Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/352: Chen & Wu - Zur Lage der chinesischen Bauern (SB)


Chen Guidi & Wu Chuntao


Zur Lage der chinesischen Bauern

Eine Reportage



Zwei Entwicklungen sind es, welche die Geopolitik des angebrochenen 21. Jahrhunderts maßgeblich prägen: zum einen der von den USA nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 ausgerufene, "globale Antiterrorkrieg" einschließlich des Einmarschs des Westens in Afghanistan und den Irak sowie der sich scheinbar stets vertiefenden Feindschaft zwischen der islamischen und jüdisch-christlichen Welt, und zum anderen der beeindruckende Wiederaufstieg Chinas, das nach zwei Jahrhunderten voller Erniedrigungen und Wirrungen im neuen Glanz erstrahlt. Wie weit die Volksrepublik die Rolle der Werkbank der Welt übernommen hat, läßt sich anhand der ständig steigenden Rohstoffpreise messen. Inzwischen hat die Wirtschaft Chinas von der Höhe des Bruttosozialprodukts her die Wirtschaft Kanadas, Italiens, Großbritanniens und Frankreichs überholt und rangiert bereits gleich hinter den USA, Japan und Deutschland an vierter Stelle. Im September dieses Jahres hat die Volksrepublik, was die Menge an ausgeführten Gütern betrifft, die USA erstmals hinter sich gelassen und hat nur noch den Exportweltmeister Deutschland vor sich.

Hält der Wirtschaftsboom in China mit jährlichen Wachstumsraten von rund zehn Prozent noch länger an, so rechnen Experten, hat das Land mit der ältesten Zivilisation der Welt, das schon zu Zeiten von Marco Polo und Christoph Columbus technologische Spitze war, die USA in rund zwanzig Jahren als ökonomisch wichtigste Nation der Welt abgelöst. Skeptiker dagegen glauben nicht, daß die USA ihre Führungsposition ohne Streit abgeben werden, und gehen - unter Verweis beispielsweise auf die strategische Annäherung zwischen Amerika und Indien - von einer über kurz oder lang unvermeidlichen, militärischen Auseinandersetzung zwischen Peking und Washington aus, die mindestens so verheerende Auswirkungen haben dürfte wie der Konflikt zwischen dem schwächelnden British Empire und dem emporsteigenden Deutschen Reich, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Menschheit bekanntlich zwei Weltkriege mit all ihrem Leid und ihrer Zerstörung bescherte. Den Anlaß zu einem solchen Inferno könnte der Dauerdisput um den Status der Insel Taiwan liefern, die zwar völkerrechtlich zu China gehört, jedoch von den USA seit 1949 als eigenes Protektorat behandelt wird. Sieht man das aktuelle Ringen amerikanischer und chinesischer Konzerne um Zugang zu den fossilen Energieressourcen von Ländern wie dem Irak, dem Iran, Kasachstan, Nigeria, Rußland, dem Sudan und Venezuela, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, unter der Oberfläche sei der Krieg zwischen der alten und der neuen Supermacht längst ausgebrochen.

Wie es mit China, dessen Schicksal inzwischen die ganze Welt tangiert, weitergeht, hängt nicht zuletzt von der gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der Volksrepublik selbst ab. Vor welchen herkulischen Herausforderungen und Schwierigkeiten das bevölkerungsreichste Land der Erde steht, geht aus dem Buch "Zur Lage der chinesischen Bauern - Eine Reportage" von Chen Guidi und Wu Chuntao sehr anschaulich hervor. In China haben rund 400 Millionen Menschen, überwiegend Stadtbewohner, das, was man vielleicht den Sprung in die Moderne bezeichnen könnte, geschafft, während rund 900 Millionen Bauern weiterhin quasi in feudalistischer Armut leben. Diese gemeinen Bauern, seit Jahrtausenden ohnehin das Rückgrat der chinesischen Gesellschaft, sind es, deren Steuern in Billiardenhöhe den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik mit all den glitzernden Prachtbauten in Städten wie Shanghai und Shenzen bis heute finanzieren und letztlich subventionieren, ohne daß die Menschen auf dem flachen Land selbst allzuviel Nutzen davon hätten.

