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REZENSION/518: Kollektiv Rage - Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei (SB)


Kollektiv Rage


Banlieues

Die Zeit der Forderungen ist vorbei



Am 27. Oktober 2005 starben Bouna Traoré und Zyed Benna in der Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois auf der Flucht vor der Polizei. Muhtin Altun, ein dritter junger Mann, wurde schwer verletzt. Es sind nicht die ersten und auch nicht die letzten Jugendlichen, die im Visier französischer 'Gesetzeshüter' ums Leben gekommen sind. Ihr Tod steht sinnbildlich für eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Widerspruchslage, deren menschenfeindlicher Charakter in den ghettoisierten Banlieues kaum zu bemänteln ist. So kann es eigentlich nicht verwundern, daß in dieser Situation weder Worte noch staatlich geförderte oder initiierte Sozialprogramme, die Grundprobleme wie Arbeitslosigkeit, Benachteiligung und Verelendung nicht ernsthaft in Angriff nehmen, oder repressive Polizeipraxis diese Menschen, denen man die Teilhabe in wachsendem Maße verwehrt, schweigend und gefügig halten.

Mit dem Band "Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei" legen die Herausgeber unter dem Namen Kollektiv Rage eine Sammlung von 13 Texten vor, die sich unter verschiedenen Fragestellungen mit den Unruhen in den französischen Vorstädten des Jahres 2005 auseinandersetzen. Obwohl der Anlaß des Buches im engeren Sinne die Ereignisse von 2005 sind, ist es gleichwohl hochaktuell, denn die zugrundeliegenden Konflikte sind ebenso geblieben wie die begründete Wut ins gesellschaftliche Aus gedrängter Menschen. So fragte sich kürzlich der Bürgermeister von Clichy-sous-Bois, dem Vorort, in dem 2005 die Unruhen ihren Anfang nahmen, anläßlich eines Besuches mit Parlamentariern in einer Wohnanlage in Le-Chêne-Pointu, einem ghettoähnlichen Armutsviertel des Ortes, angesichts der Ignoranz der Regierungspolitik gegenüber den Zuständen:

Worauf warten wir? Auf neue Aufstände? Darauf, daß der Schnellkochtopf explodiert? Bei den letzten Regionalwahlen war die Beteiligung in Clichy sehr gering. Aber wie kann man den Bewohnern Clichys auch vorwerfen, daß sie sich nicht für die Wahlen einer Institution interessieren, von der sie sich auf diesem von der Republik im Stich gelassenen Gebiet ausgeschlossen fühlen? [1]

Auch wenn die im Buch versammelten Texte recht unterschiedliche Ansätze verfolgen, scheint unter den Autoren und Autorinnen, hinter denen sicherlich auch zum Teil die Herausgeber zu vermuten sind, zumindest Einigkeit darüber zu bestehen, daß es sich bei den Aufständen um einen Ausdruck des berechtigten Zorns handelt und gehandelt hat. Darauf verweist bereits der Titel in Verbindung mit dem Namen 'Kollektiv Rage', den sich die Herausgeber zugelegt haben. Inwieweit sich das Kollektiv mit diesem Zorn, nach dem es sich benennt, verbunden fühlt, bleibt im Vorwort, das als gemeinsame Stellungnahme zu verstehen ist, allerdings offen. Der Leser erfährt hingegen, daß Anlaß und Ansporn für das Zustandekommen des Buches unter anderem die Tatsache gewesen sei, daß "sich die 'Linke' einschließlich der radikalen und autonomen Linken (sowohl innerhalb wie außerhalb Frankreichs) mit einer Bezugnahme auf die Kämpfe in den Vorstädten äußerst schwer getan" habe (S. 7). Bei der Lektüre könnte jedoch der Eindruck entstehen, daß dies auf manchen Autoren nicht minder zutrifft, denn das 'Kollektiv' scheint auf Distanz zu gehen und rückt die vehementen Proteste, scheinbar objektiviert durch das entsprechende Vokabular, sogar in mythische Bereiche, die so fern wie ungeheuer, unverständlich und bedrohlich anmuten:

