste der getroffen wird, ist Lauro Ferioli, 22 Jahre (Maurer), Vater eines Kindes. Als die ersten Schüsse fallen, läuft er ungläubig den Polizisten entgegen, als ob er sie stoppen will. Die Beamten sind 100 Meter von ihm entfernt. Sie treffen ihn mitten in die Brust, sie schießen ihm ins Gesicht..." (S. 74). Über eine in Rom an der Porta San Paolo brutal zusammengeschlagene Solidaritätskundgebung für Genua heißt es: "Eine Frau mit Kinderwagen wird getroffen und umgerissen. Die Tochter an ihrer Seite, noch ein kleines Kind, wird von einem Schlagstock getroffen. Ein Schwerbehinderter wird von einem Polizisten verfolgt, der ihn wiederholt schlägt, und schleppt sich mühsam auf den Krücken weiter, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Angriffe nehmen kein Ende..." (S. 66). Die Streiks dehnen sich landesweit aus. Der Polizeipräsident von Genua muss die Genehmigung für den MSI-Kongress zurückziehen, Tambroni am 19. Juli zurücktreten. Die Schilderungen dieser Kämpfe durch die Zeitzeugen, die Repressionskräften gegenüberstehen, die sich meist noch aus der Polizei und der Miliz Mussolinis rekrutieren und die insgesamt in typisch faschistischer Weise vorgehen, halte ich für den Höhepunkt des Kapitels und des Buches überhaupt, und einen Schwerpunkt, der seinen Wert insgesamt ausmacht.


ISP erfüllt DC-Forderungen für Regierungseintritt

Angesichts einer fehlenden Parlamentsmehrheit bildete der linke Reformer der DC Aldo Moro[5] im Dezember 1963 eine Centro sinistra (Mitte Links-Regierung), in die er die 1947 zusammen mit den Kommunisten aus der antifaschistischen Einheitsregierung vertriebenen Sozialisten wieder aufnahm. Dazu musste die ISP das 1934 im antifaschistischen Widerstand mit der IKP geschlossene Aktionseinheitsabkommen aufkündigen [6] und auf ihre Forderung nach einem gesellschaftlichen Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Außerdem billigte sie offiziell die Mitgliedschaft in der Nato. 25 ihrer 87 Abgeordneten und 12 der 36 Senatoren stimmten gegen den Eintritt in die DC-Regierung. Der nächste Schritt nach rechts war die Vereinigung der ISP mit den Sozialdemokraten Saragats. Danach verließen linke Sozialisten und bekannte Antifaschisten mit Lelio Basso, Emilio Lussu und Tullio Vecchietti an der Spitze die ISP und gründeten im Januar 1964 die Italienische Sozialistische Partei der Proletarischen Einheit (PSIUP), die auf über 150.000 Mitglieder anwuchs.[7] Bermani hält fest, dass das "die Unterordnung des PSI unter die DC und das Zerbrechen der Einheit der linken Parteien bedeutete" (S. 99). Bologna schreibt dagegen, dass die ISP "damals noch eine Partei war, die an den Positionen und Tendenzen marxistischer Provenienz festhielt" (S. 148). Das traf auf die erwähnte Minderheit, die die Partei verließ, zu, jedoch nicht auf die Mehrheit, die eine Rechtswende vollzog, die durch Pietro Nenni verdeckt wurde, der an der Parteibasis noch als Linker galt.[8]

Der Bogen des behandelten Jahrzehnts des antifaschistischen Kampfes spannt sich über die Ende 1967 einsetzenden Studentenproteste (S. 124 f.) bis zum Herbst 1969 und damit zu dem faschistischem Bomben-Attentat am 12. Dezember 1969 in der Schalterhalle der Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand. 14 Menschen waren sofort tot, zwei weitere starben im Krankenhaus. Über 80 wurden verletzt. Dass die CIA und der italienische Militärische Geheimdienst SIFAR 1963 planten, die Mitte Links-Regierung Moros durch eine Intervention der USA oder einen faschistischen Putsch zu stürzen, ließ sich von der Quellenlage her schwer einordnen, hätte aber in einer Fußnote erwähnt werden können.

