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REZENSION/523: Werner Rügemer (Hrsg.) - ArbeitsUnrecht (SB)


Werner Rügemer (Hrsg.)


ArbeitsUnrecht

Anklagen und Alternativen



Mit dem Rettungspaket für den Euro haben die europäischen Regierungschefs und Finanzminister die umfassendste Offensive gegen die Lebensmöglichkeiten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnet. Nachdem in Brüssel zunächst das 110-Milliarden-Euro-Paket für Griechenland auf den Weg gebracht worden war, wuchs der Druck auf die europäischen Regierungen, auch für alle anderen hochdefizitären Euro-Länder eine Schuldengarantie zu übernehmen. Daraufhin stellten die Mitglieder der Währungsunion, die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds einen Fonds von insgesamt 750 Milliarden Euro zur Verfügung, aus dem Euro-Länder mit Zahlungsschwierigkeiten ihre Schulden zinsgünstig refinanzieren können. Zudem kauft die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen hochverschuldeter Länder auf, um den Anstieg der Zinsen zu bremsen.

Das Geldgeschenk an die internationalen Banken und Investmentfonds befreit die Spekulanten, die mit Wetten auf griechische Staatschulden und den Euro riesige Summen verdient haben, zu Lasten der öffentlichen Haushalte von allen Risiken. Im Zuge dieser Krisenregulation werden die Kosten der finanzkapitalistischen Kompensation systemischer Verwertungsgrenzen auf die Masse der Bürger abgewälzt, deren Ausbeutung und Unterdrückung in der Nachkriegsgeschichte nie gekannte Formen annehmen wird. Die Gewißheit, daß die europäischen Regierungen ihrer eigenen Bevölkerung den Krieg erklärt haben, wurde an den Börsen mit einem regelrechten Kursfeuerwerk gefeiert. Dem Generalangriff des Finanzkapitals auf die Staatshaushalte halten die Regierungen allenfalls symbolische Maßnahmen entgegen, während sie mit Austeritätszwängen ihre Bürger drangsalieren, die in Form von Sozialabbau, schrumpfenden Erwerbseinkommen und Arbeitslosigkeit die Zeche bezahlen.

Dabei stellt das Euro-Rettungspaket nur den Auftakt zu einem massiven, europaweiten Sparprogramm dar, das den europäischen Sozialstaat endgültig zu Grabe trägt. Was in Griechenland mit einer Senkung der Löhne um 30 Prozent, dem Abbau von Renten und Sozialleistungen und Massenentlassungen im öffentlichen Dienst begonnen hat, wird nun zum Vorbild für ganz Europa. In Spanien hat der sozialdemokratische Regierungschef Zapatero unmittelbar nach Verabschiedung des EU-Finanzpakets Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst angekündigt. In Portugal übernimmt sein sozialistischer Amtskollege Sócrates dieselbe Aufgabe. Weitere Länder werden folgen, bis es eher früher als später den Bundesbürgern, die sich von der Medienhetze über die "Faulheit der Griechen" bereitwillig aufs Glatteis führen ließen, ebenfalls an den Kragen geht.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenbewältigung durch Verelendung und Entwürdigung der wenig bemittelten Bevölkerungsmehrheit gewinnt der von Werner Rügemer herausgegebene Band "ArbeitsUnrecht" an zusätzlicher Aktualität. Die Sammlung der Referate für die gleichnamige Konferenz am 14. März 2009 in Köln präsentiert eine ebenso umfassende wie bestürzende Zwischenbilanz sozialer Grausamkeiten, mit denen Erwerbstätige, trotz Arbeit verarmte Zwischenschichten und Arbeitslose ausgebeutet, erniedrigt und ausgegrenzt werden. Da die enthaltenen Beiträge von der Diskussion rechtlicher Voraussetzungen über staatliche oder unternehmerische Strategien bis hin zu aufschlußreichen Fallbeispielen aus der Praxis reichen, gewinnt die Problemlage in zahlreichen Aspekten Kontur. Dabei wird die Gegenseite weder zu einem nur noch systemisch benennbaren Abstraktum verschleiert noch in Gestalt vorgeblicher Auswüchse oder Webfehler verharmlost. Dank einer Zusammenschau komplexer Prozeßverläufe oder verzwickter juristischer Konstellationen auf der einen und der Benennung konkreter Akteure wie auch perfider Strategien der Spaltung und Übervorteilung auf der anderen Seite setzt die Textsammlung der Konferenz die Frage nach Handlungskonsequenzen auf die Tagesordnung.

