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REZENSION/475: Hanns-Josef Ortheil, Klaus Siblewski - Wie Romane entstehen (SB)


Hanns-Josef Ortheil, Klaus Siblewski


Wie Romane entstehen

Von privilegierten Räumen und eitlen Berufsbildern



Die Frage, was einen guten Roman ausmacht und wie ein solcher entsteht, warum man unter den vielzähligen Exemplaren dieser Gattung immer einmal wieder auf eines trifft, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte, weil es einen fasziniert, berührt, aufwühlt und nicht mehr losläßt, ist eine sowohl von Schreibern und solchen, die es werden wollen, als auch von Lesern immer wieder gestellte, schwer zu ergründende und bislang nicht befriedigend beantwortete Frage. Das Interesse an einem Thema, einer bestimmten Erzählform oder die Vorliebe für einen besonderen Schreibstil vermag das Faszinosum eines gelungenen Romans allein nicht zu erklären.

Der Autor und Professor für "Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus" an der Universität Hildesheim, Hanns-Josef Ortheil, und Klaus Siblewski, langjähriger Lektor des Luchterhand Literaturverlages haben sich in ihrem 2007 erschienenen Buch "Wie Romane entstehen" und im Rückgriff auf ihre reichhaltigen Erfahrungen die Mühe gemacht, die einzelnen Arbeitsphasen bei der Entstehung eines Romans genau zu unterscheiden und darzustellen. Das Werk enthält auf knapp 300 Seiten jeweils vier Vorlesungen von Autor und Lektor aus ihrer je unterschiedlichen Perspektive.

Den Anfang macht Hanns-Josef Ortheil, der selbst etliche Romane verfaßt und veröffentlicht hat und sich mit der Materie aus unmittelbar eigenem Durchleben auskennt. Romane zu schreiben sei eine komplexe Tätigkeit. Allem Schreiben, so Ortheil, gehe als elementarste Phase des Entstehungsprozesses die des Sammelns und Notierens voran. In Tagebüchern oder Notizheften sammelt der Autor zunächst noch ziellos mit dem "typischen Romanautorblick auf die Welt". Auf diese Weise entstehe eine "enzyklopädisch angelegte Sammlung", "eine Art Welt-Mitschrift" (S. 25)

"Diese Mitschrift hat noch nicht den Sinn, für einen eventuellen Roman Material zu präparieren, sie geschieht vielmehr zunächst einmal um ihrer selbst willen, so daß man überspitzt sagen könnte: Einen Romanautor erkennt man daran, daß er die ihn umgebende Welt ununterbrochen auf ihre Details und Begriffe hin studiert und betrachtet"
(S. 25)

- bis ihn irgendwann "ein Detail anspringt", etwas ins Brennen gerät, der sogenannte erste Einfall.

"Wie aber und wodurch könnte denn etwas ins Brennen geraten? Die Frage, die wir jetzt beantworten müssen, ist die Frage nach dem ersten Faszinosum, das die Welt-Folie an irgendeinem kleinen und zunächst vielleicht unterschätzten Punkt in Brand setzt, es ist die Frage nach dem ersten Einfall oder nach der ersten Idee, die von einer so ungeheuren Überzeugungskraft sein müssen, daß ein Romanautor sie als solche (und das heißt: als Keimzelle eines Romans) erkennt und beinahe gleichzeitig den (brennenden) Wunsch verspürt, diesen Roman auch zu schreiben.
(S. 49)

Die Entstehung eines solchen Einfalls wird von Hanns-Josef Ortheil an Theodor Fontanes Roman "Effi Briest" demonstriert. Hier sollen das auslösende Moment für die Romanhandlung, zu deren Inhalt die Plauderei anläßlich einer Tischgesellschaft anregte, die Worte "Effi komm" gewesen sein, begleitet von dem Auftauchen und Verschwinden zweier Mädchen an den "mit Wein überwachsenen Fenstern". (S.51)

"Sehr häufig werden sich solche Initiationen für den Schriftsteller überfallartig oder überraschend ereignen." (S. 35) Sie ergreifen ihn wie eine plötzliche Verliebtheit mit Haut und Haaren. Dieser Moment sei der Anfang oder Ursprung jedes einzelnen und unverwechselbaren Romans.

Von nun an geht es für den Schreibenden um bedeutsame und psychisch aufwühlende Prozesse, in denen er emotional vollständig von der Idee besetzt ist, sich von der Welt abschließt und eine eigene Wirklichkeit aufbaut.