Der Tod Togliattis am 21. August 1964 wird beiläufig erwähnt. Dass Luigi Longo seine Nachfolge als Generalsekretär antrat und sich auf dem 12. Parteitag 1969 gegen die reformistischen Tendenzen in der IKP, die zum Historischen Kompromiss führten, wandte, vor zu weit gehenden Kompromissen sowie der Überschätzung der parlamentarischen Möglichkeiten warnte, kommt nicht zur Sprache.


Primo Moronis "Goldene Horde" fehlt

Zum besseren Verständnis weniger informierter Leser hätte eine Zeittafel mit Geschichtsabschnitten dienen können. Ebenso eine Zusammenfassung der wichtigsten, die Thematik betreffenden Literatur (was nur teilweise in Fußnoten erfolgt). So fehlt der erwähnte Primo Moroni, der mit Nanni Balestrini "Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien" (Berlin 1994) schrieb, geradezu ein Standardwerk für das Verständnis der 1960er Jahre.

Bermani schließt mit dem faschistischen Anschlag in Mailand. Es ist die Geburtsstunde der von der CIA und der erst 1990 entdeckten Nato-Geheimtruppe Gladio mit den römischen Geheimdiensten und Faschisten inszenierten blutigen Spannungsstrategie, den damit beginnenden sogenannten Anni di Piombe (bleierne Jahre), gegen die Teile der radikalen Linken den bewaffneten Kampf führten. Das Rezept war simpel. Die Faschisten begingen Terroranschläge, die den Linken in die Schuhe geschoben wurden. In den ersten drei Tagen nach dem Attentat wurden über 300 Personen aus den Kreisen der Anarchisten und der außerparlamentarischen Linken verhaftet, darunter zwei der bekanntesten Mailänder Anarchisten, der Eisenbahner Giuseppe Pinelli und der Balletttänzer Pietro Valpreda. Jahrelang wurden Anarchisten und Linke verfolgt, viele eingesperrt, gleichzeitig die Spuren, die zu den Faschisten führten, beseitigt.


Blutbäder und Attentate, um die Arbeiterbewegung einzuschüchtern

Bermani faßt zusammen: Man ist "vom Schläger zum faschistischen Bombenleger, und vom Polizisten mit Schlagstock zum langhaarigen, verdeckten Ermittler übergegangen, wenn nicht sogar zu Polizisten, die aktiv in subversiven rechten Organisationen tätig sind.[9] Es werden nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich Strafexpeditionen mit Schlägerbanden organisiert, um den Arbeitern einer Fabrik Angst zu machen, sondern es werden Blutbäder, Attentate, umstürzlerische Machenschaften vorbereitet, um die ganze Arbeiterbewegung einzuschüchtern und zu lähmen." (S. 132) So war es. Die mit dem Attentat in der Mailänder Landwirtschaftsbank eröffnete Spannungsstrategie sollte einem neuen Putsch den Weg bereiten, den der Kriegsverbrecher Borghese in der Nacht zum 8. Dezember 1970 auslösen wollte.


IKP schloss radikalen Manifèsto-Flügel aus

Nach den faschistischen Anschlägen in Mailand grenzte die IKP-Führung sich von ihrem radikalen Flügel ab, ging auf Distanz zu den anarchistischen und autonomen Gruppen und ließ es an Solidarität mit ihren unschuldig eingesperrten Militanten fehlen. Im November 1969 schloss das ZK die unter dem Namen Manifèsto entstandene innerparteiliche Opposition aus. Insgesamt wurden etwa 10.000 Mitglieder ausgeschlossen oder verließen die Partei. Unter ihnen die legendären Linken Luigi Pintor und Rossana Rossanda, die anschließend die Zeitung "Manifèsto" gründeten.