Wir verstehen die (hauptsächlich) von Jugendlichen getragenen Revolten als Teil eines weltweiten, facettenreichen Panoramas von Kämpfen, die allerdings (noch) meist ohne unmittelbare gegenseitige Bezugnahme bleiben und vielleicht am ehesten mit dem Bild der von Peter Linebaugh und Marcus Rediker beschriebenen "vielköpfigen Hydra" zu fassen sind. (Vorwort, S. 7) 

Die Beschreibung des Aufbegehrens von Menschen, die man in den Medien wie in den Sozialwissenschaften in fahrlässiger Weise bereits als "Überflüssige" zu bezeichnen beginnt, als mythisches Untier, das Angst und Schrecken verbreitet, weil es nicht zu besiegen ist, verweist hier die Aufständischen genauso in die Ferne wie die Auffassung der Revolten als Teil eines facettenreichen Panoramas, das einer genaueren, sozialwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen wird. Auf S. 16 im Vorwort heißt es:

Doch auch unser Blick ist geprägt durch Fremdheit,31 [2] mit der uns die Revoltierenden - nicht nur in den Banlieues - gegenübertreten. Das Radikale dieser Subjektivität können wir vielleicht erahnen, wenn wir unseren Blick auf die globalen Auseinandersetzungen richten, als deren einzelne Fronten sich Kämpfe um Einkommen und Respekt wie 2005 in den Banlieues artikulieren. (S. 16-17) 

Gleichwohl liefert das Buch dem mehr oder weniger vorinformierten Leser Stoff und Motiv an die Hand, die es ihm ermöglichen, selbst Position zu den Unruhen in Frankreich zu beziehen. Auffällig am Vorwort ist die Vermeidung einer persönlichen Stellungnahme, was nicht unbedingt für die einzelnen Texte gilt. Das folgende Zitat illustriert die Frage, die sich Teilen der Autorenschaft des Buches sowie vielen Betrachtern angesichts der Aufständischen stellen mag, die einer Vermittlung nicht mehr zugänglich waren, auf deutliche Weise:

"Die Zeit der Forderungen ist vorbei, jetzt herrscht die Revolte!" zitiert unser Interviewpartner Eric einen ungenannt gebliebenen Bekannten aus einer Pariser Banlieue. Es gab keine politischen Forderungen. Es gab keine politische Repräsentation. Es gab keine politischen Organisationen. In dieser Weigerung, politische - also verhandelbare - Forderungen aufzustellen, in der Ablehnung politischer Repräsentanz und politischer Organisationsformen, in ihrer politischen Nichtvermittelbarkeit lag aber die eigentliche Radikalität der Aufstände, weit mehr als in der militanten Auseinandersetzung mit den Staatsorganen oder den Angriffen auf Behörden und dem Abfackeln von Autos. (Vorwort, S. 9) 

Nicht viel anders sind auch der Titel und das eigentliche Thema des vorliegenden Bandes mit Beiträgen zu den Unruhen des Jahres 2005 "Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei" zu verstehen. Denn wer Forderungen stellt, hofft auf den Ansprechpartner, in diesem Falle den französischen Staatsapparat im weitesten Sinne einschließlich des Bildungsbereichs, der sozialen Verbände, aller, auch der Links-Parteien, der Gewerkschaften etc. Dieser hat sich in der langen Entwicklung der französischen Vorstädte, wie man in diesem Buch detail- und perspektivenreich nachlesen kann, in jeder Hinsicht als weder fähig noch willens erwiesen, allen Menschen, die in Frankreich leben, ungeachtet ihrer Herkunft gleichermaßen ein akzeptables Auskommen und ein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu ermöglichen oder dieses auch nur im entferntesten anzustreben.

