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REZENSION/533: Narr u. Vogelskamp - Der Mord in Dessau im Schoß der Polizei mit gerichtlichen Nachspielen (SB)


Wolf-Dieter Narr / Dirk Vogelskamp


Der Mord in Dessau im Schoß der Polizei - mit gerichtlichen Nachspielen

Oder: Warum Oury Jalloh aus Sierra Leone am 7. Januar 2005 polizeiverwahrt verbrannte - Darstellung, Analyse, Konsequenzen eines aufhaltsamen Strafverfahrens nach der 2. Etappe



Halten Sie es für möglich, daß in der Bundesrepublik Deutschland ein Mensch, an Händen und Füßen gefesselt bzw. auf einer Pritsche "fixiert" und somit wehrlos, in einer Polizeizelle angezündet wird und einen qualvollen Feuertod stirbt? Wäre diese Frage Gegenstand einer repräsentativen Meinungsumfrage unter Bundesbürgern, würde sich vermutlich im Ergebnis ein vielleicht nicht uneingeschränktes, aber doch im Kern bestehendes Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen ablesen lassen, weil sich die wenigsten Menschen so etwas vorstellen können. Würde im Anschluß daran gefragt werden, ob die Befragten, sollte es tatsächlich zu einem solchen Verbrechen gekommen sein, es für möglich halten, daß die innerhalb der Polizei zu vermutenden Täter sowohl seitens ihrer Institution als auch durch die Staatsanwaltschaft und die beteiligten Gerichte "gedeckt" werden könnten, würde das Nein wohl noch einhelliger ausfallen als bei der ersten Frage.

Diese Anmerkungen sollen an dieser Stelle genügen, um anzudeuten, wie "politisch" brisant der Fall Oury Jallohs, eines jungen Asylbewerbers aus Sierra Leone, der am 7. Januar 2005 in einer Gewahrsamszelle der Dessauer Polizei bei lebendigem Leib und unter nach wie vor ungeklärten Umständen auf einer feuerfesten Matratze verbrannte, bis heute geblieben ist. Der Ausspruch "Oury Jalloh - das war Mord" hat schon zu negativen Konsequenzen für diejenigen geführt, die auf diese Weise zum Tod Oury Jallohs und dem vor dem Landgericht Dessau gegen zwei Polizeibeamte geführten Strafverfahren, das mit einem Freispruch für beide Angeklagten endete, Stellung genommen haben. Aus Sicht der Angehörigen, Freunde und Unterstützer haben die bisherigen juristischen Aufarbeitungsversuche jedoch nicht die geringsten Anhaltspunkte ergeben, die sie von ihrer Position hätten abbringen können. Als der Vorsitzende Richter Manfred Steinhof am 8. Dezember 2008 das Urteil verkündete, brachen im Saal Tumulte aufgebrachter Zuschauer aus, die "Oury Jalloh - das war Mord" skandierten.

Seitdem sind abermals eineinhalb Jahre vergangen, ohne daß dem von der Familie des Verstorbenen so dringend geäußerten Wunsch nach vollständiger Aufklärung darüber, wie ihr Angehöriger ums Leben kam, nachgekommen worden wäre. Der Bundesgerichtshof hat das Dessauer Urteil am fünften Jahrestag des Feuertodes, dem 7. Januar 2010, in Hinsicht auf einen der beiden freigesprochenen Angeklagten aufgehoben mit der Folge, daß vor dem Landgericht Magdeburg neu darüber verhandelt werden muß, ob dem damaligen Dienstgruppenleiter S. eine Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassung anzulasten ist oder nicht. Juristisch gesprochen ist der "Fall" Oury Jalloh somit noch immer nicht abgeschlossen. Die bisherigen Ermittlungen und gerichtlichen Nachbereitungen nähren allerdings den Verdacht, daß ein an jenem Tag vor nun bereits fünfeinhalb Jahren möglicherweise begangenes Gewaltverbrechen unter keinen Umständen vor Gericht verhandelt und gegebenenfalls per Urteil festgestellt werden könnte, weil diese Option von allen beteiligten Instanzen - der Polizei sowie den zuständigen Staatsanwaltschaften und Gerichten - von vornherein ausgeklammert wird.