Diese erdrückende, steuerliche Überbelastung der Landbevölkerung im modernen China steht im Mittelpunkt der vorliegenden Lektüre. Animiert von einer Reihe von spektakulären Vorfällen, bei denen es zu heftigen Bauernprotesten gegen Korruption und Machtmißbrauch seitens örtlicher Kader der Kommunistischen Partei gekommen war, bereisten Chen und Wu ab 2001 drei Jahre lang die Provinz Anhui, wo sie mit Tausenden einfachen Bauern und Lokalpolitikern sprachen, und fuhren zudem in die Hauptstadt Peking, um hohe Repräsentanten des Partei- und Staatsapparats zu interviewen. Anhui, in dessen Hauptstadt Hefei Chen und Wu selbst leben, ist nicht nur traditionell eine der wichtigsten Nahrungsmittelproduzentinnen Chinas, sondern auch die Provinz, wo man in den neunziger Jahren mit ersten zaghaften Pilotprojekten zur Verringerung der unerträglich gewordenen Steuerlast der ländlichen Bevölkerung begonnen hatte. Nicht zuletzt wegen der schwierigen Umstellung war es in Anhui zu Konfrontationen zwischen Bauern und den staatlichen Steuereintreibern gekommen.

Chen und Wu schildern diese zum Teil erschütternden Vorfälle in großer Eindringlichkeit. Dem Autorenpaar ging es jedoch nicht darum, örtliche Kader der Kommunistischen Partei anzuprangern, denn wie sie selbst anmerken, üben die allermeisten von diesen ihre Funktionen gewissenhaft und nach besten Kräften aus, sondern die strukturbedingten Probleme der chinesischen Gesellschaft aufzuzeigen und zu analysieren. Als Vorbild folgten Chen und Wu nach eigenen Angaben dem großen Revolutionsführer Mao Zedong, der sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Provinzen Hunan und Jiangxi begeben und anschließend über die Lage der Bauern dort eine Reihe von Untersuchungsberichten veröffentlicht hatte, die seinen späteren Ruhm begründen sollten. Wie der Zufall es will, entwickelte sich Chens und Wus Reportage nach einem ersten Vorabdruck in der Zeitschrift Dangdai (Gegenwart) Ende 2003 und der Veröffentlichung als eigenständige Publikation durch den staatlichen Volksverlag in Peking Anfang 2004 zum meistverkauften Buch der chinesischen Geschichte nach der Maobibel.

Im Oktober 2004 wurde dem Ehepaar Chen und Wu in Berlin für "Zur Lage der chinesischen Bauern" der mit 50.000 Euro dotierte Lettre Ulysses Weltpreis für literarische Reportage verliehen. In der Zwischenzeit jedoch war daheim in China der Vertrieb ihres Buchs - von dem es in der Volksrepublik schätzungszweise mehr als acht Millionen Raubkopien geben soll - eingestellt worden. Inwieweit dieser Schritt auf die Staatsführung in Peking zurückgeht, ist unklar. Fest steht jedoch, daß das Buch Gegenstand eines heftigen Rechtsstreits wurde und aufgrund einer richterlichen Anordnung nicht mehr veröffentlicht werden durfte. Zhang Zide, dessen brutaler und ruchloser Willkürherrschaft als Sekretär des Kreiskomitees Linquan ein ganzes Kapitel des Buchs gewidmet ist, sah sich von Chen und Wu verleumdet, klagte und bekam im März 2005 von einem Gericht der Bezirkshauptstadt Fuyang, wo er heute als führender Regierungsberater arbeitet, Recht. Chen und Wu wurden schuldig gesprochen und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Dafür wurden sie beim ersten Besuch Angela Merkels als Bundeskanzlerin im Mai 2006 in China zu einem Stelldichein in die deutsche Botschaft in Peking eingeladen.