Was lt. Vorwort der Klärung bedarf:

Weil das soziale Subjekt in den Auseinandersetzungen um Räume, Würde und Überleben auf die Zumutungen nicht mehr in den angebotenen Politikformen antwortete, setzte in Frankreich notgedrungen eine Debatte über die Ursachen dieses Bruchs ein. Eines Bruchs mit allen vermittelnden gesellschaftlichen und kommunikativen Prozessen, Institutionen, Prozeduren, Instanzen. Eines Bruchs, der sich als nonkommunikative Explosion ausdrückte. (S. 16) 

wird mit den Worten von 'Marinus von der Lubbe', laut Autorenübersicht ein politischer Aktivist und ansässig in einer Pariser Banlieue, plausibel:

Die Modernität der Aufstände lag darin, den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen zu haben und sie nicht nachzuahmen,... (S. 16) 

Die Heftigkeit, Dauer und Breite der Reaktion auf den Tod der beiden Jugendlichen überraschte die Franzosen. Wenige Stunden später brannten Autos in Clichy, ein Einkaufszentrum, das Rathaus, die Post und eine Schule wurden angegriffen. Das war noch nichts Ungewöhnliches. Im Verlauf der folgenden Tage weiteten sich die Aktionen jedoch aus. Am 29. Oktober, zwei Tage nach dem Tod der zwei jungen Männer, umstellten mehr als 400 Polizisten das Viertel Le-Chêne-Pointu - eine Maßnahme, die von den Banlieusards als Provokation gewertet und entsprechend beantwortet wurde. Zugleich explodierte im Inneren einer Moschee unter 200 Gläubigen während der Predigt eine Tränengasgranate, was von den Menschen im Viertel als gezielte Provokation der Sicherheitskräfte aufgefaßt wurde. Dieses Ereignis gilt als auslösendes Element für die folgende Eskalation der Aufstände und ihre Ausweitung auf zunächst die weitere Pariser Region und etwa ab dem 3. November auf ganz Frankreich. Auch wenn es sich bei den Bewohnern der Banlieues zu 80 Prozent um Menschen mit 'Migrationshintergrund' handelt, steht, wie die Herausgeber des Buches betonen, im Selbstverständnis eher die Banlieuezugehörigkeit im Vordergrund.

Die zunächst spontanen und vereinzelt wirkenden Aktionen entwickelten sich zu einer breiteren Bewegung, der eine gewisse Schlagkraft nicht abzusprechen war, während sie die etablierte Gesellschaft vor allem durch ihre Kompromißlosigkeit und die Negation als nicht zielführend erkannter, tradierter Formen des Protestes in Schrecken versetzte. Dennoch hat die vermutete Provokation durch die Sicherheitskräfte auf längere Sicht möglicherweise doch ihren Zweck für die Staatsorgane erreicht, als da wäre: Übung in urbaner Polizeiaktion, Ausloten, wie hoch die Gewaltbereitschaft der Betroffenen ist und wieviele Menschen sich auf welche Weise beteiligen, etc. Die Eskalation der Ereignisse führte schließlich zur Verhängung des Ausnahmezustandes am 8. November, nachdem sich Jugendliche aus mehr als 200 Banlieues den Aufständen angeschlossen hatten:

Angesichts der Gewalt der Bewegung geriet die französische Gesellschaft und insbesondere die politische Klasse regelrecht in Panik. Am 8. November, dem zwölften Tag der Revolte, erklärte der Premierminister De Villepin den Ausnahmezustand und leitete damit die dritte Phase der Revolte ein: ihre Repression. Er nutzte ein Gesetz, das 1955 während des Algerienkriegs geschaffen und seitdem nur ein einziges Mal (in Neukaledonien) angewandt worden war. (S. 29) 


In ihrem Aufsatz "Die Novemberrevolte in den französischen Banlieues - Blinde Wut oder soziale Bewegung?" rekapituliert die Soziologin Ingrid Artus die damaligen Ereignisse und fragt nach den Hintergründen. Laut Artus lassen sich die Aufständischen in den Vorstädten "ebenso wenig in herkömmliche linke Raster politisch motivierter Aufstände einordnen" (S. 46) wie als Kriminelle abtun, wie es in den Mehrheitsmedien dargestellt wurde. Die Anschläge seien nur bedingt politisch gezielt gewesen und hätten sich weniger gegen die Verantwortlichen für die Lage in den Vorstädten gerichtet als direkt gegen Institutionen, die den Aufständischen den Alltag schwermachten, wie beispielsweise die Schule. Nicht nur suchten die Jugendlichen nach Auffassung der Autorin nicht den Dialog, sondern gab es auch kaum jemanden, der diesen hätte führen wollen:

Es wurde nur zu deutlich: Die Émeutiers haben keine Verbündeten. Und ihr eigener gesellschaftlicher Einfluss ist äußerst gering. (S. 46) 

So symbolisieren die Émeutes sowohl die strikte Weigerung, sich am politischen Spiel zu beteiligen, als auch das Fehlen einer sozialen Utopie, die den tiefen Graben zwischen linken Gruppierungen verschiedenster Provenienz und prekarisierten Migrantenjugendlichen aus dem Ghetto überbrücken könnte. Und doch sind die Émeutes alles andere als sprachlos. Sie formulieren ein klares Nein gegenüber den herrschenden Verhältnissen. (S. 47) 

Hier kommt die Autorin unmißverständlich auf den erklärten Anlaß für dieses Buch zu sprechen und plädiert im Grunde dafür, von den oben erwähnten linken Rastern abzusehen. Denn wenn wie eingangs festgestellt, die die französische Gesellschaft erschütternde und von der Linken sowie dem Autorenteam empfundene eigentliche Radikalität der Aufstände in ihrer (politischen) Nichtvermittelbarkeit lag, könnte man auf dieser Basis vielleicht bei entsprechendem Interesse etwaige Gräben überbrücken und seinerseits auf die Jugendlichen zugehen. Bei aller Wut, die in der im folgenden zitierten Stellungnahme von Aufständischen zum Ausdruck gelangt, wird immer noch deutlich, daß es Anknüpfungspunkte geben könnte:

Am Winteranfang sind die Vorstädte explodiert und es war gut. Eingepfercht in der Urbanität des Kapitalismus, ohne Hoffnung oder die Aussicht etwas zu gewinnen... haben sich viele ein paar Freudenfeuer genehmigt!
Über die Ereignisse scheint alles schon gesagt worden zu sein. Von der Anthropologie bis zur linksradikalen Phrasendrescherei, von Verschwörungstheorien bis zu faschistischen Parolen. Doch unsere Stimmen waren in all dem nicht zu hören. Dabei war schon die Revolte selbst in ihrem Ablauf sehr beredt. (S. 155) 
...
Unser Hass ist nicht verhandelbar. Von Generation zu Generation ist es immer wieder die gleiche Scheiße. Wir gehen den Staat und seine Repräsentanten an, die sich ein schönes Leben machen, während wir schuften. Das ist die Bedeutung der Revoltierenden, derer, die wütend sind, derer, die keinen Bock auf das Leben haben, zu dem sie verurteilt sind. (S. 156) 


Mit welchen Konzepten die Bewohner der Banlieues zum Zwecke der Auslese, optimierten Verwertung im Arbeitsprozeß sowie der Ruhigstellung und Entsorgung in eine Zwangslage versetzt, hingehalten und ausmanövriert wurden und werden, weist Emmanuelle Piriot in ihrem Beitrag "Die Banlieues als politisches Experimentierfeld des französischen Staates" so plausibel wie historisch fundiert und umfassend nach. Der Bau der Trabantenstädte, die vornehmlich aus Sozialwohnungen bestehen, war die Antwort auf die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autorin schildert und analysiert deren Entstehung und Entwicklung sowie die Organisation der Arbeitsmigration in Zeiten fehlender Arbeitskräfte bis zur Erprobung neuer polizeilicher Kontrolltechniken an den "Überausgebeuteten und Illegalisierten" (S. 59). Im Anschluß legt sie Konzepte, die den in den Banlieues angewandten Sondermaßnahmen zugrundeliegen, dar. Der Zugriff staatlicherseits beschränkt sich selbstverständlich nicht auf Verwaltungsmaßnahmen und Anreize in Form sozialer Programme, begleitet wird dieser durch die entsprechende Stigmatisierung der betroffenen Menschen, die jeglicher repressiver Maßnahme den Anschein von Berechtigung oder gar Zwangsläufigkeit zu verschaffen in der Lage ist. Auf die naheliegende Frage, zu welchem Zweck experimentiert wird, gibt die Autorin folgende Antwort:

Die Bevölkerungsgruppen, mit denen sich die Politique de la ville befasste, wurden als Problemgruppen definiert, nie jedoch als eigene Akteure anerkannt. Die Banlieues dienten der Politique de la ville als Experimentierfeld für die Reform des öffentlichen Dienstes und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Auch die regierungstechnologischen Modelle, mit denen heute an die Kontrolle städtischer Räume herangegangen wird, sind weitgehend ein Resultat der durch die Politique de la ville in den Banlieues eingeleiteten Experimente. Weit davon entfernt, die sozialen Verwerfungen in den Banlieues zu beheben, hat die Politique de la ville neue Formen der sozialen Kontrolle in kapitalistischen Gesellschaften hervorgebracht. (S. 60) 


Während sich Emmanuelle Piriot in ihrem Beitrag schwerpunktmäßig mit dem staatlich-administrativen Zugriff befaßt, verfolgt Max Henninger in seiner Untersuchung "'Der Unterschied, auf den es heute ankommt' - Die Jugendlichen der französischen Armutsviertel, die Neuordnung des Arbeitsmarktes und die neue Sicherheitspolitik" zur Vorgeschichte der Revolte einen mehr soziologischen Ansatz und bezeichnet "die Ereignisse vom November 2005" als den vorläufigen "Höhepunkt einer Dynamik von Verelendung, Ausgrenzung und polizeilich-sozialarbeiterischer Einkreisung" (S. 106). Er befaßt sich unter anderem mit Fragen der Identitätsbildung und Zugehörigkeit sowie Widerstandsformen in den Banlieues, der repressiven Funktion der Schulen, Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und altbekannter Formen "nachbarschaftlicher" sozialer Kontrolle und administrativer Störmanöver sowie der technologischen Aufrüstung der Sicherheitskräfte:

Ein weiterer Aspekt der in den Banlieues praktizierten Sicherheitspolitik sind die verschiedenen Versuche, Jugendliche möglichst weitgehend vom öffentlichen Raum auszuschließen. In diesem Zusammenhang gehören die Anbringung nur mit numerischen Codes (digicodes) passierbarer Zäune um die Siedlungsbauten herum und jene von den Wohnungsbaugesellschaften erlassenen Hausordnungen, die beispielsweise den gemeinsamen Aufenthalt in den Eingangshallen der Gebäude verbieten. Solchen Vorschriften wird u.a. durch die Anbringung von Videoüberwachungsanlagen Nachdruck verschafft. Diese Maßnahmen zielen offenkundig darauf ab, die von Lepoutre beschriebenen sozialen Zusammenhänge zu zerschlagen und die Jugendlichen an die für sie vorgesehenen Orte (Wohnung, Schule, Arbeitsplatz bzw. Arbeitsamt) zu verweisen. (S. 134-135) 


Weit davon entfernt, die Ursachen der Unruhen in Angriff zu nehmen und in einen Dialog mit spürbaren Konsequenzen hinsichtlich Chancengleichheit und Verbesserung der Lebensverhältnisse einzutreten, setzt die staatliche Administration auf verfeinerte Methoden der Spaltung und Repression, die neben Anpassung und Resignation auch den Zorn am Kochen halten. Das machen die Beiträge des Buches insgesamt deutlich. Die zu Wort kommenden Soziologen Laurent Mucchielli und Mathieu Rigouste befürworten den Dialog. Auch Bewohner der Banlieues kommen, allerdings weitgehend unkommentiert, zu Wort, was die Frage offenläßt, wie repräsentativ sie wohl sein mögen. Ein Abschnitt des Buches stammt aus der Broschüre C7H16, augenscheinlich einem Gemeinschaftsprojekt von Banlieusards, in dem Stellungnahmen, Texte über den Alltag und den Aufstand in der Banlieue und die Polizeischikane sowie eine Chronik der Aufstände 2005 und die Texte der unter Beteiligung mehrerer RAP-Gruppen veröffentlichten 'street CD' zusammgefaßt sind. An dieser Stelle hätten die Herausgeber ruhig etwas ausführlicher werden können, die Betroffenen selbst kommen in dem Buch unterrepräsentiert zu Wort.