Vor diesem Hintergrund ist jeder Versuch zu begrüßen, das in diesem Fall fortschreitende Vergessen, das sich allein schon durch die vielen bisher vergangenen Jahre über einen Feuertod, bei dem es sich möglicherweise um einen durch Polizei und Justiz vertuschten Mord gehandelt haben könnte, zu legen droht, auf publizistischem Wege zu durchbrechen. Mit der Broschüre "Der Mord in Dessau im Schoß der Polizei - mit gerichtlichen Nachspielen" legte das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. im Juni 2010 ein in dieser Hinsicht erhellendes und empfehlenswertes Werk vor. Verfaßt von Wolf-Dieter Narr, der im Namen des Grundrechtekomitees der Urteilsverkündung in dem Magdeburger Prozeß beigewohnt hat, und Dirk Vogelskamp, wird in diesem Band der Schwerpunkt der Berichterstattung und Analyse auf die gerichtlichen Nachspiele gelegt. Für Leser, die bis dato noch nicht wußten, was mit dem jungen Mann am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle geschah, stellt die gewählte Art der Präsentation, stark an der Analyse des in dem Dessauer Landgerichtsverfahrens ergangenen schriftlichen Urteils orientiert, allerdings einen nicht unbedingt leichten Einstieg dar.

Oury Jalloh bleibt als der Mensch, der er gewesen ist, als Bruder, Freund und Sohn ebenso schemenhaft und ungreifbar wie als der in Deutschland schutzsuchende, aber als Asylbewerber abgelehnte Bürgerkriegsflüchtling. In der der Frage, warum Oury Jalloh am 7. Januar 2005 "polizeiverwahrt verbrannte", gewidmeten Broschüre gehen dessen letzte Lebensstunden wie aus Polizeiberichten und Gerichtsprotokollen verfaßt hervor, was nicht verwunderlich sein kann, da es für diesen Zeitraum, in dem sich der junge Afrikaner vollständig in der Gewalt der Dessauer Polizei befand und mit keinem Menschen außerhalb auch nur in Kontakt treten konnte, keine anderen Quellen gibt. Nicht unbedingt nachzuvollziehen ist jedoch der an manchen Stellen flapsige, um nicht zu sagen zynisch anmutende Tonfall, mit dem der qualvolle Feuertod Oury Jallohs umschrieben wird:

Die Polizei war im Verfahren omnipräsent. Ihrethalben kam Oury Jalloh zu Tode, wie immer der Ablauf im einzelnen 2007/08 vom Dessauer Landgericht rekonstruiert worden ist oder vom Schwurgericht zu Magdeburg 2010 (oder 2011?) nachgestellt werden wird. In allen einzelnen Schritten von der Inhaftnahme bis zu seinem weggeflammten letzten Atemzug.
(S. 7)

Dabei ist den Autoren auf jeden Fall zugute zu halten, daß sie einen kritischen und die vorherrschenden Bagatellisierungen in Frage stellenden Standpunkt einnehmen nicht nur in Hinsicht auf den Tod Oury Jallohs, den sie als einen "strukturellen Mord" der Dessauer Polizei verstanden wissen wollen, sondern in einem grundsätzlichen Verständnis auch angesichts der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, denen insbesondere dunkelhäutige Menschen auch durch deutsche Staatsbeamte ausgesetzt sind. Die Verfasser und mit ihnen das Komitee für Grundrechte und Demokratie subsumieren den Tod Oury Jallohs unter das Stichwort "Rassismus", was vordergründig zwar plausibel und doch nicht unproblematisch ist:

Ist es Zufall, dass das Matratzenfeuer in Zelle 5 einen jungen Mann aus Sierra Leone hingerafft hat? Selbst wenn diese Frage mit "Ja" beantwortet werden könnte, bliebe das Geschehen am 7. Januar 2005 - und bleiben vorhergehende Polizei- und Gerichtserlebnisse Oury Jallohs symptomatisch für das lockere Gewaltspiel der Polizei mit ihren bürgerlichen 'Objekten'. Dass es Oury Jalloh getroffen hat, ist indes kein Zufall. In polizeilichem Gewahrsam verbrennen nicht täglich Leute. In der Bundesrepublik ist es jedoch üblich, die restriktiven Rechte von Ausländern, die vergeblich Asyl gesucht haben, und solchen, die schwarz sind, besonders bürokratisch harsch zu verwirklichen.
(S. 12)