Dem Roman liege

"ein ungeheuer vitales, dynamisches und entgrenzendes Moment zugrunde. Der Roman ist eine gefräßige, monströse Gattung, er ist vergleichbar einem sich ununterbrochen mästenden, verfressenen Tier, das sein Autor und Erzeuger mit immer neuem Material füttern und stopfen muß. Indem der Roman auf Unendlichkeit und Totalität aus ist, fesselt und bindet er seinen Autor oft jahrelang an sich..."
(14)

Nur sehr allmählich und meist auf großen Umwegen entstehen Figuren, Räume, "eine Gesellschaft, ein zeitlicher Hintergrund, die Stimme eines Erzählers..." (S. 36) Damit diese zu einer Geschichte zusammenwachsen, müsse der Autor sich auf eine unablässige Spurensuche begeben, damit die Romanhandlung Substanz und Fluß erhält. Ortheil genügt es dabei nicht, wie anderen berühmten Kollegen, sich Orte vorzustellen oder über sie gelesen oder gehört zu haben, er braucht das Erleben eines "sinnlichen Kontaktes", einer spürbaren Nähe, die Recherche unmittelbar am Ort seines Romangeschehens. (S. 64)

Der Autor wird vom Stoff wie von einer neuen Familie adoptiert, ohne daß er die Distanz vollständig verlieren darf, will er die Fähigkeit behalten, den Romanverlauf zu steuern.

Unverzichtbar für den Entstehungsprozeß sei daher ein eigener Raum, eine Schreibwerkstatt, die dem Schaffenden Rückzug und Distanzierungsmöglichkeiten von der Welt und ihren sozialen Anforderungen biete. Manche Autoren sind auf recht ausgefallene Ideen gekommen, um sich zurückziehen zu können. George Bernhard Shaw zum Beispiel - auch diese Anekdote ist im Buch zu finden - stellte seine bewegliche Schreibkabine an immer wieder neuen Plätzen im Garten auf.

Weitschweifig und nicht frei von Wiederholungen und Selbstbeschau schildert der Autor zum Ende seiner Vorlesungsreihe beispielhaft die Entstehung seines Romans "Die große Liebe". Auf 28 Seiten darf der Leser an einem Liebesabenteuer teilhaben, das jedem Psychologen ein verständnisvoll-erkennendes Nicken entlocken würde. Die Räume, von deren Unabdingbarkeit für den schöpferischen Prozeß am Anfang des Buches die Rede war, erweisen sich als Fluchtorte und die behauptete Notwendigkeit zu schreiben kaschiert, daß es sich um die künstlerische wie kulturelle Überhöhung eines Phänomens handelt, mit dem alle Menschen (nicht nur leidenschaftshungrige Männer in ihrer Lebensmitte) zu tun und zu kämpfen haben: dem einer (aussichtslosen) Flucht. Schreiben scheint hier nachgeradezu zu einem Lebensersatz zu verkommen.

"In den beiden zurückliegenden Jahren hatte ich den Roman Die große Liebe geschrieben, im Juli 2003 war dieser Roman erschienen, der heftige Liebesrausch war verflogen, denn so ist es ja mit dem Schreiben bestellt, durch das tägliche, langjährige Schreiben verwandelt sich jeder anerlebte und durchlebte Rausch in einen Schreibrausch, der nach getaner Arbeit in eine ungeheure Leere übergeht, die es dann wieder mit laufendem Notieren zu füllen gilt."
(S. 145)

Der Lektor Klaus Siblewski nähert sich der Fragestellung "Wie Romane entstehen" in der zweiten Hälfte des Buches auf weit nüchternere Weise. Für ihn sind "Schreiben und Veröffentlichen" von vornherein nicht zu trennen. Da der Lektor ohne den Autor nichts ist, viel stärker als umgekehrt, obwohl gemeinhin oder aus gegenseitiger Höflichkeit ein symmetrisches Verhältnis unterstellt und attestiert wird, folgert Siblewski, wenn auch aus seiner Profession nachvollziehbar, so doch nicht zwingend: "Ein Roman, der nicht veröffentlicht wurde, ist keiner". 253

Auch das Moment der poetischen Vision sieht der Lektor realistischer:

"Es geht darum herauszufinden, von welcher poetischen Substanz die erste Romanvision des Autors ist. Besitzt sie überhaupt die Qualität einer Romanvision oder handelt es sich bei dem, was der Autor präsentiert, nicht um Ideen, von denen er viele haben kann und die sich aus einem nur schwer nachvollziehbaren Grund als hartnäckiger als andere, längst untergegangene und nicht wieder aufgetauchte Ideen zeigen. [...] Und das ist umso wichtiger, da in dieser Phase eine schwer wiegende Entscheidung getroffen wird, ob der Autor seinen Einfällen weiter nachgehen soll, oder sich besser ein anderes Projekt zur weiteren Ausarbeitung sucht."
(S. 162)

Den gesamten Entwicklungsprozeß begleitet der Lektor, wie Siblewski anläßlich einer Veranstaltung zum Thema und zum Buch im Hamburger Literaturhaus im Januar 2009 erklärte, anfangs und während der sensiblen Phase der Entstehung einer Romanidee, indem er einfach da ist, späterhin, wenn der Autor in der Lage ist, über sein Vorhaben zu kommunizieren, als Gesprächspartner und wohlmeinender kritischer Begleiter.

In einem Gespräch mit dem Schattenblick sagte Klaus Siblewski, das Verhältnis von Autor und Lektor sei "heutzutage von beiden Seiten aus professioneller geworden, das heißt, jeder bringt deutlichere Vorstellungen mit", was eine notwendige Anpassung an den Buchmarkt sei.

"Damit sind wir aber an einem heiklen Punkt angekommen: Schleichen sich nicht, wenn Autoren beide Vorgänge miteinander verwoben sehen, vollkommen unkünstlerische Denkweisen, nämlich aus der Verwertung von Romanen herrührende Überlegungen, in die literarische Vorstellungswelt eines Autors hinein und vermengen sich dort mit literarischen Überlegungen auf unstatthafte Weise - also zum Schaden des Romans?"
(S. 155/156)

Ging es in der Zusammenarbeit von Autor und Lektor früher um intellektuelle Verwandtschaft und einfühlsame Zusammenarbeit, zähle nun das Budget des Verlages.

Wenn auch die Teile der beiden Verfasser etwas beziehungslos aneinandergereiht sind und nicht den Eindruck vermitteln, als habe hier eine Austausch und eine intensive Zusammenarbeit stattgefunden, beantwortet das Buch doch einige der Fragen, die man an den Entstehungsprozeß von Romanen haben könnte, es strukturiert den Vorgang des Schreibens und macht ihn transparenter. Nicht allerdings ohne darauf zu verzichten, den Mythos vom Genius des Künstlers neu zu bedienen.

Selbstverständlich ist Schreiben Arbeit. Es kostet Mühe, geht nicht ohne Krisen ab. Aber darin unterscheidet es sich nicht von anderen handwerklichen Tätigkeiten. Zweifelsohne ist Empathie nötig - wie bei allen Dingen, denen man sich mit dem Blick auf ein gutes Ergebnis über einen längeren Zeitraum widmet. Der Impuls muß aber nicht von außen, aus dem Stoff kommen, den Autor quasi überfallen und ihn gefangen nehmen, sondern kann sehr wohl dem Entschluß des Autors entspringen, sich für dieses oder jenes Thema einzusetzen und stark zu machen. Das schließt eine Art Eigenleben des Schreibvorganges, ohne ihn als Adoption des Autors durch den Stoff zu mystifizieren, nicht aus, sondern ganz bewußt mit ein.

Wollte man das Buch an dem von Siblewski formulierten Anspruch messen, jeder Satz "muss zu etwas gut sein" (S. 233), hinterläßt die Lektüre eine Menge Fragezeichen. Man liest, um in den Worten des Lektors zu bleiben, mit Sympathie und Argwohn. Sympathie, weil man die Qual und Empfindlichkeit des kreatürlichen Prozesses zutiefst nachvollziehen kann, Argwohn deshalb, weil sich hinter dem Anspruch auf einen unvergleichlichen Raum die ganz spezifische Einsamkeit oder Anstrengung des Schreibens als der banale Antrieb aller Mühen verbergen könnte.

9. April 2009


Hanns-Josef Ortheil, Klaus Siblewski
"Wie Romane entstehen"
2008 Luchterhand Literaturverlag GmbH, München
ISBN 978-3-630-62111-1
Paperback, 283 Seiten, 10,00 EUR