Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/619: Andreas Wehr - Der europäische Traum und die Wirklichkeit (SB)


Andreas Wehr


Der europäische Traum und die Wirklichkeit

Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen



Das Leitmotiv, anstelle der vermiedenen Konfrontation mit nationalstaatlich verfestigter Sicherung und Fortschreibung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einen Heilsweg auf höherer Ebene der Europäischen Union zu verorten, zeugt von Flucht und Beteiligung. Flucht vor den nicht geführten und deshalb für gescheitert erklärten Kämpfen im eigenen Land. Beteiligung an einem politisch-administrativen Komplex, in dessen Schoß man ideologische Geborgenheit und karrierefördernde Posten zu finden trachtet. Das ist kein Novum in Kreisen der deutschen Linken. Der Schulterschluß mit den Randständigen, Ausgegrenzten, Erwerbslosen, Psychiatrisierten, kurz den Schwächsten der Gesellschaft, den sich seinerzeit die entschiedensten Protagonisten des Streits gegen die herrschenden Verhältnisse auf die Fahne geschrieben hatten, rief massive Berührungsängste auf den Plan. Aus Gutmenschendenken, Rechtsgläubigkeit und nicht zuletzt berufsständischen Interessen verwobenen Lebensentwürfen erschien dies allzu bedrohlich und anrüchig. Unverfängliche Heroisierung war das eine, die existenzgefährdende Repression des aufgerüsteten Hochsicherheitsstaats jedoch plötzlich etwas ganz anderes, wenn dieser an die eigene Haustür zu pochen drohte.

So hofierte man denn die Arbeiteraristokratie und ließ das Lumpenproletariat links liegen. Man schwor auf gewerkschaftlich gebahnte Verfahren legaler Interessenvertretung und übersah geflissentlich die Würgeschlinge verrechtlichter Mitbestimmung. Die einen entdeckten im Antifaschismus eine goldene Brücke ins demokratische Bündnis konsensfähiger Übereinkünfte. Die andern zog es in die Ferne, muteten doch die Befreiungsbewegungen in aller Welt auf einmal viel dringlicher und attraktiver als die alltäglichen Verwerfungen hiesiger Konfliktlagen an, mit denen man sich unterdessen arrangierte. So wurden die Genossinnen und Genossen aus jenen Ländern auf Solidaritätsveranstaltungen ein ums andere Mal gefragt, wie man sie unterstützen könne. Indem ihr euren eigenen Kampf führt, war indessen eine Antwort, die man höchst ungern in ihren Konsequenzen auslotete.

Wer Imperialismus aus dem Kapitalismus ableitet, käme nicht auf die Idee, Gefallen an kapitalistischen Staatenbünden und überstaatlichen Administrationen zu finden. Wer Antikapitalismus als Jugendsünde und extremistischen Irrweg entsorgt, aber schon. So vereint die Protagonisten einer "anderen" Europäischen Union jedweder Couleur eine mehr oder minder unverhohlene Absage an die Maxime, daß der Feind im eigenen Land steht. Ob man sich von vornherein aller ernsthaften Streitbarkeit ihm gegenüber enthält oder der Ausflucht verschreibt, es ließe sich in Brüssel richten, was in Berlin, Paris oder London unmöglich sei, läuft auf dasselbe hinaus: einen europäischen Traum, der von der Wirklichkeit der EU nichts wissen will.

Andreas Wehr, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter der "Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne" im Europäischen Parlament seine langjährige Erfahrung in zahlreichen Publikationen einer wachsenden Leserschaft zugänglich macht, weiß, wovon er spricht. So hat er mit seinem vorliegenden Buch einen gangbaren Weg durch den Dschungel EU-administrativer Verstrickungen gebahnt, deren Bedeutung und Tragweite sich weithin dem Verständnis der Bevölkerungen entzieht. Was diese eher instinktiv als in vollem Umfang begriffen in zunehmendem Maße mit Mißtrauen und Skepsis erfüllt, bekommt klare Kontur, wenn der Autor verschiedenen Verfechtern glorifizierender gesamteuropäischer Entwürfe auf den Zahn fühlt. Indem er ihre Verdrehungen, Auslassungen und Behauptungen analysiert, entschlüsselt er die jeweils spezifischen Motive und unterzieht so, aus unterschiedlichen Vektoren kommend, ihre im Kern übereinstimmende Interessenlage einer grundsätzlichen Kritik.