Der Rassismus wird in diesem Werk zu einer Letztbegründung, die eine, möglicherweise von den Autoren ungewollte entlastende Wirkung auf die Dessauer Polizei im einzelnen wie im allgemeinen entfalten könnte, weil der Feuertod Jallohs nicht an erster Stelle unter den Gesichtspunkt gestellt wird, daß ein Mensch im Gewahrsam der Polizei verbrannte. Die analytische Priorität wird bei aller Kritik am Polizei- und Justizapparat darauf gelegt, daß an diesem Tag ein dunkelhäutiger Mensch, der sich in der Gewalt deutscher, womöglich rassistisch denkender Polizisten befand, ums Leben kam. Daraus leitet sich keineswegs eine Entschuldigung der Polizei ab, die - ganz im Gegenteil - von den Autoren in ihrer Gesamtheit schuldig, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne, gesprochen wird. Unterm Strich gesehen stellt demnach jedoch der "Rassismus" das größte, in Angriff zu nehmende Problem dar. In einer "verkürzten abschließenden Reflexion" heißt es denn auch zum Abschluß des Bandes:

Eitel, über das, was in der Geschworenenkammer zu Magdeburg und durch sie geschehen wird, zu spekulieren. Uns und anderen bleibt nur, genau zu beobachten. Uns ist vor allem aufgetragen, unsere eigenen Aktivitäten im unablässigen Mehrebenenkampf gegen Ausländerfeindlichkeit und ihre dauernd verletzenden, nicht selten tödlichen Folgen fortzusetzen.
(S. 70)

Der menschenrechtliche bzw. antirassistische Standpunkt der Autoren hat deren Analyse - wie könnte es auch anders sein? - durchaus beeinflußt. Es ist ihr Verdienst, die dem "strukturellen Mord", wie sie es nennen, vorausgegangenen Mißachtungen und Verletzungen der Grundrechte Oury Jallohs akribisch aufgelistet und somit ein Schlaglicht auch auf den bundesweit anzutreffenden (Polizei-) Alltag geworfen zu haben. So werfen sie Fragen auf, die das Dessauer Landgericht in dem um den Tod Jallohs geführten Verfahren zu stellen für überflüssig erachtete:

Beispielsweise seine um 11.00 Uhr und um 11.45 Uhr mutmaßlich längst wieder erreichte Zurechnungsfähigkeit. Ober wenn nicht, wie und warum konnte ärztlich seine Tauglichkeit für eine entmündigende Fixierung festgestellt werden? Zu beiden Zeiten wurde Oury Jalloh zum letzten Mal lebend "kontrolliert" und als durchaus sprachfähig gefunden. Sie hätte seine sofortige Entlassung geboten, oder, dringend, die Wiederherstellung seiner Fähigkeit, sich zu rühren und mit Polizeibeamten in Kontakt zu treten. Immerhin hatte Dr. Blodau ihn um 9.15 Uhr uneingeschränkt für "gewahrsamstauglich" erklärt, ihn jedoch zum "Schutz" vor seinen bewussten Handlungen zu "fixieren" geraten. Wer sollte hier vor wem geschützt werden?
(S. 22)

Immer und immer wieder, das geht aus der Schilderung unmißverständlich hervor, verlangte Jalloh von den ihn "kontrollierenden" Beamten, losgebunden zu werden. Doch dies geschah nicht. Da die Möglichkeit, daß der Tod des Asylbewerbers absichtlich herbeigeführt worden sein könnte, von der Dessauer Polizei noch am selben Tag ausgeschlossen worden war und alle weiteren Ermittlungen und gerichtlichen Verhandlungen dieser Vorgabe entsprechend durchgeführt wurden, blieb die Frage, ob die "Vier-Punkt-Fixierung" Jallohs erfolgt sein könnte, um ihn in einem wehrlosen Zustand zu belassen, bislang unberücksichtigt.

