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REZENSION/341: Strizek - Geschenkte Kolonien (Ruanda und Burundi) (SB)


Helmut Strizek


Geschenkte Kolonien

Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft



Deutschland und eine eigene Kolonialgeschichte? Die war doch wohl unbedeutend. Haben nicht europäische Mächte wie England oder Frankreich viel weitreichender andere Länder erobert und an sich gebunden? Auf diese verkürzte Sichtweise des deutschen Kolonialismus trifft man selbst im politischen Diskurs allzu häufig. Die Aufarbeitung des Expansionsstrebens des deutschen Kaiserreichs zwischen 1888 und 1914 fristet seit Jahr und Tag ein Nischendasein.

Es gibt mehrere Gründe, warum Deutschland häufig nur bedingt zu den traditionellen Kolonialmächten gezählt wird: Erstens gab es den Staat Deutschland zu einer Zeit noch nicht, als sich andere europäische Länder bereits Jahrhunderte zuvor Kolonien angeeignet hatten. Zweitens war Deutschland keine typische Seemacht, sondern eher kontinental orientiert. Wozu überseeische Territorien anstreben, wenn gen Osten eine riesige Landmasse vermeintlich nur auf ein Bündnis oder gegebenenfalls die Eroberung wartete?

Drittens ist die deutsche Kolonialzeit weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden, weil sie durch besondere Umstände abgebrochen wurde. Die deutschen Kolonialherren hatten sich der gleichen Formen der Unterwerfung, das heißt der Nutzbarmachung menschlicher Arbeitskraft, bedient wie beispielsweise das British Empire oder die Grande Nation. Der Erste Weltkrieg endete mit der Niederlage des Deutschen Reichs und dem Verlust seiner Kolonien. Was allerdings nicht bedeutete, daß anschließend eine innere Abkehr vom kolonialistischen Denken Einzug gehalten hätte.

Der Ch.Links Verlag, der die Wahrnehmungslücke in der deutschen Öffentlichkeit über die eigene koloniale Vergangenheit erkannt hat, bemüht sich seit mehreren Jahren darum, sie mit seiner Reihe "Schlaglichter der Kolonialgeschichte" zu schließen. Für den inzwischen vierten Band, "Geschenkte Kolonien. Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft", wurde der Afrika-Experte Helmut Strizek als Autor gewonnen. Dieser hatte seine Doktorarbeit über Ruanda und Burundi geschrieben und war zwei Jahre lang im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ressortleiter für diese beiden Länder. Außerdem war er Mitglied einer Delegation der Europäischen Gemeinschaft in Ruanda. Dieser fachliche Hintergrund schlägt sich in Inhalt und systematischem Aufbau des vorliegenden Buchs deutlich nieder. Ein rund 50 Seiten umfassender Anhang, der neben zahlreichen Anmerkungen und einem Literaturverzeichnis auch biographische Notizen zu ausgewählten Personen, eine Zeittafel und diverse Register enthält, erleichtert dem Leser sowohl das Zurechtfinden im Text als auch die übergreifende Einordnung des in dem Buch belichteten Zeitfensters.

Ruanda und Burundi (früher: Urundi) wurden dem Deutschen Reich "geschenkt", weil sie bei der Aufteilung Afrikas durch die europäischen Mächte auf der Kongo-Konferenz 1884/85 in Berlin übriggeblieben waren - also wurden sie dem Gastgeber überlassen, dem es ein inniges Anliegen zu sein schien, mehr Einfluß in Afrika zu gewinnen. Während das Interesse des Kaiserreichs an Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) stark ausgeprägt war, was die dort lebenden Nama und Herero leidvoll erfahren mußten, fand der nordwestliche Teil Deutsch-Ostafrikas zunächst wenig Beachtung. Strizek schildert, wie erst zehn Jahre nach der "Übereignung" eine 600 Mann starke Expedition unter Leitung Gustaf Adolf Graf von Götzens von der afrikanischen Ostküste aus ins Landesinnere aufbrach und die Lage im Gebiet der Großen Seen auskundschaftete, ohne daß die Bewohner über die auf sie zukommenden Herrschaftsansprüche eines Kaisers Wilhelm, der in unvorstellbarer Ferne residierte, aufgeklärt werden sollten.