Ergänzt durch einen Überblick über das Verhältnis von Rap und Revolte in Frankreich, der mit dem Fazit schließt:

In diesem Sinne ist der Rap ein Mittel zur Kommunikation. Nur sollten wir gut zuhören und auch die Misstöne nicht überhören. Und selber nur den Mund aufmachen, wenn wir wirklich etwas zu sagen haben: Le changement viendra d'en bas - Die Veränderung wird von unten kommen! (Keny Arkana) [3],

sowie durch Erfahrungsberichte aus dem gewerkschaftlichen Kampf dreier Frauen unter dem Titel "Prekäre Lohnarbeit und prekäre Kämpfe in der Pariser Banlieue: Victoria, Natalie, Fatima" und einen erfreulichen Artikel zur domestizierten 'Ni-pute-ni-soumises-(Frauen)Bewegung', der mit dem Mißverständnis aufräumt, es gehe dort um anderes als die Durchsetzung von Herrschaftsinteressen, sowie abgerundet durch einen Abriß der Banlieue-Aufstände von 1971 bis 2009 ist dieser Band in seiner Ausführlichkeit bestens geeignet, Interesse sowie Widerspruch zu wecken und zu vermitteln, daß die Banlieues so fern nicht sind. So könnte es dem Leser gelingen, die Konflikte in Frankreich mit anderen Augen zu sehen. Abgesehen davon genügt der Verweis auf nicht zufällige, aber nicht ganz so augenscheinliche Parallelen in Deutschland - "No Go Areas in Berlin: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit", um Nachdenklichkeit zu erzeugen. Die Autoren leisten in jeder Hinsicht dazu ihren Beitrag und bieten genügend Stoff, der es dem Leser erlaubt, sich eine eigene Meinung zu den Unruhen in Frankreich zu bilden.

Sollte allerdings von Seiten der Politik nicht endlich ein ernstliches Bemühen erkennbar sein, eine wirkliche Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen in der Banlieue mit gleichen Chancen auf eine gesellschaftliche Teilhabe glaubhaft in Angriff zu nehmen, steht zu befürchten, daß die Aufstände und die bereits als "Krieg" bezeichneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Banlieue-Bewohnern möglicherweise mit einem Ausgang eskalieren, der direkt in die permanente Notstandslage führen könnte.


Anmerkungen

[1] Le Monde, 10.04.2010: "Moi, Claude Dilain, maire de Clichy-sous-Bois, j'ai honte"
www.lemonde.fr/societe/article/2010/04/10/moi-claude-dilain-maire-de-clichy-sous-bois-j-ai-honte_1331612_3224.html
(Übersetzung: Redaktion Schattenblick)

[2]/31 "Immerhin haben die Anti-Nato-Proteste in Strasbourg vom April dieses Jahres gezeigt, dass punktuelle faktische Zusammenschlüsse zwischen Militanten und Banlieue-Jugend im Kampf gegen Polizeiangriffe möglich sind." (S. 16) 

[3] Keny Arkana - Rapperin, die sich als eine Rebellin definiert, die Rap macht, Tochter argentinischer Einwanderer, gehört der globalisierungskritischen Bewegung La Rage du Peuple an. Der Text ihres Titels "La Rage" ist dem Buch vorangestellt.

Die im Buch vermerkten bibliographischen Angaben wurden nicht in die Zitate übernommen

30. April 2010


Kollektiv Rage
Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei
Verlag Assoziation A
Berlin, Hamburg 2009
ISBN 978-3-935936-81-1