In diesem Zusammenhang könnte von Interesse sein, daß die Polizeibeamten beim dritten und vierten Kontrollgang, wie aus dem schriftlichen Urteil hervorgeht, "auf dem Zellenfußboden" "eine kleine Flüssigkeitsansammlung", die unter der Matratze hervorgelaufen sei, festgestellt hätten, daß es aber in der Zelle "nicht nach Urin" (S. 23/24) gerochen hätte. Nach Angaben der Reinigungsfrau war es zuvor in der Zelle, wie sie vor Gericht bestätigte, blitzsauber gewesen. Die Frage, um was für eine Flüssigkeit es sich gehandelt haben könnte, wurde vom Landgericht Dessau nicht weiter verfolgt, was in der Broschüre zwar thematisiert, jedoch nicht ausgeführt wurde zu der eigentlich naheliegenden Frage, ob es sich dabei um einen flüssigen und relativ geruchsneutralen Brandbeschleuniger gehandelt haben könnte.

In ihren Plädoyers haben Vertreter der Nebenklage das Thema "Brandbeschleuniger" in dem Magdeburger Verfahren sehr wohl aufgegriffen. So machte Rechtsanwalt Felix Isensee, der den Halbbruder Oury Jallohs, Diallo, vertritt, darauf aufmerksam, daß bei den Tatortermittlungen kein Brandsachverständiger hinzugezogen und kein Gas-Chromatograph eingesetzt worden war, um dieser Frage nachzugehen. Ein womöglich folgenschweres Versäumnis, denn da Brandbeschleuniger bzw. deren Reststoffe sehr flüchtig seien, hätte später niemand mehr, so Isensee, "Brandbeschleuniger feststellen können, wenn es denn welchen gegeben hätte" [1]. Rechtsanwältin Regina Götz, sie vertritt die Mutter des Getöteten, thematisierte ebenfalls das Vorgehen der Polizei bei der ersten Tatortbegehung, die, dokumentiert durch Videoaufzeichnungen, bereits von der These bestimmt war, Jalloh habe sich selbst angezündet. Der Brandschutt wurde, so Götz, eingepackt und erst vier Tage später untersucht, was hinsichtlich etwaiger - flüchtiger - Brandbeschleuniger wenig ergiebig gewesen sei.

Doch nicht nur in diesem Punkt steht die Ermittlungstätigkeit der Polizei unter dem Verdacht, nicht "in alle Richtungen offen" geführt worden zu sein. Wie unter anderem auch der vom Grundrechtekomitee herausgegebenen Broschüre zu entnehmen ist, hat nicht nur die ermittelnde Polizei, sondern auch das Landgericht Magdeburg die bei einer zweiten Obduktion Jallohs festgestellten Verletzungen ignoriert, woran die Autoren wichtige Fragen und aufschlußreiche Schlußfolgerungen knüpften:

Leichtfertig hat das Gericht, die Ergebnisse der zweiten Obduktion auf sich beruhen lassen, als seien sie von vornherein unerheblich. Bei Oury Jalloh wurde ein Nasenbeinbruch und eine Trommelfellverletzung diagnostiziert. Wäre es nicht geboten gewesen, insbesondere den Gerichtsmediziner und später die medizinischen Experten zu befragen? Woher stammten, woraus resultierten diese wann und durch wen oder was erfolgten Verletzungen? Auf diese Weise untergräbt es sein eigenes Urteil infolge Beweismangels. Es hat es seinerseits fahrlässig unterlassen, Auffälligkeiten und Inkongruenzen so weit wie möglich auszuloten. Es hat sich nicht nur der polizeilichen Lüge, es hat sich seinem eigenen Vorurteil und seiner inquisitorischen Faulheit ergeben.
(S. 36)

Ob das Vorgehen des Gericht abschließend mit Faulheit und Leichtfertigkeit erklärt werden kann, wie hier nahegelegt, sei dahingestellt. Wichtig ist an dieser Stelle zunächst einmal die Feststellung, daß das Gericht seine spätere vermeintliche Zwangslage, angesichts des von ihm - begleitet von verbalen Protesten gegen das Aussageverhalten der Polizeibeamten - konstatierten "Beweismangels" beide Angeklagten freisprechen zu müssen, selbst mit herbeigeführt hat. In der Broschüre wird desweiteren, gut begründet und plausibel, nachgezeichnet, daß das Magdeburger Landgericht ungeachtet seiner vom Vorsitzenden Richter Steinhof am Tag der Urteilsverkündung geäußerten Polizei- und Ermittlungsschelte die zuerst von der Polizei selbst aufgestellte, dann von den weiteren beteiligten juristischen Instanzen unhinterfragt übernommene Selbstentzündungsthese kraft seiner Urteilsgewalt zu einer gerichtlichen Feststellung erhoben hat.