Am 30. Mai 1894 traf Götzen am nördlichen Ende des Kivu-Sees mit dem ruandischen König Kigeri IV. zusammen, wobei er sich offenbar grob und gewaltsam Zutritt zu dessen herrschaftlicher hochgewachsenen König, vor allem aber von dessen strenger Führung, beeindruckt. Strizek faßt Götzens Überlegungen zum weiteren Vorgehen wie folgt zusammen:

Hier könne man einen starken Partner finden, wenn dieser bereit sei, mit den Deutschen zu kooperieren. Dem König zu suggerieren, dass eine künftige Zusammenarbeit im beiderseitigen Interesse sei, war schließlich die Absicht der Besucher. Um die Macht der Deutschen und ihrer Feuerwaffen zu zeigen, ließ Götzen gleichzeitig einen Schuss aus allen vorhandenen Gewehren abfeuern - eine Demonstration, die die gewünschte Wirkung auch nicht verfehlte. (S. 69)

Die Begünstigung eines Königs gegenüber anderen in der Region lebenden Häuptlingen sollte zum bestimmenden Moment der "indirekten Herrschaft" werden, wie sie auch von anderen Kolonialmächten in Afrika praktiziert wurde und heute noch in modifizierter Form vielerorts wiederzufinden ist. Götzen, der 1901 zum Gouverneur der beiden deutschen Kolonien ernannt wurde, führte kurz vor seinem Abschied 1906 ein Residentursystem ein. Teile und herrsche - dieses menschheitsgeschichtlich uralte Prinzip konnte deshalb greifen, weil sich die afrikanischen Stämme untereinander befehdeten und somit gegeneinander ausspielen ließen.

Abgesehen von der militärischen Präsenz deutscher Soldaten und ihrer Hilfstruppen bemühten sich auch die katholische und die evangelische Kirche um Einflußgewinn in Ruanda und Burundi, wobei sich die Weißen Väter des Afrikamissionsordens weitgehend gegenüber ihrer protestantischen Konkurrenz durchsetzten. Der Missionierung räumt Strizek ein eigenes Kapitel ein, wohl auch deshalb, weil sie über die zwei, drei Jahrzehnte währende deutsche Kolonialzeit hinaus weitergeführt wurde und einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Von Anfang an war die Missionierung ein wichtiger Teil des kolonialen Projekts, die Priester stellten gewissermaßen die Vorhut der Deutschen dar und lieferten der Gouverneursverwaltung wichtige Informationen. Darüber hinaus verfolgten die Kirchenvertreter auch eigene Ziele.

In seinem abschließenden Essay "Ruanda und Urundi nach 'deutscher Zeit'" zeichnet Strizek die Entwicklung dieser Länder bis in die Gegenwart nach, wobei angenehm auffällt, daß sich der Autor bei dem brisanten Thema Ruanda-Genozid, der sich zwischen April und Juli 1994 zutrug und schätzungsweise 800.000 Ruander das Leben kostete, nicht ins gleiche Horn wie jene stößt, die ausschließlich in den Hutu die Bösen und den Tutsi die Guten zu erkennen glauben. In solche Schwarz-weiß-Malerei zu verfallen hat Strizek offensichtlich nicht nötig, er weiß sehr wohl einzuschätzen, daß der Genozid kein singuläres Ereignis in der Geschichte dieser Region an den Großen Seen Afrikas war und weder eine einseitige Schuldzuweisung noch eine Relativierung der Greueltaten zum Verständnis der heutigen Situation beitragen kann. Strizek bewertet die Lage wie folgt:

Seit dem 16. Juli 1994 ist die Ruandische Patriotische Front und ihre Armee eine alles beherrschende Staatspartei in Ruanda. An ihrer Spitze regiert Paul Kagamé gleichsam 'königlich'. Er ist ein ranghoher Vertreter der Hochadelsfamilie der Ega, die 1912 zusammen mit König Musinga von den Deutschen gegen Autonomiebestrebungen im Norden Ruandas militärisch gerettet worden ist. So schließt sich ein historischer Kreis. Auch 1994 hätte der Ega-Führer Paul Kagamé ohne westliche - auch deutsche - Unterstützung die Macht nicht zurückerobern können, die die Dynastie bei demokratischen Wahlen 1961 verloren hatte. Eine friedliche Zukunft auf Basis eines nationalen Konsenses lässt sich unter einer derartigen Herrschaft allerdings nur schwer denken. (S. 171)