Es wundert einen nicht, daß die Reportage "Zur Lage der chinesischen Bauern" zu einem Politikum geworden ist, denn ihr Inhalt berührt ganz wesentliche Teile des volksrepublikanischen Gesellschaftssystems, die in eine Krise geraten sind, deren Lösung der Quadratur des Kreises gleichkäme. Im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen in China machte man sich in den neunziger Jahren Gedanken, wie die Steuern für die Bauern gesenkt werden konnten, damit es auf dem Land nicht zur Explosion kam. Doch bei den ersten Pilotprojekten in Anhui stellte man fest, daß Vereinfachung und Vereinheitlichung des Steuersystems die Bauern zwar entlasteten, dafür aber große Lücken in den Haushalten der Gemeinde- und Bezirksverwaltungen rissen. Weniger aus reiner Raffgier, sondern vielmehr aus der berechtigten Angst um die eigene Existenz heraus wehrten und wehren sich bis heute Teile des ländlichen Partei- und Staatsapparats gegen die Steuerreform.

In den letzten Jahren ist viel über die Lage der über einhundert Millionen Wanderarbeiter, die in den chinesischen Großstädten unter erbärmlichsten Bedingungen leben und arbeiten müssen, berichtet worden. Nach Erkenntnissen von Chen und Wu gibt es jedoch eine versteckte Arbeitslosigkeit auf dem Land in China, wobei die Zahl der Betroffenen die der Wanderarbeiter bei weitem übersteigt. Wo sollen all diese Menschen nur hin? Eine Erhöhung der Produktivität der chinesischen Agrarwirtschaft könnte diese ohnehin gigantische Landflucht, welche die Staatsführung in Peking irgendwie bewältigen muß, verstärken. Im Bewußtsein des Ausmaßes der Problematik plädieren Wen und Chu gegen die weitere Verstädterung und für eine Aufhebung der Land-Stadt-Dichotomie sowie eine stärkere Entwicklung der bisher vernachlässigten ländlichen Gebiete, um die Bevölkerung dort sinnvoll zu binden. Angesichts der ohnehin großen Umweltprobleme in China - siehe die rasante Versteppung nordöstlich von Peking -, die sich infolge des Treibhauseffektes verschärfen werden, kommt die Regierung in Peking nicht umhin, andere Entwicklungswege als die des westlichen Modells gehen zu müssen (Ein Blick auf die Situation in Indien, dessen Landwirtschaft etwas länger den Marktregeln der Welthandelsorganisation ausgesetzt gewesen ist und wo gerade in den letzten Jahren mehr als 100.000 überschuldete Kleinbauern sich aus Verzweiflung das Leben genommen haben, beweist dies). Seit 2004 werden deshalb beispielsweise staatlicherseits Umweltfaktoren bei der Berechnung des chinesischen Bruttosozialprodukts berücksichtigt.

An der chinesischen Führungsspitze wird erbittert um die Zukunft des Landes gekämpft, wie der jüngste, spektakuläre Korruptionsskandal in Shanghai zeigt. In ihrem Buch schildern Chen und Wu die Bemühungen der Pekinger Führung, den 1,3 Milliarden Volkschinesen Sicherheit und Wohlstand zu gewährleisten. Der Leser bekommt einen guten Einblick, wie der chinesische Staat funktioniert und auf welchen Wegen die wichtigsten Persönlichkeiten der Gegenwart wie Premierminister Hu Jintao und Staatspräsident Wen Jiabao Karriere gemacht haben. Anders, als man vielleicht im Westen meint, sind das keine Parteibonzen, die sich niemals aus ihren Amststuben herausbegeben, sondern moderne Politiker, die sich unters Volk trauen und ständig versuchen, sich ein Bild von der tatsächlichen Lage zu machen. Darüber hinaus ist der gesamte Text des Buchs voller Anspielungen und Verweise auf Episoden aus und Parallen in der chinesischen Geschichte und Mythologie, die allesamt in den Fußnoten ausgiebig erklärt werden und dadurch dem Leser einen interessanten Einstieg in die chinesische Kultur bieten. Befördert wird dieser Aspekt von der erstklassigen Übersetzung Hans Peter Hoffmanns, der viele Redewendungen wörtlich wiedergibt und einen den Reichtum der chinesischen Sprachwelt erahnen läßt.

05.10.2006


Chen Guidi & Wu Chuntao
Zur Lage der chinesischen Bauern
Eine Reportage
Zweitausendeinsverlag, Frankfurt am Main, 2006
600 Seiten
ISBN-10: 3-86150-765-X
ISBN-13: 978-3-86150-765-9