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REZENSION/598: Thurn/Oertel - Taste the Waste (Kochbuch) (SB)


Valentin Thurn/Gundula Oertel


Taste the Waste

Rezepte und Ideen für Essensretter

Das Kochbuch zum Bestseller "Die Essensvernichter"



Kochrezepte? Die haben im Kochbuch "Taste the Waste" von Valentin Thurn und Gundula Oertel, dem Ergänzungswerk zur gleichnamigen Dokumentation und dem Bestseller "Die Essensvernichter", eher illustrativen Charakter. Das Hauptgewicht liegt auf den Rezepten zum Leben.

In 12 Kapiteln werden Essensretter im denkbar weitesten Sinne mit ihren kulinarischen Projekten und Ideen vorgestellt. Den Abschluß jeden Kapitels bilden mehrere, den Geist des jeweiligen Projekts repräsentierende Kochrezepte. Eine übersichtliche Gestaltung für eine inhaltlich eher inhomogene Sammlung. Aus diesem Grunde sollten auch nicht sämtliche "Rebellen am Herd" (S. 9) unbesehen mit politisch widerständig denkenden Menschen in einen Topf geworfen werfen. Viele Essensretter wollen allenfalls im Nebenherein den Hunger in der Wegwerfgesellschaft bekämpfen. Primär wollen sie Essen retten. Nicht Menschen.

Auch Profi-Dokumentarfilmer und Neuerdings-Kochbuchautor Thurn legt es uneingedenk zahlreicher von ihm bearbeiteter gesellschaftskritischer Themen (Gewalt im Knast, gefährliche Krankenhauskeime, unschuldig Verurteilte) nicht auf eine grundsätzliche Systemkritik an. In einem Interview zum Thema Essensvernichtung sagte er dem WDR zwar: "Es gibt nicht einen einzelnen Bösen, sondern es ist ein System, in dem wir alle drinstecken, auch wir Verbraucher." Aber dass es nicht sein Ding ist, dieses System infrage zu stellen, sagte er dem WDR auch: "Trotzdem kann man das marktwirtschaftlich regeln, davon bin ich überzeugt." Und als Beispiel für einen solchen Regelungsversuch führt er dann noch die Müllgebühren an.

Wenn von "kulinarischem Widerstand" die Rede ist, werden Thurn und Oertel nicht müde, Beispiele zu finden, dass der Genuss dabei nicht zwangsläufig zu kurz kommen muss: "Das gut sortierte Gewürzregal lässt erahnen, dass auch Robin und Katharina eher zu den Genießern gehören. Aber mit politischem Anspruch." [S. 114] Auch wenn dieser politische Anspruch mitunter selbst zum Gewürz gerät - der gesteigerte Genuss rechtfertigt seine Verstoffwechselung allemal.

Genussorientiert geht es auch bei ARD-Koch Vincent Klink zu, dessen Rezepte, passend zu seiner "Vom Einfachsten das Beste"-Philosophie [S. 39], exquisit kostspielige Zutaten wie Safranfäden (ab 30 Euro/Gramm) enthalten, die im Supermarktmüll sicher nur selten zu finden sind. Oder bei Milenko Gavrilovic, einem Hamburger Restaurantchef aus Bosnien, der den Rebellen am Herd "Wildschwein-Praline, vom Oktopus umarmt" zum Nachkochen empfiehlt. Er wird offenbar wegen der Verwendung des ganzen Oktopus, also des Servierens ganzer Arme einschließlich der Saugnäpfe, zu den Essensrettern gerechnet. Dass der Oktopus durch Überfischung vom Aussterben bedroht ist, interessiert in diesem Zusammenhang weniger.

Von dem Verdacht, einigen Essensrettern in diesem Buch ginge es vor allem um die Veredelung von Nahrungsmitteln durch Sinn-Sosse und Abenteuer-Aspik, scheinen selbst die Autoren nicht ganz frei zu sein: "Passt das - mit einem BMW zum Mülltauchen? Talley findet die große Ladefläche äußerst praktisch. Außerdem kann sich die 38-Jährige das Auto leisten, sie hat als Chefsekretärin einen gut bezahlten Job, organisiert Events für Großunternehmen." [S. 112] Ein hohes Einkommen macht einen als Essensretter aber nicht gleich unglaubwürdig, denn: "Wer für sich selbst die Relation von Preis und Leistung beim Essen zugunsten von Genuss und Nachhaltigkeit ändern will, braucht dazu eher eine andere Haltung als ein anderes Einkommensniveau." [S. 13]

Das stimmt allerdings nicht für Leute, deren Einkommen ganz und gar niveaulos ist, also etwa bei Hartz-IV angesiedelt. Denn "die wachsende Taste the Waste-Netzgemeinde, die über Facebook, Twitter und YouTube in Kontakt bleibt" [14], ist für diese Gesellschaftsschicht mangels PC und/oder Internetanschluss ebenso unerreichbar wie die "Initiative Foodsharing, die das Prinzip `teilen und mitteilen` unter anderem über eine Smartphone-Applikation aufgreift." [S. 15] Ohne Geld für PC oder Smartphone hilft auch keine "andere Haltung", es sei denn, eine gesetzeswidrige.

Selbst die "Freibeuter am Herd" (Food Fighters), die Lebensmittel aus der Supermarkt-Mülltonne kreativ verwenden, werden ausgerechnet durch vier Mainzer Spitzenköche repräsentiert, denen der Gaumenkitzel für verwöhnte Gourmets näher zu sein scheint als der Bedarf an preiswerten, schmackhaften und nachhaltig sättigenden Mahlzeiten. Denn wer von Löwenzahnterrine mit Knöterich-Springkraut-Kompott satt werden muß, ist richtig arm dran. Auch die Klöße aus rohen Fischabschnitten mit Sahne und Pernod scheinen eher kochhandwerklicher Eitelkeit geschuldet zu sein als dem Bemühen um nachkochbare Resteverwertung.

Die beiden ebenfalls in dem Buch vorgestellten, rundweg sympathischen Projekte "Kinder am Herd" (Timo Schmitt kocht mit Berliner Grundschülern, was sonst auf dem Müll gelandet wäre) und "Vom klugen Haushalten mit Nahrungsschätzen" (Großmutters Küche: ein Teebeutel ergibt so viele Tassen Tee, wie man braucht) genügen leider nicht, um dem Essensretter-Eintopf von Thurn und Oertel den faden Beigeschmack des Merchandising-Produkts zu nehmen. Geschrieben für Leute, die im "Taste the Waste"-T-Shirt (streng limitierte Auflage, Preis 25! Euro) samstags nach dem Film an unterhaltsamen Mülltaucher-Events teilnehmen, solange das eben trendy ist. Danach landen T-Shirt, Kochbuch und selbstgesammelte Supermarktware, na wo wohl? - Eben da.

9. November 2012


Valentin Thurn/Gundula Oertel
Taste the Waste
Rezepte und Ideen für Essensretter
Das Kochbuch zum Bestseller "Die Essensvernichter"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
256 Seiten
ISBN 978-3-462-04483-6