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REZENSION/462: Thomas Hecken - 1968 (SB)


Thomas Hecken


1968

Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik



Faßt man Geschichte als vollzogene Kodifizierung der Herrschaftssicherung auf, erweist sie sich als Ansammlung geronnener Spuren der Sieger, die aller Welt ihre Deutung des Triumphs aufzwingen. Daraus ergibt sich freilich auch, daß man demselben Interpretationsmuster nachträglicher Rekonstruktion unterliegt, wollte man einer Geschichte der Kaiser, Könige und Kriegsherrn jene des einfachen Volkes in dem Wunsch gegenüberstellen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Im Prozeßverlauf sich unablässig qualifizierender Auseinandersetzungen um den für gültig erachteten Gesellschaftsentwurf eine objektive Sicht zu fordern, gliche dem illusorischen Versuch, inmitten des Schlachtgetümmels die Warte eines unbeteiligten Zuschauers einzunehmen, der mit Muße erbsenzählend nicht nur den aktuellen Stand notiert, sondern mit diesem Register gleichsam alle maßgeblichen Bestimmungsstücke historischer Definitionsgewalt in Dienst gestellt zu haben glaubt.

Im Jubiläumsjahr auf 1968 zurückzublicken - jene Zeit euphorischer Kritik, um mit Thomas Hecken zu sprechen -, wird in aller Regel der erklärten oder insgeheimen Absicht geschuldet sein, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder zu bewältigen, also der letzten verbliebenen Ahnungen einer fundamentalen Widerspruchslage zu berauben. Während die einen das Werk regelrechter Geschichtsfälschung betreiben, indem sie instinktsicher den Zeitgeist hofierend die Erklärungshoheit an sich reißen und zur Glaubenskongregation avancieren, schwören die andern voller Inbrunst jedem Anflug ungestümen Aufbegehrens ab, von dem sie seinerzeit infiziert gewesen sein mochten. Jugendsünden will man schon begangen haben, um nicht als ewiger Duckmäuser dazustehen. Zugleich ist man stets und vor allem darauf bedacht, den Persilschein der Beichte und Absolution einem Banner gleich vor sich herzutragen. Einsicht, Reife und eine Prise Reue haben zielstrebig auf den rechten Weg zurückgeführt, den man, wenn man's recht bedenkt, doch im Grunde nie verlassen hat.

Kein Wunder, daß dabei ein fader Brei verrührt und verkocht wird, der bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verfremdet, was seinerzeit einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft ergriffen und beflügelt hat. So vielfältig, differenziert und nie unter einen Hut zu bringen die damalige Bewegung gewesen sein mag, zeichnete sie doch eine um sich greifende Aufbruchstimmung aus, die man vor allem in der erreichten Konsequenz und Tragweite heute nicht einmal mehr als bloße Erinnerung dulden will. Aus der Vergangenheit lernen, heißt, ihre Fehler nicht zu wiederholen: Folglich gaukelt man der jüngeren Generation ein Geschichtsbild als authentisch vor, das in durchgesetzter Denkkontrolle von Qualitäten widerständigen Geistes gesäubert ist, der im Kontext innovativer Herrschaftssicherung als fehlerhaft klassifiziert und ausgegrenzt wurde.

Wie Thomas Hecken geltend macht, muß man von einem unbekannten 1968 ausgehen, obgleich Fernsehen, Nachrichtenmagazine und die Feuilletons großer Zeitungen jeden sich bietenden Anlaß einer Retrospektive genutzt und spektakuläre Bilder aus dem Archiv geholt oder die Protagonisten der Vergangenheit portraitiert haben. Da alle Umschwünge innerhalb der vorherrschenden Meinung damit einhergingen, die Einschätzung zur Bedeutung von 1968 neu zu fassen, ist es zu deren fortgesetzter Revision gekommen. Einem vereinnahmenden Sprachgebrauch ist es sogar gelungen, die sozial-liberale Aneignung von 1968 begrifflich zu parodieren und auszulöschen. Verstand man unter Reform in den 1970er Jahren noch die Überwindung historisch benennbarer konservativer Satzungen und Pflichtvorstellungen, so wurde der Begriff unter neoliberalem Einfluß zu einem leeren Zeichen des Aufbruchs, die heute jede Änderung bezeichnet, welche die Renditen der Kapitaleigner zu verbessern scheint. Als konservativ gilt nun alles, was sich der geforderten Flexibilität widersetzt und damit die schrankenlose Verwertung bestreitet.

Stärker noch als die ehemaligen Opponenten haben indessen die Berichte und nachträglichen Urteile von ehemaligen 1968ern und heutigen Linken und Sozialliberalen dazu beigetragen, ein verzerrtes Bild vergangener Haltungen und Ziele zu zeichnen. Neben den Einschätzungen von Renegaten sind es nicht zuletzt zahllose Apologeten, die ihre damalige Einstellung rückblickend zur allgemeinen Leitlinie erklären. Allzu häufig werden die Erinnerungen von dem "Bedürfnis nach Rettung, Rechtfertigung, persönlicher Darstellung, anekdotisch-biographischer Einordnung, Selbstkritik, nachträglicher Uminterpretation, origineller Beleuchtung und öffentlicher Bekräftigung oder Reuebekundung geprägt", wie der Autor darlegt.

