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REZENSION/478: Alexander Bahar - Folter im 21. Jahrhundert (SB)


Alexander Bahar


Folter im 21. Jahrhundert

Auf dem Weg in ein neues Mittelalter?



Alexander Bahar zieht gegen die "Folter im 21. Jahrhundert" mit der programmatischen Frage zu Felde, ob wir auf dem Weg in ein neues Mittelalter seien, und warnt eindringlich vor einem Rückfall in eine gemeinhin mit Finsternis und Barbarei assoziierte Epoche menschheitsgeschichtlicher Entwicklung. Er prangert zugleich den innovativen Charakter der Legalisierung von Folter in der gegenwärtigen Phase globaler Herrschaftssicherung an, welche die grausame Drangsalierung aus den verborgenen und tabuisierten Kellern absoluter Verfügung über Leib und Leben hervorholt und offiziell in das militärische, polizeiliche und strafrechtliche Arsenal jener Mächte überführt, die sich der Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit rühmen.

Nie hat dieser Anspruch die Vereinigten Staaten oder die Länder Europas daran gehindert, mit Folterstaaten Geschäfte zu machen, sich ihrer als Vorposten zu bedienen, sie wie im Fall der EU in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, ihnen Nachhilfe in Sachen Folter zu geben oder die Tortur dort eigenhändig zu betreiben. Neu ist jedoch spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington ein Diskurs, der das in der Verfassung festgeschriebene Folterverbot aushebelt und die proklamierte globale Kriegsführung um die Waffe uneingeschränkter Zugriffsgewalt ergänzt. So wird das Vernichtungspotential der Militärmaschinerie in ihrer Reichweite und Durchdringungskraft noch übertroffen von der Drohung, man sei an keinem Ort der Welt davor geschützt, ergriffen und grausamsten Qualen ausgesetzt zu werden. Jeder soll zittern, der meinen Namen hört, lautet die Ultima ratio des Folterregimes, das sich von allen vorgeschobenen Zwecken wie Geständnissen, Informationen oder strafrechtlicher Aufarbeitung emanzipiert und damit jede vermeintliche Schutzfunktion von Vernunft, Humanität oder Moral unterläuft. Es geht um die Ausübung exzessiver Gewalt, mit der aller Welt auf fundamentale Weise klargemacht wird, daß Flucht unmöglich, Widerstand zwecklos und Unterwerfung unvermeidlich ist.

Wie Barbara Lochbihler, die frühere Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, in ihrem Vorwort schreibt, gehöre das Folterverbot zu jenen Menschenrechten, die absolut und ohne Ausnahme gelten. Neben der Antifolterkonvention von 1987 verbieten auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das geltende Völkerrecht und das Kriegsrecht alle Formen von Folter und Mißhandlung selbst in Notsituationen und bewaffneten Konflikten. Wie die Erfahrung zeige, sei die Anwendung von Folter nie begrenzt. Lasse ein Verfassungsstaat Folter in eng umgrenzten Ausnahmefällen zu, werde das Tor zu weiteren Grausamkeiten geöffnet. Daher sei das absolute Folterverbot einer der Grundpfeiler des Rechtsstaats.

Ähnlich äußerte sich der vom Autor zitierte deutsche Verfassungsrichter Winfried Hassemer im Februar 2003, der Folter als einen Angriff auf die Personalität bezeichnete, die noch fundamentaler als das Leben sei. Die Menschenwürde sei so etwas wie das Grund-Grundrecht, da es dabei nicht nur um die einzelne Person, sondern einen Grundpfeiler jeden zivilisierten Rechts gehe. Wenn man das zur Disposition stelle, gerate man auf die schiefe Bahn, auf der es letztlich kein Halten gibt. Wo dies enden kann, habe man im Nationalsozialismus erfahren müssen.