Wenngleich der Bundesgerichtshof im Falle des Dienstgruppenleiters S. den Freispruch aufgehoben hat, steht kaum zu erwarten, daß bei der Neuverhandlung vor dem Magdeburger Landgericht entgegen der bisherigen, von Polizei und den Gerichten weder verletzten noch tangierten Linie, die Selbsttötungsthese zur alleinigen Wahrheit zu erklären, tatsächlich ergebnisoffen verhandelt werden könnte. Diese Auffassung teilen auch die Verfasser, wie der folgenden, in ihren Formulierungen leider nicht sehr verständlich verfaßten Textpassage zu entnehmen ist:

Zum dritten ist es die schon in der ersten Anklageschrift und dem ersten Prozess wiederholte Krux deutscher Strafverfahren, dass sie Anklage und mögliche "Schuld" in aller Regel durchgehend methodisch und material individualisierend zuspitzen. Nur potentielle Täterinnen und Täter machen Straf(fälligkeits)geschichte. Das Wahrheitskonstrukt, das die Strafprozesse und den Strafvollzug trägt. Sie werden in ihrer begründeten Legitimität und in ihrer Wirkungslegitimation nicht mehr in Frage gestellt. Diese Kunst individualisierender Zurechnung und Zuspitzung wird in der vom BGH vorgegebenen Fortsetzung des Verfahrens fortgetrieben werden. Dadurch werden aber der Nährboden (breeding ground) des Tods von Oury Jalloh und seine kollektive polizeiliche und politische Produktion vollends "strikt rechtsstaatlich" ausgespart. "Rechtsstaatlich" geht es ums Recht. Aber dieses Recht, durch das "Gewalten" teilende und zusammenführende System entstanden, hat in der Regel die Funktion, die bestehenden Institutionen zu schützen. Mit an erster Stelle gilt der Schutzauftrag der Polizei und allgemein geteilten Vorurteilen. Im gegebenen Fall sind die Vorurteile Gesetz geworden, gerichtet gegen "Ausländer", darunter Asyl Suchende, und typischer Weise, als "illegal" bezeichnete und entrechtete Personen.
(S. 9)

Zunächst einmal ist es zu begrüßen, daß bei dem kritischen Ansatz, den Jalloh-Prozeß zu analysieren und zu bewerten, mit grundsätzlichen Anmerkungen und Argumentationen zur Strafjustiz deren Funktion im repressiven Apparat der Bundesrepublik nicht ausgespart wird. Die These allerdings, daß durch die "individualisierende Zurechnung und Zuspitzung" der "Nährboden" des Todes von Jalloh, rechtsstaatlich korrekt, ausgespart bleiben würde, könnte sich als durchaus zweischneidiges Schwert erweisen. Die hochbrisante, wenn auch in den Medien weitgehend ignorierte Frage, ob gegen Oury Jalloh seitens bislang unidentifizierter Täter, bei denen es sich angesichts der Umstände um Polizeibeamte gehandelt haben könnte, ein Kapitalverbrechen verübt wurde, was in den bisherigen Gerichtsverfahren ungeachtet erheblicher Ungereimtheiten nicht einmal als theoretische Option ernstgenommen wurde, wird entkräftet, wenn sie mit dem nicht minder ernsten und brisanten Thema der allgemeinen Ausländerfeindlichkeit und der staatlicherseits betriebenen Flüchtlingsabwehr auf die hier angedeutete Weise verknüpft wird.