In seiner Einleitung kreist Rügemer das Thema dahingehend ein, daß er der Krise der großen Finanzakteure die existentielle Dauerkrise der Arbeitslosen, Hartz-IV-Drangsalierten, Niedrig- und Tagelöhner, der Mehrheit der (noch) Beschäftigten, der Hungernden in aller Welt, und dies in armen wie reichen Staaten, gegenüberstellt. Wie alle Autoren dieses Buches ergreift auch er Partei für die Opfer einer "kriminellen Ökonomie", die der menschlichen Arbeit keinen Wert mehr zubilligt und ihren Preis tendentiell gegen Null zu drücken versucht. Die Beraubung der Arbeitskraft in Tateinheit mit staatlich organisierter Nötigung durch Lohnsenkung, Abbau von Arbeitsrechten und Arbeit zu jedem Preis stuft die Arbeitenden rechtlich und finanziell herab, ohne daß es eine Grenze nach unten gäbe. Die logische Folge ist eine Arbeit, die die Arbeitenden nicht ernähren kann, krank macht, körperlich, kulturell und seelisch zerstört. Rügemer spricht sogar von einer "Vernichtung durch Arbeit".

Wolfgang Däubler charakterisiert das Arbeitsrecht in einer globalisierten Wirtschaft als einen Prozeß entufernder Privatisierung und Deregulierung, in dem sozialpolitische Korrektive entwertet und normfreie Räume etabliert werden. Als wichtigstes Beispiel nennt er den sogenannten informellen Sektor, der in Entwicklungsländern 85 Prozent aller Beschäftigten umfaßt. Dort haben internationale Abkommen oder soziale Rechte de facto keine Gültigkeit, wobei die Schaffung weltweiter Regeln, über deren Einhaltung die einzelnen Staaten wachen, bislang nur in wenigen Sektoren realisiert und eine Änderung dieses Zustands in absehbarer Zukunft nicht zu erkennen ist. Die Verlagerung von Arbeitsprozessen ins Ausland schwebt wie ein Damoklesschwert über allen Arbeitskämpfen und schwächt die Verhandlungsposition von Betriebsräten und Gewerkschaften fundamental. Dieselbe Zwangslage herrscht nicht nur in Industrieländern, sondern trifft auch für Schwellenländer wie Brasilien oder Mexiko zu, die von Abwanderung der Unternehmen beispielsweise nach China oder Thailand bedroht sind. Mithin greift die Tendenz, den Preis menschlicher Arbeit gegen Null zu drücken, im Zuge der Globalisierung um so wirksamer und existenzvernichtender zu Lasten jener, die nichts aufzubieten haben als ihre Arbeitskraft.

Zugleich hat die Öffnung der Märkte zur Folge, daß die enormen Lohnunterschiede in Binnenräumen wie der EU die Konkurrenz unter den Beschäftigten massiv verschärfen und somit die führenden Nationen stärken, indem sie die Verwertungsbedingungen der dort ansässigen Unternehmen steigern. Hinzu kommt ein riesiges Heer sogenannter illegaler Migranten, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf dem niedrigsten Niveau anzubieten, sofern sie nicht durch Abschottung und Verfolgung in die absolute Verelendung zurückgeworfen werden. In diesem Prozeß siegt Ökonomie über Sozialpolitik, wobei angesichts der weltweiten Systemkrise des Kapitalismus die Fiktion marktwirtschaftlicher Selbstheilungskräfte selbst von bürgerlichen Apologeten kaum noch in den Mund genommen wird. Jetzt weist man dem Staat die Aufgabe zu, das Wirtschaftssystem wieder zum Funktionieren zu bringen, als habe man es mit zwei unabhängigen gesellschaftlichen Akteuren zu tun, deren ersterer kraft des nunmehr proklamierten Primats der Politik die Ökonomie zur Räson bringen könne.

Führt man sich jedoch die Verheerungen im Gefolge der bundesdeutschen Hartz-Gesetze vor Augen, wie sie von Sozialdemokratie und Grünen zur exzessiven Verwertbarkeit der Arbeitskraft geschmiedet wurden, kann von einem Vertrauen in die Fürsorge des Staates zugunsten aller Bürger weniger denn je die Rede sein. Wenn Thomas Münch die ARGE als Exklusionsmaschine ausweist, die einen Zustand zunehmender Prekarität befördert, Irina Vellay die vertragslose Arbeit (Workfare) als staatliche Regulierung massenhafter Armut analysiert oder Rolf Geffken die Prekarisierung der Normalarbeit durch Zielvereinbarungen aufs Korn nimmt, so stößt der Leser allenthalben auf eine forcierte Zerschlagung kollektiver Strukturen und Individualisierung des Scheiterns an zunehmend unerfüllbaren Anforderungen.

Erweist sich der Staat als Sachwalter kapitalistischer Verwertung, so lassen sich im Komplex einflußreicher Kreise richtungsweisende Kräfte identifizieren. Michael Schubert und Thomas Barth untersuchen den Medienkonzern Bertelsmann, der über die Breitenwirkung seiner Buchklubs, Verlage, Zeitschriften und Sender hinaus mit seiner Stiftung den führenden deutschen Think Tank etabliert hat, der auf so gut wie allen wichtigen Politikfeldern nachhaltige Wirkung entfaltet. Die Bertelsmann-Stiftung infiltrierte ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend SPD, Grüne und Gewerkschaften, worauf sie insbesondere unter der Regierung des zum Medienkanzler hochstilisierten Gerhard Schröder maßgeblich zur Formulierung und Durchsetzung der Hartz-Gesetze beitrug.