Die Folterdebatte in Deutschland nimmt zwar fast automatisch Bezug auf den Nationalsozialismus, doch ist sie in Ansätzen beinahe so alt wie die Bundesrepublik, obgleich sich diese als rechtsstaatlicher Gegenpol zur für überwunden erklärten Vergangenheit definiert. Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze sorgte die Große Koalition 1968 dafür, daß Rechtsstaatlichkeit nur so lange das vorgehaltene Mittel der Wahl bleiben soll, wie dies den Herrschaftsinteressen geboten erscheint. Franz Josef Strauß war als bayerischer Ministerpräsident entschiedener Gegner einer Konvention, die eine Abschiebung von Flüchtlingen bei Foltergefahr im Herkunftsland verbietet. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Kontroverse im Zusammenhang der Haftbedingungen der politischen Gefangenen aus den Reihen der RAF und Bewegung 2. Juni in den 1970er Jahren. Isolierung von Mitgefangenen, Kontaktsperre, Zwangsernährung und sensorische Deprivation, letztere an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf wissenschaftlich erforscht, erfüllen nach international anerkannter Definition den Tatbestand von Folter.

Nach dem 11. September 2001 brach sich die Debatte mit neuer Wucht Bahn. Führende deutsche Kriminalisten sprachen sich für scharfe Verhörmethoden aus, Politiker dachten laut über neue Instrumente zur Gefahrenabwehr nach. Beispielhaft war die Berufung auf einen übergesetzlichen Notstand seitens des Vizepräsidenten der Polizei Frankfurt am Main, Wolfgang Daschner, der bei der Vernehmung des Kindesentführers Magnus Gäfgen am 1. Oktober 2002 unmittelbaren Zwang in Gestalt zugefügter Schmerzen anordnete. Gemessen an der erhofften Rettung des Kindes schien dieser Übergriff so lächerlich geringfügig, daß sich der Fall geradezu als Türöffner für die Folterdebatte erwies. Die mediengenerierte öffentliche Meinung gab Daschner mehrheitlich recht, Hessens Innenminister Volker Bouffier und Ministerpräsident Roland Koch verschafften ihm Rückendeckung. Der damalige Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Geert Mackenroth, konnte sich Folter in bestimmten Fällen vorstellen, Bundesjustizministerin Brigitte Zypries schloß einen rechtfertigenden Notstand nicht aus und selbst Oskar Lafontaine ergriff öffentlich für Daschner Partei. Während dieser mit einer symbolischen Strafe davonkam, scheiterte Gäfgens Anwalt mit einer Revision gegen das Urteil seines Mandanten in allen Instanzen.

Wichtige juristische Kommentare ließen seither deutlich erkennen, daß das Tabu gebrochen war. Die Menschenwürde galt nicht länger als absolut unantastbar und wurde immer häufiger als Abwägung verschiedener Rechtsgüter interpretiert. Man konstruierte Sonderfälle, in denen die Anwendung von Gewalt im Verhör geboten erscheint, und erging sich in gewundenen Verklausulierungen, um die Stoßrichtung zu verschleiern. Der Heidelberger Rechtsphilosoph Winfried Brugger hatte schon 1996 gefragt, ob der Staat ausnahmsweise foltern dürfe. Wie er nun erklärte, dürfe die Polizei nicht nur foltern, sie müsse es aus verfassungsrechtlichen Gründen sogar. Begriffe wie "Rettungsfolter", "gewaltsame lebensrettende Kooperationserzwingung" oder "selbstverschuldete finale Rettungsbefragung" flankierten das Ende des absoluten Folterverbots. Nach den Anschlägen von Madrid am 11. März 2004 erklärte der an der Münchner Bundeswehr-Universität lehrende Historiker Michael Wolffsohn, er halte Folter oder deren Androhung als Mittel gegen "Terroristen" für legitim.