Solche Aussagen wären, in Ruanda abgegeben, politischer Sprengstoff und würden mit hoher Wahrscheinlichkeit als Schüren "ethnischen Hasses" schwer geahndet. Und selbst hierzulande gilt Kagamé (häufige Schreibweise: Kagame) zumeist als der Retter der Tutsi. Der Sieg Kagamés und seiner RPF über die Völkermörder der Hutu-Milizen ist zwar unstrittig, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Der damalige Rebellenführer wird verdächtigt, den Befehl zum Abschuß des Flugzeugs mit den Präsidenten Ruandas und Burundis befohlen zu haben. Nur wenige Stunden nach dem Attentat setzte das Meucheln ein. Darüber hinaus konnten es Kagamé und seine Protegés in Washington, New York, London und Berlin verhindern, daß das im November 1994 vom UN-Sicherheitsrat initiierte und noch heute tätige Ad-hoc-Tribunal für Ruanda auch nur Vorermittlungen hinsichtlich mutmaßlicher Massaker seitens der RPF an der ruandischen Bevölkerung durchführt.

Die Geschichte der Kolonialherrschaft des Deutschen Reichs wird sicherlich niemals ein massenwirksames Thema werden. Es gewinnt allerdings vor dem aktuellen Hintergrund der Entsendung von Bundeswehrsoldaten in die Demokratische Republik Kongo an Aktualität, schließlich stellt sich einst wie heute die Frage, welche Interessen die deutsche Regierung mit solchen transkontinentalen Übergriffen verfolgt. Und wenn auch die genaue Kenntnis darüber, ab welchem Zeitpunkt welche Missionare in Burundi oder Ruanda wo Fuß gefaßt oder wann deutsche Expeditionen welchen Häuptling unter welchen Umständen zum Tode verurteilt haben, vordergründig nicht auf die heutige Zeit übertragbar scheint, so fanden diese historischen Ereignisse doch in einem gesellschaftlichen Kontext statt, wie er so sehr verschieden von heute auch nicht war. Drückt sich doch beispielsweise in dem Anspruch, Wahlen in einem afrikanischen Staat beobachten und den Ablauf sicherstellen zu wollen, die gleiche Überzeugung von der eigenen Überlegenheit und dem daraus abgeleiteten Interventionsrecht aus, wie sie während der Kolonialzeit vorherrschte.

Zudem sind insbesondere Ruanda und Burundi gute Beispiele dafür, daß Afrika vor der Kolonialzeit keineswegs ein geschichtsloser Raum war. Ohne die präkoloniale Zeit im mindesten verklären zu wollen, bleibt doch festzustellen, daß es sicherlich nicht gegen die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent spricht, daß sie ihre waffentechnischen Künste noch nicht so weit entwickelt hatten, um den europäischen Eindringlingen auf militärischer Ebene dauerhaft Paroli bieten zu können.

Motive und Methoden, mit der Menschen andere Menschen unterjochen, waren stets die gleichen, lediglich die Mittel wurden technologisch erheblich erweitert: Der blutrote Faden spannt sich von der christlichen Seefahrt, die Eroberungen jenseits der Meere erst ermöglichte, bis zur globalen Datenautobahn, die westliche Werte bis in den entlegensten Winkel Zentralafrikas trägt und kulturenüberprägend wirkt; die einstige Strafexpedition zur Sicherung der kolonialen Ordnung findet ihre moderne Konsequenz in der internationalen Friedenstruppe, die eine noch übergreifendere Ordnung durchsetzen soll.

Aber selbst die Fremdbestimmung der kolonialen Herrschaft wirkt freizügig verglichen mit der heutigen globalisierten Weltgemeinschaft, in der nicht nur die beiden afrikanischen Staaten Ruanda und Burundi vergeblich um inneren sozialen Frieden ringen, sind sie doch tief und fest in ein System zwanghaft miteinander konkurrierender Volkswirtschaften eingebunden, das als qualifizierter Form des Kolonialismus zu bezeichnen ist.


Helmut Strizek
Geschenkte Kolonien Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft
Ch.Links Verlag, Berlin 2006
ISBN-10: 3-86153-390-1
ISBN-13: 978-3-86153-390-0


Datum: 19.7.2006