Die systematische Schwächung kollektiver Interessenvertretung der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung öffnete der Durchsetzung zahlloser Grausamkeiten Tür und Tor, die teils gesetzlich verfügt, teils durch die Aushebelung gewerkschaftlicher Kontrolle zu einem illegalen Wildwuchs entufert den Sozialstaat zu einer schwindenden Erinnerung an bessere Zeiten verblassen lassen. Unbezahlte Mehrarbeit als systemische Profitquelle, Lohnbetrug durch falsche Abrechnung, massiver Druck auf Betriebsräte oder Leiharbeiter als erste Opfer der Wirtschaftskrise sind nur einige von einer ganzen Reihe diesbezüglicher Themen, die von den in diesem Band vertretenen Autoren erörtert werden.

Wie anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert wird, machen Betriebsräte und Gewerkschaften dabei nicht selten eine denkbar schlechte Figur, die bis hin zur Käuflichkeit und Kollaboration reicht. Hier gilt es jedoch zu diffenzieren, worum sich die Referenten nicht zuletzt deshalb bemühen, weil sie vielfach aus den Gewerkschaften oder deren Umfeld kommen und sich dem Engagement für die Interessen der Werktätigen und Arbeitslosen verschrieben haben. Wie Gewerkschaftsarbeit von Unternehmensseite sabotiert wird, erläutert Daniel Behruzi am Beispiel "gelber" Organisationen, also streikbrecherischer und spalterischer Werkzeuge zur Schwächung der Arbeiterschaft. Insbesondere die "christlichen" Gewerkschaften stellten sich als Lohndrücker zur Verfügung, wozu sich in jüngerer Zeit Konstruktionen wie die Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ) oder die in Korruptionsskandale verwickelte AUB bei Siemens gesellten. Zu erwähnen sind allerdings auch die Betriebsratsfürsten bei VW oder der frühere Transnet-Chef Norbert Hansen, die vor allem den Unternehmensinteressen verbunden waren. Dem System Hansen widmet Hans-Gerd Öfinger ein eigenes Kapitel, das die Zähmung einer Gewerkschaft anschaulich darstellt.

Im Sommer 2008 ergoß sich eine Schmutzflut publik gewordener Überwachungsfälle durch alle Medien, da Unternehmen wie Burger King, Lidl und andere Discounter, aber auch die Telekom, die Deutsche Bahn, der Autobauer Daimler oder die Drogeriekette Müller ihre Beschäftigten heimlich bespitzelt und ausgeforscht haben. Rolf Gössner verbindet in seinem Beitrag zur Überwachung im Betrieb derartige Praktiken mit der Tätigkeit privater Sicherheitsfirmen und nicht zuletzt staatlichen Geheimdiensten, womit er die Kontrolle des Menschen an seinem Arbeitsplatz in den gebotenen Kontext mit dem staatlichen Verfügungsanspruch insbesondere unter den Antiterrorgesetzen stellt.

Nach dieser düsteren Bestandsaufnahme fällt es zwangsläufig schwer, dem Szenario um sich greifender Spaltung und Beherrschbarkeit etwas entgegenzusetzen, das sich nicht von vornherein als bloßes Rückzugsgefecht oder Intergrationsmanöver diskreditiert. Dennoch hat es sich die Konferenz "ArbeitsUnrecht" natürlich nicht nehmen lassen, Alternativen und Chancen zu diskutieren. Darunter findet der Leser so unterschiedliche Ansätze wie die Formulierung von Kriterien für ein umfassendes Arbeitsrecht und die Einforderung sozialer Grundrechte wie auch den Kampf um Arbeitsrechte in der chinesischen IT-Branche, die Entwicklung mobiler Solidarität bei der Wanderarbeit, die Kampagne "gleiche Arbeit - gleiches Geld" der IG Metall und einen ersten Teilerfolg gegen Hartz IV. Auch Whistleblowing als Instrument gegen nicht hinzunehmende Mißstände und ein Lob der mutigen Steuerfahnder fehlen nicht. Letzten Endes gebietet es aber die Unausweichlichkeit des "ArbeitsUnrechts" um so mehr, nicht nach dem "Richtigen im Falschen" zu suchen, sondern in diesem Streit entschieden Position zu beziehen. Daher schließt das Buch aus gutem Grund mit einem Beitrag zum politischen Streik, den Parteien, Institutionen und Gewerkschaften in Deutschland allzu lange tabuisiert haben.

14. Mai 2010


Werner Rügemer (Hrsg.)
ArbeitsUnrecht
Anklagen und Alternativen
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009
250 Seiten
ISBN 978-3-89691-780-5