Wie der Autor am Beispiel der Folteropfer Murat Kurnaz, Mohammad Haydar Zammar und Khaled El-Masri dokumentiert, reicht die Beteiligung des deutschen Staates von Mitwisserschaft bis zu aktiver Mitwirkung. Bundesinnenminister Schäuble und Verfassungsschutzpräsident Fromm bestanden darauf, durch Folter im Ausland gewonnene Erkenntnisse nutzen zu dürfen, wobei die Aufweichung des Folterverbots Hand in Hand mit einer beschleunigten Erosion bürgerlicher Grundrechte und dem Verfall rechtsstaatlicher Prinzipien geht. Um die Unschuldsvermutung als fundamentales Verfassungsprinzip auszuhebeln, stellt man ihr die Gefahrenabwehr gegenüber. Die Perpetuierung des Ausnahmezustands in Gestalt der Bedrohung durch "Terroristen" mündet in eine Art Feindstrafrecht, das sich herkömmlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben zunehmend entzieht.

Die verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hatten die Forderung nach einem umfassenden Schutz der Menschenrechte auf internationaler Ebene wieder aufleben lassen. In den Verfassungen der zum westlichen Kulturkreis gehörenden Staaten ist Folter fast durchweg explizit unter Strafe gestellt, und eine ganze Reihe von Konventionen ist dem Folterverbot gewidmet, das man als Spezifikum der westlichen Kultur bezeichnen kann. Wie das Beispiel Deutschland zeigt, steht dieses Verbot in zunehmendem Maße nur noch auf dem Papier. Das gilt um so mehr für die Vereinigten Staaten, die mit dem "globalen Krieg gegen den Terror" einen Dammbruch ausgelöst haben, dessen Ausmaß noch längst nicht in seinem vollem Ausmaß dokumentiert ist.

Alexander Bahar legt schlüssig dar, daß eine inhaltliche und teilweise sogar personelle Linie der Folterforschung von den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten bis nach Bagram, Abu Ghraib, Guantánamo und den anderen "black sites" in aller Welt reicht. Obgleich dies insbesondere für die CIA gilt, waren auch andere Geheimdienste, Teile der Streitkräfte und nicht zuletzt private Sicherheitsdienstleister an der Vervollkommnung der Tortur beteiligt. Wie das Raumfahrtprogramm der USA enorm von den Forschungen und Entwicklungen eines Wernher von Braun profitierte, für die sich zahllose Zwangsarbeiter und KZ-Insassen zu Tode schuften mußten, und die rasanten Fortschritte der modernen Luftfahrt ohne die tödlichen Experimente deutscher KZ-Ärzte kaum denkbar gewesen wären, holte man sich auch renommierte deutsche Fachleute der Tortur ins eigene Land, wo man sie wesentlich besser als bei den Nürnberger Prozessen oder in sowjetischer Hand aufgehoben glaubte.

Davon abgesehen war es ohnehin nie ein Problem für die Siegerjustiz, andere für Untaten vor Gericht zu stellen und abzuurteilen, die man selbst ebenfalls praktizierte. Hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg japanische Offiziere für die Anwendung der Wasserfolter als Verbrecher hinrichten lassen, so kommt man heute zu dem Schluß, daß das berüchtigte Waterboarding eigentlich gar nicht unter den Begriff Folter falle. Wenngleich regelrechte Folterexzesse wie jene der Japaner in der Mandschurei oder der US-Truppen in Vietnam deutliche Züge einer kriegsbedingten Eskalation menschlicher Grausamkeit aufweisen, die alle Grenzen zu sprengen scheint, erweist sich das systematische Quälen doch in seinem Kern als ein wissenschaftlich betriebenes Geschäft der Drangsalierung unter Einbindung von Berufständen wie Ärzten und Psychologen, die ihre Fertigkeiten der Verfügung über andere Menschen in den Dienst staatlicherseits losgetretener Grausamkeit stellen.