Viele rückblickende Zeitungsartikel, aber auch einige Abhandlungen in Buchform bieten bestenfalls Karikaturen oder schlichte Erlebnisschilderungen der Ereignisse von 1968. Menschlich allzu verständliche, zweitrangige psychologische Erkundungen oder Verdächtigungen wechseln dabei mit vorgeblich individuellen Berichten bzw. selektiven Erinnerungen weitgehend allgemein bekannter Geschehnisse. Die Kritik oder Legitimation mancher Thesen oder besonders einprägsamer Slogans überlagert oftmals die wünschenswerte genaue, umfangreichere Rekapitulation, was im Zusammenhang gedacht und gesagt wurde. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker ergeht man sich in teilweise bedenkenswerten, häufig aber tendenziös, assoziativ und theoretisch überfrachteten Betrachtungen, welche diskreditierten Ursachen oder ideologischen Vorläufer 1968 bestimmt haben bzw. welche späteren Folgen es nach sich gezogen hat. Spekulationen treten in so hohem Maße an die Stelle der viel sachgerechter zu bewerkstelligenden Analyse, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und getan worden ist.
(S. 9/10)

Die aus dieser Verfremdung, Umdeutung und Ausblendung resultierende Unkenntnis ist um so mißlicher, als es sich um einen Zeitabschnitt handelt, dessen Protagonisten in bemerkenswertem Maße den politischen Diskurs entwickelten und pflegten, um ihre Auffassungen und Handlungen zu begründen und zu dokumentieren. Im Jahr 1968 war das Bestreben ungewöhnlich stark ausgeprägt, auf hohem Abstraktionsniveau über die eigenen Absichten Auskunft zu geben und insbesondere auf ein breites Spektrum klassischer Abhandlungen Bezug zu nehmen.

Dabei waren diese öffentlich diskutierten und schriftlich niedergelegten Überlegungen keineswegs bloßes Beiwerk der Bewegung, sondern im Gegenteil ein zentraler Antrieb und eine unverzichtbare Hilfe, um die veränderte gesellschaftliche Praxis in wechselseitiger Befruchtung mit dem politischen Diskurs zu verbinden und voranzutreiben. Äußeren Ausdruck fand diese Präsenz der Reflexion in einer Flut an Flugblättern, Zeitschriften und Raubdrucken wie auch heute unvorstellbarer Auflagenhöhen anspruchsvoller soziologischer und politischer Titel.

Die Euphorie, mit der die Kritik an den herrschenden Verhältnissen vorgetragen wurde, verdankte sich in hohem Maße der Hoffnung, alles könne sich in einem raschen Bruch zum Besseren wenden. Theoretisch hergeleitete, politisch anspruchsvolle Programme erregten so große öffentliche Aufmerksamkeit, daß selbst die Kritiker auf diese Aufbruchstimmung Bezug nahmen und die Ablehnung ihrerseits mit einer Fülle an Publikationen vortrugen.

Obgleich man es also mit einem ungewöhnlich prägnanten Abschnitt der jüngeren Geschichte zu tun hat, der wie kaum ein anderer seinen Niederschlag in schriftlich fixierten Auseinandersetzungen gefunden hat, erstaunt der eklatante Mangel an eingehenden Darstellungen wichtiger Texte und Abhandlungen jener Zeit. Es fehlt keineswegs an Quellen, wohl aber an der Bereitschft, sich mit ihnen intensiv zu befassen und kritisch auseinanderzusetzen. Da insbesondere die Sozial- und Geisteswissenschaften in ihrer älteren Generation die Schule von 1968 selbst durchlaufen haben, läßt dieses auffällige Desinteresse an jener Phase der eigenen Lebensgeschichte, die oftmals von Begeisterung und Mut zur Veränderung geprägt war, mindestens auf Überdruß und Scham, doch letztlich auf politische Kehrtwendungen schließen, die frühere Überzeugungen leugnen oder verwerfen.

Mit seinem essayistisch knapp gehaltenen Band trägt Thomas Hecken dazu bei, diese Lücke zu schließen, wobei er eine Synthese anstrebt, die durch ausgewählte Beispiele wesentliche Argumentationslinien und Entwürfe gesellschaftlicher Veränderung in einer Zusammenschau darstellt wie auch Unterschiede zwischen einzelnen Strömungen herausarbeitet. Ist dieses Konzentrat schon für sich genommen höchst lesenswert, so eröffnet eine Fülle von Quellenverweisen darüber hinaus den Zugang zu fundierten wissenschaftlichen Studien und nützlichen Anthologien, die aus der seither angestrengten Verfremdung und Verzerrung auf die ursprüngliche Widerspruchslage zurückführen.

Dabei verzichtet der Autor ausdrücklich darauf, sich dem geforderten Bekenntnis zu einer politischen und moralischen Haltung zu fügen und der Verlockung zu erliegen, im damaligen Kontext längst vorgenommene Wertungen mit einer weiteren auf Eigenständigkeit bestehenden Einschätzung übertrumpfen zu wollen. Daß er es dem Leser überläßt, sich ein eigenes Bild zu machen, muß kein Manko sein, zumal er mit seiner Präsentation die Voraussetzungen dafür bereitstellt, es nicht beim müßigen Streit um ein zutreffendes Geschichtsbild zu belassen, sondern den preisgegebenen Faden an den Schnittstellen abgebrochener Frageentwicklung wieder aufzugreifen.

14. November 2008


Thomas Hecken
1968
Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik
transcript Verlag, Bielefeld 2008
179 S.
ISBN 978-9-89942-741-7