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REZENSION/530: P. Selek - Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt (SB)


Pinar Selek


Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt

Männliche Identitäten



In "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt" untersucht die 1971 in Istanbul geborene Soziologin Pinar Selek [1] die patriarchalische Herrschaft in der Türkei mit besonderem Blick auf den Militärdienst, der dort offenbar eine noch größere gesellschaftliche Rolle als die vergleichbare Institution in den anderen NATO-Mitgliedsstaaten spielt. Dies hängt nicht zuletzt mit der Entstehung der modernen Türkei aus den Ruinen des infolge des Ersten Weltkrieges zerbrochenen Vielvölkergebildes Osmanisches Reich und der Bedeutung des Militärs als wichtigste Säule des 1923 von General Mustafa Kemal Atatürk mitbegründeten Nationalstaates zusammen. Die Republik Türkei leistet sich bis heute - von den USA einmal abgesehen - innerhalb der NATO das, gemessen an der Zahl der Soldaten, größte Heer, hält zumindest aus Sicht der Europäischen Union den Norden Zyperns widerrechtlich besetzt und liefert sich seit Mitte der achtziger Jahre mit den kurdischen Rebellen im Südosten des eigenen Landes einen erbitterten Krieg, der rund 45.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Bis auf ganz wenige Ausnahmen müssen alle männlichen Bürger der Türkei den Militärdienst ableisten, wobei die Dauer von der gesellschaftlichen Stellung abhängt. Angehende Akademiker zum Beispiel können den Wehrdienst innerhalb von sechs Monaten hinter sich bringen, während Bauernjungen eineinhalb Jahre einkaserniert werden. So oder so, erst nach dem Dienst an der Waffe gilt man allgemein in der Türkei als "richtiger Mann" und als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, das in der Lage ist, seine Familie zu ernähren und zu verteidigen und - im Notfall - auch für das Vaterland zu sterben.

Das Buch Seleks fällt zunächst wenig spektakulär aus. Mit Hilfe zweier männlicher Befrager hat sie Interviews mit 58 türkischen Männern diversen Alters und unterschiedlicher ethnischer sowie sozioökonomischer Herkunft durchgeführt und sie über ihre Zeit beim Militär befragt. Die eindrücklichen persönlichen Schilderungen bilden daher den größten Teil des Textes. Der deutsche Leser dürfte in ihnen vieles entdecken, was ihn an ähnliche eigene Erfahrungen beim Militär, an der Schule, im Sportverein, in der Jugendclique et cetera erinnert, während die Leserin vielfache Bestätigung all ihrer Vorurteile über den rauhen, zum Teil scheinbar hirnlosen Umgang von Männern untereinander wiederfinden wird. Darüber hinaus erfährt man jede Menge über die türkische Gesellschaft und das für sie spezifische Männerbild, das zum Teil islamisch geprägt ist. Hierzu gehört zum Beispiel die besondere Bedeutung des Beschneidungsrituals, das bei türkischen Jungen erst bei Erreichen der Geschlechtsreife durchgeführt wird und das nicht nur symbolisch für das Verlassen des Schutzbereichs der Mutter und den ersten vorsichtigen Schritt hinein in die Welt des Vaters und der Männer steht.

In der Türkei hat "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt" Wellen geschlagen, und zwar deshalb, weil sich Selek damit an ein gesellschaftliches Tabu heranwagt. Sie beläßt es nicht dabei, die persönlichen Schilderungen wiederzugeben, sondern faßt diese thematisch zusammen und sucht sie nach Hinweisen auf diejenigen Mechanismen ab, über die Herrschaft in der Türkei ausgeübt wird. Basis dieser Herrschaft ist die willkürliche Gewalt, sei es in der nackten, physischen Form oder auch nur als offene oder versteckte Drohung. Der "richtige Mann" nimmt an dieser Gewalt teil, steckt sie, von oben kommend, stillschweigend, wenn auch widerwillig weg, was im Vergleich zu der angeblich von Emotionen geleiteten Frau als Beweis seiner "Vernunftbegabung" gilt, und gibt sie nach unten weiter.

Gerade dieser Vernunftbegriff war es, der Selek überhaupt veranlaßt hat, das vorliegende Buch zu schreiben. Wie sie im ersten Kapitel erzählt, haben sie im Januar 2007 die Fernsehbilder von der Festnahme Yasin Hayals, des mutmaßlichen Auftraggebers und Organisators des Mordes an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, mehr als erschreckt. Über die Medien hatte der Ultranationalist und verurteilte Bombenleger vor seinem Abtransport durch die Polizei denjenigen, die einen kritischen Umgang mit der Geschichte und den gesellschaftlichen Themen in der Türkei pflegen, folgende Botschaft entgegengebrüllt: "Pass bloß auf und sei ja vernünftig!" Selek, die sich schon länger mit unterdrückten Minderheiten in der Türkei befaßt, erinnert sich:

Ich zitterte. Ich fühlte mich an die Blicke der Menschen erinnert, die die Fenster der Transvestiten in der Ülkerstraße zerschlugen und alles um sich herum in Flammen hatten aufgehen lassen. Und an die Mienen der Fußballfans, die in Bursa geschrien hatten: "Tod den Transen!" Ich rief mir weitere Szenen ins Gedächtnis. Ich sah verzerrte Gesichter, die "Pass bloß auf und sei ja vernünftig!" schrien und ich sah all die anderen, uns Frauen so vertrauten Bilder.