Sergio Bologna, der sich mit dem italienischen Operaismus befasste, war einer der führenden Intellektuellen dieser Bewegung. Er gab die populäre Zeitschrift "Quaderni Rossi" (Rote Hefte) heraus, gründete u. a. mit Antonio Negri die Zeitschrift "Classe Operaia" (Arbeiterklasse) und gehörte 1969 zu den Gründungsmitgliedern von Potere Operaio (Arbeitermacht). Er schrieb "Der Stamm der Maulwürfe", ein Essay über die "1977er Bewegung", das als eine der vollständigsten Untersuchungen der sozialen, politischen und ökonomischen Ursprünge und der Zusammensetzung einer der wichtigsten politischen und sozialen Massenbewegungen Italiens gilt, deren Wurzeln bis in die heutigen centri sociali (Sozialzentren) und Freien Radios reichen. Er schrieb u. a. für "Lotta Continua" (Fortgesetzter Kampf), die Zeitschrift der gleichnamigen Organisation, die 20.000 Mitglieder zählte, und neben Potere Operaio einflussreichste Publikation der außerparlamentarischen Linken Italiens, sowie für "Manifèsto". Bologna hat sich eine sympathisierende, jedoch auch kritische Distanz zu den sozialen Bewegungen bewahrt. In Italien und Westeuropa übte er an verschiedenen Hochschulen eine Lehrtätigkeit aus, war seit 1985 Berater großer Unternehmen und Institutionen, u. a. Mitglied des Zentralkomitees des Centro Italiano Studi Container (Italienisches Zentrum für Container-Studien) und Ehrenmitglied des Deutschen Logistikvereins (BVL).[10]


Der Operaismus in den sozialen Kämpfen

Zentraler Bezugspunkt Bolognas ist das Aufkommen des Operaismus in den sozialen und Klassenkämpfen der 1960er Jahre. Die Bezeichnung geht von Operaio bzw. Operaia (Arbeiter, Arbeiterin) aus und bezieht sich auf das Aufkommen des neuen Typs des Industriearbeiters besonders am Beispiel der Autoherstellung in den FIAT-Werken und der Einführung der Fließbandproduktion. Der Arbeiter wird als das kämpfende Subjekt in den sozialen Kämpfen dargestellt. Hintergrund sind die Industriemetropolen, wo die Einwohnerzahlen sprunghaft anstiegen. Es fehlten Schulen, sanitäre Anlagen und öffentliche Verkehrsmittel. Zehntausende konnten die teuren Mieten nicht bezahlen und lebten in den Slums der Peripherie.


Herausbildung der Arbeiteraristokratie übersehen

Bologna, auch vorher Bermani gehen nicht auf einen sozialen Prozess ein, der eine Grundlage für den in der ISP und in Grundzügen bereits in der IKP einsetzenden Kurs hin zu einer Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie bildete: Die mit dem Machtantritt des Faschismus 1922 unterbrochene Herausbildung einer Schicht der Arbeiteraristokratie. Wenn Bologna schreibt, dass Gegenstand des operaistischen Forschungsteams jener Jahre die "Auseinandersetzung mit der Welt der Fabrikproduktion war" und versucht wurde, "den verschiedenen Ebenen, aus denen sich das System der Produktionsverhältnisse zusammensetzt, auf den Grund zu gehen: der sequenzartigen Organisation des Produktionszyklus, den Hierarchiemechanismen, die dieser Produktionszyklus spontan hervorbringt..." (S. 146), dann hätte man zwangsläufig auf diese Prozesse stoßen müssen. Die stärksten Konzerne hatten ihre Kriegsgewinne in modernste Industrieanlagen investiert, die eine hoch intensive Ausbeutung der Arbeitskraft ermöglichten. Einen Teil der erreichten Höchstprofite nutzten führende Unternehmen wie FIAT, Olivetti, aber auch Staatskonzerne wie ENI und IRI, um einen Teil der Arbeiter (und in den Führungsetagen Funktionäre der Arbeiterparteien) zu korrumpieren. Es entstand der so genannte Paternalismus, das Leitbild der Ergebenheit und Treue des Arbeiters zum Unternehmen, die entsprechend belohnt wurden. Mit Zuschlägen für treue Dienstjahre, überdurchschnittlich hohe Arbeitsleistungen und lückenlose Anwesenheit (was hieß, nicht an Streiks teilzunehmen), die Vergabe von unter der üblichen Miete liegenden Werkswohnungen, Betriebskindergärten und billiges Kantinenessen, lange Zeit teilweise kostenlos. In den Verhandlungen über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zeigten sich die Unternehmer nachgiebig. Die reformistischen Theorien von der möglichen Kontrolle der Unternehmer erhielten Auftrieb. Die Kampfbereitschaft der Arbeiter ging zeitweilig spürbar zurück. Die Zahl der Streikstunden sank von 44,9 Millionen in den Jahren 1953-1955 auf 34,5 Millionen 1956-1958. Bei FIAT gab es bis 1962 überhaupt keine Streiks.