Der in der politischen und akademischen Welt hofierte US-amerikanische Autor Jeremy Rifkin, dessen von haarsträubenden Fehlern wimmelndes Pamphlet "Der Europäische Traum" Andreas Wehr als Science Fiction klassifiziert, sieht in der EU die adäquate Antwort auf die Globalisierung und glaubt, daß der amerikanische Traum durch den europäischen abgelöst wird. Der Philosoph Jürgen Habermas konstatiert einen immer geringeren Handlungsspielraum der Nationalstaaten, woraus er ableitet, daß Demokratie und Sozialstaatlichkeit nur auf der höheren europäischen Ebene erhalten bzw. rekonstruiert werden können. Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck kritisiert die deutsche Hegemonie in Europa, fordert aber zugleich größere Kompetenzen für die EU zu Lasten der Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten, womit er im Gleichschritt mit der Bundesregierung marschiert. Die beiden Abgeordneten des EU-Parlaments Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt traktieren ihr Lesepublikum im Manifest "Für Europa!" im Duktus einer Kampfschrift mit dem Ruf nach einer "veritablen Revolution", die zur Errichtung einer föderalen Union führen soll. Und nicht zuletzt kann laut Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, nur dann ein Ausweg aus der Eurokrise gefunden werden, wenn die Rechte von Kommission und Europäischem Parlament auf Kosten der Nationalstaaten deutlich gestärkt werden.

Bei allen Unterschieden zwischen diesen Ansätzen zeichnen sich doch frappierende Gemeinsamkeiten unter den Autoren ab. Sie vertreten die Auffassung, daß erst die europäische Integration den Frieden auf dem Kontinent gesichert habe, und sind sich darin einig, daß der Nationalstaat endgültig der Vergangenheit angehöre. Vor allem aber fordern sie eine forcierte Integration, damit sich Europa im internationalen Konkurrenzkampf als bedeutende Macht behaupten kann. Als schärfste Rivalen werden neben den USA auch China, Indien und Brasilien genannt, wobei deutlich zutage tritt, daß der bröckelnde Zusammenhalt der EU mittels eines äußeren Feindbildes neu verschweißt werden soll.

Nach einer ausgiebigen Überprüfung und Bewertung der genannten Ansätze unterzieht Andreas Wehr die darin zum Ausdruck kommenden Europaideologien einer Grundsatzkritik. Er kontrastiert die weithin kolportierte Behauptung von der friedensstiftenden Kraft der europäischen Integration mit dem Streben nach einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, der Aufstellung mobiler Eingreiftruppen und militärischen Einsätzen auf drei Kontinenten. Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) koordiniert die Rüstungspolitik, der Lissabon-Vertrag verpflichtet die Mitglieder, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern. Blendet die Friedensideologie schon die Kolonialkriege Frankreichs, Britanniens und der Niederlande in den 1950er und frühen 1960er Jahren aus, so strafen sie die Kriege in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und in Libyen vollends Lügen. Bei der europäischen Integration ging es nie um die Verhinderung von Kriegen, sondern vielmehr eine westeuropäische Nachkriegsordnung unter Regie der USA im Zeichen der Blockkonfrontation. Die Friedensrhetorik bezeichnet einen Gründungsmythos im deutsch-französischen Verhältnis, der weitergetragen wurde, um sich gegenüber den USA als selbständige Kraft innerhalb der Allianz zu profilieren.

Die zweite große Legitimationsideologie der EU war das Wohlstandsversprechen, das noch in der Lissabon-Agenda vom März 2000 in der Formulierung des strategischen Ziels gipfelte, die Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der dauerhaft Wachstum, Arbeitsplätze und sozialen Zusammenhalt garantieren werde. Heute befindet sich die EU in der tiefen Krise, die Arbeitslosigkeit liegt auf hohem Niveau und die Peripherie versinkt im Elend. Die Verschuldung der Mitgliedsstaaten ist erheblich gestiegen, und die Gegensätze zwischen Kerneuropa und den Rändern im Osten und Süden nehmen dramatisch zu. Die Spaltung zwischen den Euroländern und den anderen Mitgliedern der EU hat sich vertieft, wobei die Gemeinschaftswährung als solche vielerorts umstritten ist. Deutlich tritt eine Hierarchie hervor, wenn die Führungsmächte den Befehlsempfängern die Austeritätspolitik aufzwingen. Wachsender Wohlstand für alle Menschen in der EU hat sich längst ins Gegenteil verkehrt, zeichnet sich doch in der Krise die imperialistische Konkurrenz immer schärfer ab, wobei Deutschland die neue europäische Hegemonialordnung dominiert.