An manchen Stellen des Broschürentextes könnte sogar der Eindruck entstehen, als wollten die Verfasser und Herausgeber ihrer eigenen Frage bzw. schon im Titel ("Der Mord in Dessau...") verdeutlichten Bewertung des Feuertodes Oury Jallohs zugleich selbst die Spitze nehmen. An einer Stelle beispielsweise wird dem beteiligten Polizeiarzt der Vorwurf gemacht, daß er als Arzt dagegen hätte votieren müssen, "Oury Jalloh in eine Zelle zu legen" (S. 46). Auch dessen Fesselung an Händen und Füßen wurde aus menschenrechtlicher wie medizinischer Sicht kritisiert, wozu, unter Bezugnahme auf die späteren Ausführungen eines Rechtsmediziners, eine Argumentation erfolgte, die unterm Strich gesehen darauf hinausläuft, der amtlichen Selbstentzündungsthese den Boden einer Glaubwürdigkeit zu bereiten, die diese für sich genommen kaum hätte:

Menschen, an Händen und Füßen gebunden, werden nicht ruhiger. Ihre Unruhe nimmt zu. Sie könnten sich also, da eine minimale Beweglichkeit in den Halterungen war, ungleich gefährlicher selbst verletzen. Die Fixierung und Isolierung Oury Jallohs, um ihn angeblich vor sich selbst zu schützen, war als negative sich selbst erfüllende Prophetie angelegt.
(S. 46)

Würde man der hier angelegten Logik zu folgen bereit sein, wäre wohl anzunehmen, daß Jalloh am Leben geblieben wäre, hätte die Fixierung ihm den letzten, ihm angeblich verbliebenen Bewegungsraum nicht mehr gelassen, denn dann hätte sie ihn wirksamer vor sich selbst schützen können. Eine solche Deutung lag gewiß nicht in der Absicht der Verfasser, wohl aber die Lesart, daß Jalloh sich, auf welche Weise auch immer, selbst angezündet hat in Reaktion auf die vielfachen Demütigungen und Menschenrechtsverletzungen, denen er, wie in der Broschüre akribisch aufgelistet, ausgesetzt war. Diese Interpretation wird an anderer Stelle, an der von Fahrlässigkeiten die Rede ist, die zu einem tödliche Resultate erzeugenden System führen würden, bestätigt:

Aus der Fülle der Fahrlässigkeiten, so dieser Ausdruck angemessen ist, erwächst ein institutionalisiertes System, das immer wieder tödliche Resultate erzeugen kann.
(S. 51)

Mit anderen Worten: In der Polizei Dessaus hat am 7. Januar 2005 nach Auffassung der Autoren niemand gegenüber Oury Jalloh die Absicht gehabt, ihn zu Tode zu bringen. Daß der junge Bürgerkriegsflüchtling dennoch ums Leben kam, auf qualvollste Weise, wäre demnach einer Verkettung von Fahrlässigkeiten oder vielleicht einer Verdichtung rassistischer Tendenzen zuzuschreiben gewesen. Für die Angehörigen, Freunde und Unterstützer des Verstorbenen ist auch dies sicherlich ein Schlag ins Gesicht. Der Vater Oury Jallohs verlangt in der Überzeugung, sein Sohn sei ermordet worden, wie dessen Vertreter, Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff, in dem Magdeburger Verfahren deutlich gemacht hatte, nach Aufklärung. Er will die Wahrheit wissen und hat es während des Verfahrens abgelehnt, einer Einstellung gegen Zahlung einer Geldstrafe zuzustimmen.

Von Klinggräff berichtete vor Gericht von einem anonymen Schreiben vermutlich eines Dessauer Polizisten, in dem von dem hohen Druck innerhalb der Polizei in Hinsicht auf den Jalloh-Prozeß ebenso die Rede ist wie von dem Gerücht, daß die Stendaler Ermittler am Tatort gar kein Feuerzeug (mit dem Jalloh angeblich die unter ihm liegende Matratze bzw. deren brennbare Füllung angezündet haben soll) gefunden hätten. Jallohs Bruder brachte den Standpunkt der Angehörigen mit den Worten: "Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, sondern es geht um die Frage: Wer hat diesen Menschen umgebracht?" auf den Punkt. Doch so einfach und unmißverständlich stellt sich die Lage aus Sicht der menschenrechtsorientierten Verfasser offensichtlich nicht dar. Sie bemühen, um das scheinbar Unfaßbare eines solch gewaltsamen Todes erklärbar zu machen, ein Konglomerat mißlicher Umstände und nicht zuletzt auch "das Böse" schlechthin:

In diesem Polizeirevier schien jede und jeder, kaum koordiniert, wenngleich mit zuständigen Titeln versehen, ihrer bzw. seiner Arbeit nachzugehen. Eine Hand wusste kaum, was die andere tat. Die Hände wuschen einander nur hinterher in Unschuld. Darum wirkt das Polizeirevier zur Zeit der entscheidenden Minuten dem entscheidenden 'Ergebnis' und den Berichten zufolge, wie ein aufgestörter, aus der Ordnung gebrachter Ameisenhaufen. Und das soll eine Instanz sein, die gerade in Zeiten der Aufregung, der Panik professionell ruhig zu handeln wüsste?! Viel näher liegt eine bürokratische Logik der organisierten, arbeitsteilig zugewiesenen Unverantwortlichkeit. Sie erinnert an Hannah Arendts Beobachtung von der "Banalität des Bösen". Das "Böse" in äußerstenfalls Menschen mordender Wirkung ereignet sich nicht, weil eine "böse" Essenz in einem Menschen oder einer Menschengruppe, ontologisch gegeben, explodiert. "Es" kann zustande kommen, weil keine sozial und damit auch personal verantwortlichen Zusammenhänge und Leistungen gegeben sind und wirksam werden. Unübersichtlichkeit, verschlungene Komplexität, Arbeitsteilung ohne verlässlich überschneidende Konsequenzen, schon innerorganisatorisch mangelhafte Transparenz, unzureichende, miteinander gekoppelte, also sozial gewährleistete Zuständigkeiten u.ä.m. stellen bestimmende Faktoren dar. Hinzu kommen abstrakt allgemeine Organisationsziele, die sich nicht zuerst und zuletzt an den einzelnen Menschen messen lassen müssen, um deren willen sich eine Organisation legitimiert. Aus dem zuweilen als unfassbar und "dämonisch" stilisierten, sogar in Personen als ihre "Natur" gefassten "Es", dem Bösen, wird in qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Formen, je nach Kontext, ein Versagen von Menschen und Institutionen, sich durchgehend zurechenbar zu organisieren. Umso offener klafft die Lücke, die polizeiliche Leitung Dessaus dazu nicht hartnäckig befragt zu haben. Ebenso bleibt das Versäumnis von Anklage und Gerichtsverfahren, die innerorganisatorischen Strukturen und Prozeduren der Polizei ausführlich thematisiert zu haben.
(S. 30/31)

"Das Böse" bricht sich Bahn infolge einer mangelhaften polizeilichen Führung? Dieser Standpunkt ist unter Bürgerrechtsorganisationen und ihren Repräsentanten keineswegs ungewöhnlich. So erklärte auch der Bremer Rechtsanwalt und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner, gegenüber dem Spiegel, daß er zwar nicht, wie die Angehörigen und Freunde Jallohs, zu der Mordtheorie tendiere, daß aber seiner Meinung nach diesem Verdacht stärker als bisher nachgegangen werden müsse.

Die Autoren der nun vorgelegten Broschüre bringen das Kunststück fertig, von Mord zu sprechen und doch nicht Mord zu meinen. Mord ist im deutschen Rechts- und Alltagsverständnis die grausame oder heimtückische und aus niederen Motiven erfolgte Tötung eines Menschen. Eben dies ist nach Auffassung der Verfasser mit Oury Jalloh nicht geschehen. Gleichwohl sprechen sie, wohl um den nicht abreißenden Protesten die Spitze zu nehmen, von Mord, genauer gesagt von einem "strukturellen Mord", dem Oury Jalloh zum Opfer gefallen sei. Das liest sich dann in etwa so:

In Sachen 7. Januar 2005 und dem Polizeigeschick, das Oury Jalloh todbringend erlitten hat, ist der Ausdruck "Struktureller Mord" einzig angebracht. (...) Selbst wenn es möglich gewesen wäre, den Polizeibeamten S. und M. eine persönliche Schuld am Tod Oury Jallohs so nachzuweisen, dass beide für den Tod den Ausschlag gegeben hätten, wäre das, was am 7. Januar 2005 passierte und wie es passierte, wäre auch das Zeuginnen- und Zeugenverhalten anlässlich der diversen Vernehmungen, nahezu ohne Ausnahme Polizistinnen und Polizisten, damit nicht angemessen beurteilt. Sie waren alle mitverschuldende Faktoren.
(S. 56)