Bei Bolgna heißt es weiter: "Wenn sich die Operaisten (worunter hier diejenigen, die sich mit der Erforschung der Arbeitswelt befassen, zu verstehen sind - GF), eindeutig vom politischen Personal einer Linkspartei unterscheiden, dann weil sie sich über die Komplexität vollends im Klaren waren", während eine Partei der sozialistischen oder kommunistischen Tradition dem "in keiner Weise gerecht wird".[11]


Fundus für Erarbeitung künftiger Lehren der Niederlagen

Wenn ich auch die eine oder andere Ansicht der Autoren des Buches nicht teile oder für problematisch halte, heißt das nicht, dass das, was dargelegt wird, nicht zum Erfahrungsschatz der kommunistischen und linken Bewegung Italiens gehört und dieser wertvolle Fundus in die Erarbeitung künftiger Lehren der Niederlagen und für eine kämpferische Strategie zum Sturz der Herrschaft des Kapitals einbezogen werden müsste. Um diesen Kampf erfolgreich zu bestehen, werden die verschiedenen Kräfte der Linken ihre Meinungsverschiedenheiten zurückstellen und das Gemeinsame zur Grundlage nehmen müssen, was übrigens Bermani und Bologna in ihren Kapiteln wiederholt herausstellen.


Anmerkungen:

[1] Zum besseren Verständnis legt der Rezensent hier und im Weiteren auch in einigen Fußnoten den Hintergrund zu den Ereignissen oder zu Personen der behandelten Periode dar.

[2] Repubblica Sociale Italiano, von Mussolini nach seinem Sturz im Juli 1943 im Herbst des Jahres unter dem Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht gebildete Pseudo-Republik, nach ihrem Sitz am Gardasee kurz Salò-Republik genannt.

[3] Der aus einer reichen Unternehmerfamilie stammende frühere Kommandeur einer Partisanenbrigade trat der IKP bei, die er aus Protest gegen den auf die Klassenzusammenarbeit mit der DC orientierten Kurs später wieder verließ. Er war persönlich mit Fidel Castro und Che Guevara, bei dem er sich einige Zeit in Bolivien aufhielt, befreundet und sympathisierte mit Rebellenbewegungen in der Dritten Welt, die er auch finanziell unterstützte. Er stand der radikalen Linken und ihrem Kampf gegen die faschistische Gefahr solidarisch gegenüber. Feltrinelli gab u. a. Pasternaks "Dr. Schiwago", die Erstauflage von Lampedusas "Leopard", später Che Guevaras "Bolivanisches Tagebuch" heraus, die seinen Weltruf als Verleger begründeten. Am 15. März 1972 fiel er bei Mailand einem faschistischen Sprengstoffattentat zum Opfer, den der Mailänder Polizeikommissar Calabresi als Unfalltod bei einem von Feltrinelli angeblich selbst ausgeführten Anschlag manipulierte.