Mich beschäftigte die Frage, was ich aus all dem machen sollte. Schließlich verspürte ich einen ausschlaggebenden Wunsch: Ich wollte die Geisteshaltung hinterfragen, "die aus einem Kind einen Mörder machte." Ich wollte diesen "Mörder", diesen "Mann", diesen "Jungen" durch das Prisma des Feminismus betrachten.

Dieser Wunsch eröffnete mir ein weiteres Feld. Yasin, Hasan, Kemal ... . Noch mehr als der Grund, aus dem sie zu Mördern wurden, interessierte mich, wie es dazu kam, dass sie "Pass bloß auf und sei ja vernünftig!" schrien, wie sie zu Männern geworden waren, warum und wofür sie sich so aufspielten.
(S. 11)

Das Ergebnis der Selekschen Recherche ist ernüchternd und deprimierend zugleich. Der Mann in der Türkei - aber sicherlich nicht nur dort - unterliegt einem überzogenen Männlichkeitsbild, das von ihm ununterbrochen Potenz fordert und ihn zugleich dauernd mit der eigenen Impotenz konfrontiert. Von Selbständigkeit kann nicht die Rede sein. Statt dessen wird man "geformt" und hat seine gesellschaftliche Funktion quasi wie im Ameisenstaat zu erfüllen. Wer dagegen verstößt, die Regeln bricht oder sich nicht an die Normen anpaßt, hat den Boden der "Vernunft" verlassen und gehört bestraft - entweder durch soziale Ächtung oder durch das Einschreiten staatlicher Stellen oder selbsternannter Moralhüter wie des bereits erwähnten Hayals. Ähnliche Wächter des nationalen Volksempfindens laufen auch in Deutschland in rechtsgerichteten Kreisen herum. Für Seleks These von der dem traditionellen Männlichkeitsbild zugrundliegenden Feigheit spricht die Tatsache, daß solche rechten Schlägertypen, wenn sie denn gewalttätig werden, dies ausschließlich tun, wenn sie in der deutlichen Überzahl sind, so zum Beispiel wenn sie zu zehnt auf einen einsamen Afrikaner an der Bushaltestelle herumtrampeln. Oder hat man jemals von einem dieser "arischen Helden" gehört, der etwa einen Anti-Imperialisten zu einem Kampf "Mann" gegen "Mann" herausgefordert hat?

Daß Selek damals so stark auf die in der Türkei berühmten Fersehbilder von der Festnahme Hayals reagierte, erklärt sich aus ihrer exponierten Stellung als Akademikerin und Autorin, die sich nicht scheut, schwierige gesellschaftliche Themen ihres Heimatlands anzufassen. Ihre Beschäftigung mit der Frage, inwieweit die Frauen bei der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) das Ziel der Emanzipation verwirklicht hätten, führte dazu, daß sie 1998 vom türkischen Staat als mutmaßliche "Terroristin" angeklagt wurde. In jenem Jahr hat man sie wegen eines angeblichen PKK-Bombenanschlags in Istanbul, der fünf Menschen das Leben kostete, festgenommen. Es folgten mehr als zwei Jahre im Gefängnis, in welcher Zeit Selek auch schwer gefoltert wurde. Obwohl inzwischen feststeht, daß die Ursache der damaligen Explosion eine undichte Gasflasche und keine Bombe war, wird Selek in der Türkei weiterhin wegen der vermeintlichen Nähe zum "Terrorismus" strafrechtlich verfolgt. Ihr droht eine langjährige Freiheitsstrafe. Vermutlich deshalb hält sie sich seit einiger Zeit als Stipendiatin des P.E.N. Deutschland in Berlin auf.

Vor diesem Hintergrund kann man Seleks jüngstes Buch als zutiefst humanistischen Ansatz verstehen, die Mechanismen der Herrschaft in der Türkei freizulegen, um darüber einen öffentlichen Diskurs anzustoßen, der nicht auf Mord und Totschlag hinausläuft. Zwar mögen die türkischen Generäle und ihre Handlanger in der zivilen Staatsverwaltung aus eigenen opportunistischen Gründen diesen Ansatz nicht zu würdigen gewußt haben, dafür aber kann man Selek nur wünschen, daß ihr sehr empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken weniger über die Geschlechterrollen, als viel mehr über die Frage der zwischenmenschlichen Gewalt an sich anregt, in Deutschland viele Leser findet.


9. Juni 2010



Fußnote:

1. Siehe das Interview des Schattenblicks mit Pinar Selek unter
Schattenblick.de -> INFOPOOL -> REDAKTION -> REPORT:

WIENER GESPRÄCHE/09: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 9 (SB)


Pinar Selek
Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt
(Übersetzt aus dem Türkischen "Sürüne Sürüne Erkek Olmak")
Orlando Frauenverlag, Berlin, 2010
237 Seiten
ISBN: 978-3-936937-73-2
Preis: 18,00 Euro