Hier argumentieren die Autoren ihrer eigenen, vorherigen Argumentation entgegen, gehörte es doch zu ihren Verdiensten, deutlich gemacht zu haben, daß die einer einzigen These, nämlich der der Selbstentzündung Jallohs, gewidmete Ermittlungsarbeit und gerichtliche Verhandlungspraxis das spätere Ergebnis des absoluten Beweismangels selbst (mit-)erzeugt hat. An dieser Stelle scheinen die Autoren dieses wichtige Ergebnis ihrer Urteilsanalyse vergessen zu haben. In juristischer Hinsicht ebnen sie einem Freispruch aller möglicherweise in den Reihen der Dessauer Polizei in Frage kommenden Verdächtigen den Weg. Der an Oury Jalloh in ihrem Begriffsverständnis begangene "strukturelle Mord" ist ihrer Meinung nach auf alles mögliche, nicht jedoch - gegebenenfalls - auf das Handeln eines oder mehrerer etwaiger, bislang nicht ermittelter Tatverdächtigen zurückzuführen. Ein solche Tat wäre demnach wohl ein Mord ohne Mörder gewesen:

Da der begangene Mord auf polizeiliche Organisations- und Verhaltensmuster zurückzuführen ist, auf Formen der Ausbildung, der Kontrolle, auf gesetzliche Vorschriften und Verwaltungsanordnungen, ja auf die Funktion des Gewaltmonopols insgesamt, das unzureichend demokratisch menschenrechtlich eingemeindet worden ist, da all dem so ist: müssten sich Regierung und Parlament, müssten sich demokratische Öffentlichkeit und ihre Akteure mit diesem Strukturellen Mord folgenreich befassen. Anders müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, an solchen Strukturen, die Mord gebären, mitgewirkt zu haben. Und weiterhin mitzuwirken.
(S. 57/58)

Strukturen, die "Mord gebären", können nach deutschem Strafrecht nicht verurteilt werden. Ergo: Freispruch bzw. eine vollständige juristische Entlastung für alle ohnehin des Mordes oder des Totschlags nicht angeklagten oder auch nur beschuldigten Polizeibeamten. Sollte es in dem noch ausstehenden Verfahren in Magdeburg noch einmal um den damaligen Dienstgruppenleiter S. bzw. die Frage gehen, ob sein mutmaßliches Verhalten eine durch Unterlassung begangene Straftat gewesen sein könnte, weil er viel zu spät auf den Feueralarm reagiert habe, stünde dies der möglichen Vertuschung eines etwaigen Kapitalverbrechens nicht im mindestens entgegen, da auch eine auf dieser Basis erfolgte Verurteilung die unmittelbar am Todestag seitens der Polizei aufgestellte Behauptung, das Brandopfer habe selbst Feuer gelegt, gerichtlich absichern würde.

Die vorliegende Broschüre kann allen Interessierten nur empfohlen werden, bietet sie doch Anlaß und Gelegenheit, sich über einen der schwersten Verdachtsfälle polizeilicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik Deutschland zu informieren und unter Berücksichtigung der hier angedeuteten Ungereimtheiten und Widersprüche weiterführende Fragen zu entwickeln.

[1] Prozessbeobachtergruppe: www.prozessouryjalloh.de, 59. Prozesstag, 8. Dezember 2008, http://ouryjalloh.wordpress.com/

30. Juni 2010


Wolf-Dieter Narr / Dirk Vogelskamp
Der Mord in Dessau im Schoß der Polizei - mit gerichtlichen
Nachspielen
Oder: Warum Oury Jalloh aus Sierra Leone am 7. Januar 2005
polizeiverwahrt verbrannte - Darstellung, Analyse, Konsequenzen
eines aufhaltsamen Strafverfahrens nach der 2. Etappe
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Broschüre, 74 Seiten
1. Auflage, Juni 2010
ISBN 978-3-88906-133-1