[4] Besonders in diesen Filmen stellt sich folgende Frage: Die kämpferischen Antifaschisten - Kommunisten, Sozialisten, radikale Linke - stoppten 1960 die Faschisten und stürzten die Tambroni-Regierung. 1994 waren sie reife Menschen, hatten Kinder und Enkelkinder in ihrem Alter von 1960. Warum gelang es ihnen in diesem Jahr nicht, den Machtantritt eines Silvio Berlusconi, einer der Führer der faschistischen Putschloge P2, der mit den MSI-Faschisten und Lega-Rassisten eine Regierung bildete, die "Manifèsto" "eine schwarze Regierung aus Faschisten und Monarchisten, Lega-Leuten und christdemokratischem Schrott, Industriellen, Anwälten und Managern der Finivest" (Berlusconis Medienkonzern) nannte, zu verhindern. Hier hätte man sich in einem Schlusswort einige Aussagen zu den Ursachen gewünscht.

[5] Als Moro 1978 mit IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer ein Regierungsabkommen (Historischer Kompromiss) schloss, fiel er einem von der CIA inszenierten Mordkomplott, in das die von Geheimdienstagenten unterwanderten linksextremen Brigate Rosse einbezogen wurden, zum Opfer.

[6] Während ihres Einsatzes zur Verteidigung der Spanischen Republik vertieften IKP und ISP 1937 das Abkommen mit einem klaren Bekenntnis zum antiimperialistischen Kampf und zu einer sozialistischen Perspektive.

[7] 1972 trat eine Mehrheit des PSIUP zur IKP über. Einige ihrer führenden Vertreter erhielten hohe Posten, so Dario Valori im Politbüro. Andere Mitglieder gründeten die Partei der proletarischen Einheit für den Kommunismus (PdUP), die sich 1974 mit der Manifèsto-Gruppe zusammenschloss.

[8] Mit der Rechtswende wurde der Weg frei für den korrupten Bettino Craxi, seit 1972 Stellvertretender ISP-Chef, Mitglied des Dreidirektoriums der faschistischen Putschloge P2, die ihn 1976 in der so genannten Midas-Verschwörung (benannt nach dem luxuriösen Hotel, in dem der ISP-Parteitag stattfand) an die Macht verhalf.

[9] Sie wurden ebenso in linke Organisationen eingeschleust. Der zuständige Ausschuss des Repräsentantenhauses der USA empfahl 1968 allen Geheimdienstorganen, zur Destabilisierung der Linken stärker linksradikale Kräfte zu unterwandern. Das Pentagon erließ im November 1970 ein Feldhandbuch (Field Manual 30-31) mit detaillierten Weisungen zur Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen. Die undercoveragents sollten zur gegebenen Zeit Operationen - von der Provozierung von Unruhen bis zu politischen Morden - auslösen, um den Vorwand zur Errichtung eines Regimes "der starken Hand" zu liefern. Zwei Jahre nachdem die Order ergangen war, berichtete die Pariser "Le Monde". Dass mindestens zehn Prozent Mitglieder aller linksradikalen Vereinigungen Agenten der Polizei und Geheimdienste seien.

[10] Der BLV ist ein Netzwerk von Fach- und Führungskräften, dessen Mitglieder laut Wikipedia aus der Führungsebene von Industrie, Handel, Dienstleistungen und Wissenschaft kommen. In der Logistik wurden in Deutschland 2012 knapp 200 Mrd. Euro ungesetzt. Ohne hier ein Werturteil zu fällen, fragt sich doch, wie ein Linker in diesem BLV zu solcher "Ehre" kommt und ob hier aus dem Operaismus Erfahrungen und für wen eingebracht werden können.

[11] Das gleicht dann nun wohl dem, was man Kommunisten gern vorwirft, dass sie sich im Alleinbesitz der historischen Wahrheit wähnten.

30. Juni 2014


Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo (Hg.):
Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien.
Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus.
Bibliothek des Widerstands. Bd. 31
Laika Verlag, Hamburg 2014
in Kooperation mit junge Welt
224 Seiten
Euro 29,90
ISBN 978-3-944233-17-8