Alle genannten Autoren stimmen darin überein, daß das europäische Projekt mit einer neuen Ideologie ausgestattet werden müsse. Sie warnen vor einem Niedergang in Gestalt schrumpfender Bevölkerung, abnehmenden ökonomischen Gewichts und schwindender politischer Bedeutung. Wollten sich die Europäer auf der Agenda der Weltpolitik behaupten und auf die Lösung globaler Probleme Einfluß nehmen, sei ihr Zusammenschluß unverzichtbar, käme der Verzicht darauf einem Abschied aus der Weltgeschichte gleich. Dabei haben Feindbilder in den verschiedenen Europaideologien Tradition, wies doch schon Lenin darauf hin, daß die Idee eines vereinten Europa als Abwehrbündnis gegen andere Großmächte bereits im 19. Jahrhundert existierte. Das Streben europäischer Eliten, im weltweiten Konkurrenzkampf den Ton anzugeben, setzte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der Warnung fort, Europa dürfe nicht zum bloßen Anhängsel der USA werden. In den 1980er Jahren waren es dann zunächst die OPEC-Staaten und wenig später der unaufhaltsam anmutende Aufstieg Japans, welche die europäischen Untergangsängste befeuerten.

Heute ist China das zentrale Feindbild im Kontext europäischer Hegemonialinteressen, wobei sogar von einem zweiten Kalten Krieg die Rede ist. Wenngleich Prognosen darauf schließen lassen, daß China 2030 die Liste der wichtigsten Wirtschaftsmächte anführen wird, während sich die Reihenfolge dahinter erheblich verändert hat, wäre damit jedoch nicht zwangsläufig ein Niedergang des Westens verbunden, dessen Konzerne derzeit gerade vom Aufschwung der Schwellenländer profitieren. Noch ist die Übermacht der US-amerikanischen und europäischen Unternehmen im Weltmaßstab erdrückend, wobei gerade letztere in jüngerer Zeit Boden gutgemacht haben. Anders als Japan oder Südkorea läßt sich China jedoch aufgrund seines Gesellschaftssystems nicht in ein westliches Militärbündnis einbinden und wird insbesondere seitens der USA in wachsendem Maße eingekesselt.

Wenngleich für die EU die Nähe zu den USA nach wie vor absoluten Vorrang genießt, nehmen europäische Vordenker doch eine kulturelle Vorreiterrolle für sich in Anspruch, zumal der nordamerikanische NATO-Partner durch seine brachialen Praktiken sein Prestige massiv beschädigt hat. Wenn Habermas globale Steuerungskapazitäten anmahnt, Beck mit dem von ihm entwickelten Konzept der "Weltrisikogesellschaft" das Ausgreifen Europas rechtfertigt, Cohn-Bendit und Verhofstadt zur Durchsetzung von Prinzipien am Verhandlungstisch Stärke fordern und Schulz gar den Export hiesiger Werte zur Erfüllung der Hoffnung ausgebeuteter Armer erklärt, maßt sich die EU moralische Überlegenheit an. Während die USA eher für die groben Maßnahmen zuständig sind, übernehmen die Europäer die ideologische Durchdringung anderer Gesellschaften durch einen ausgeklügelten Menschenrechtsimperialismus. Die Konstruktion von Feindbildern dient mithin dem Zweck, den Charakter der EU als Projekt innerer und äußerer imperialistischer Übergriffe zu verschleiern wie auch die Bevölkerung ihrer Mitgliedsländer ungeachtet der gesellschaftlichen Widersprüche hinter der Selbstbehauptung Europas zu versammeln.

Leider verfangen die von Andreas Wehr analysierten Ideologien auch bei linken Parteien, Gewerkschaften und globalisierungskritischen NGOs, die den sozialen Kampf auf nationalstaatlicher Ebene für aussichtslos erklären. Sie träumen von einer Europäischen Union der Menschen, als handle es sich bei der EU nicht durchweg und ausschließlich um ein Projekt der führenden Kapitale und Staaten Europas. Ebensogut könnte man einen humanen Kapitalismus anmahnen, und es steht zu befürchten, daß das letztendlich der Zweck dieser Übung ist. Das vorliegende Buch sei daher einem breiten Kreis von Leserinnen und Lesern empfohlen, klärt es doch in der kritischen Auseinandersetzung mit Protagonisten einer forcierten Integration Europas auf verständliche und nachvollziehbare Weise über den Charakter der EU auf. Es sollte insbesondere geeignet sein, in der Kontroverse der Linken um eine Reformierbarkeit der Europäischen Union ein klares und unabweisliches Zeichen zu setzen, wo die Kämpfe zu führen sind, die das Antlitz Europas tatsächlich zum Besseren verändern könnten.

26. Dezember 2013


Andreas Wehr
Der europäische Traum und die Wirklichkeit
Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen
PapyRossa Verlag, Köln 2013
155 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-89438-526-2