Die Arroganz eines Donald Rumsfeld, der von einigen wenigen kriegsverwirrten und verachtenswerten "faulen Äpfeln" unter den Soldaten sprach, die man für ihre Folterpraktiken bestrafen müsse, leugnet unverfroren das Wissen und die Billigung höchster Kreise von Regierung und Parlament der USA wie auch der Verbündeten. Das von dem damaligen US-Kriegsminister gescholtene "Alte Europa" beteiligte sich höchst aktiv an der Strategie, einander in ständigem Wechsel die Bälle zuzuspielen, indem man vorpreschte oder zurückwich, vertuschte oder enthüllte und insbesondere arbeitsteilig die sogenannte Sicherheitsarchitektur ausbaute. Dabei galt es nicht zuletzt, Tradition, Rechtsverständnis, politische Lage und aktuelle Befindlichkeit der Bürger in den jeweiligen Ländern zu berücksichtigen und sich ihrer im Sinne einer gemeinsamen übergeordneten Stoßrichtung zu bedienen, wobei es durchaus naheliegt, daß entscheidende Schlüsselereignisse, die diesem Prozeß enormen Schub gaben, gezielt herbeigeführt wurden.

Selten dürfte das Bewußtsein einer Regierung, daß es Recht zu brechen galt, schon im Vorfeld so offen zutage getreten sein wie im Fall der Bush-Administration. Davon zeugen nicht nur die brachialen Hammerschläge eines Dick Cheney, Donald Rumsfeld oder Paul Wolfowitz, sondern ebenso die perfiden Feinarbeiten der Rechtsverdreher John Yoo, Jay Bybee, Alberto Gonzales oder David Addington. In enger Kumpanei fabrizierten Regierungsberater und Justizministerium jene berüchtigten Foltermemoranden, die "Regierungskriminalität (...) unter dem Deckmantel selbst hergestellter Rechtsförmigkeit" den Weg ebnete, wie es in einer Strafanzeige gegen hochrangige Mitglieder der Bush-Regierung heißt, die über den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eingereicht wurde.

Bezeichnenderweise wurden für die Mißhandlungen in Foltergefängnissen wie Abu Ghraib nur die niedrigsten beteiligten Dienstgrade verurteilt, während vom Kopf der Befehlskette in der Regierung bis hinunter ins höhere Offizierscorps und in die Geheimdienste mit einem Schlußstrich de facto eine Amnestie erteilt wurde, von der lateinamerikanische Juntamitglieder nur träumen können. Der Bush-Regierung ging es darum, Gefangene an Orte außerhalb der Reichweite irgendeines Gerichts oder Gesetzes zu bringen, die Genfer Konventionen hinsichtlich der Behandlung dieser Personen außer Kraft zu setzen und die für diese Politik Verantwortlichen von jeder Haftung für Kriegsverbrechen nach amerikanischem und internationalem Recht freizusprechen.

Wie erfolgreich sie dabei war, zeigt die präsidiale Beschlußlage Barack Obamas, der die von ihm erwarteten kosmetischen Korrekturen angekündigt und zugleich eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit abgelehnt hat. Amerikaner foltern nicht, verkündet der neue US-Präsident, als hätte nicht schon sein vielgeschmähter Vorgänger genau dasselbe behauptet. Daher steht zu befürchten, daß auch die Folterer Obamas Mantra "Yes, we can" mit Blick auf ihre künftige Praxis wörtlich nehmen.

Es zeichnet Alexander Bahars kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Folter aus, daß er den aktuellen Diskurs in seiner Breite und Tiefe angemessen erfaßt und für den Leser in einer Auswahl bündelt, die keinen wichtigen Aspekt vermissen läßt und dabei ausführlich auf weiterführende Quellen verweist. So steht das Buch als eine empfehlenswerte Einführung für sich, die ihren Gegenstand in einen historischen und politischen Kontext staatlicher Herrschaftssicherung stellt. Vor allem aber bezieht der Autor mit diesem Werk eine Position, die man ihm angesichts seiner fundierten Recherche schwerlich streitig machen kann.

30. April 2009


Alexander Bahar
Folter im 21. Jahrhundert
Auf dem Weg in ein neues Mittelalter?
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009
300 S., 16,90 Euro
ISBN 978-3-423-24713-9