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REZENSION/329: A. Wehr - Das Publikum verläßt den Saal (EU-Politik) (SB)


Andreas Wehr


Das Publikum verläßt den Saal

Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise



Es paßt ins Bild rücksichtslosen "Durchregierens", wenn ausgerechnet die Bundesregierung auf die zügige Vollendung des europäischen Verfassungsprojekts drängt. Daß der Verfassungsvertrag von den Bürgern zweier wichtiger EU-Staaten abgelehnt wurde und in Britannien ohnehin keine Chance auf Zustimmung hätte, kann Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nicht schrecken. Sie wollen die für das in Deutschland angesiedelte Kapital erforderlichen Bedingungen eines autokratisch regierten, zentralistisch strukturierten und imperialistisch expandierenden Europas durchsetzen und bieten sich schon aufgrund der Weigerung, die eigene Bevölkerung an dieser Entscheidung teilhaben zu lassen, als willige Vollstrecker des Plans an, die Europäer über den Löffel zu balbieren.

Angesichts des aufklärerischen Engagements, mit dem eine solide Mehrheit der Franzosen und Niederländer trotz einer medialen und politischen Großkampagne für das Projekt erfolgreich ihr Veto einlegten, bedarf es allerdings einiger kosmetischer Korrekturen, um den angeblich demokratischen und sozialfreundlichen Charakter des Verfassungsvertrags zu unterstreichen. Angestrengt denkt man in den PR-Abteilungen der Regierungen und den Think Tanks der Wirtschaftskonzerne darüber nach, wie man den Europäern das Vorhaben doch noch schmackhaft machen kann, ohne Wesentliches an seinem Gehalt zu verändern. So prägte Steinmeier den Begriff eines "europäischen Sozialraums", müsse man doch Europas soziale Dimension betonen, um insbesondere Frankreichs Wähler von dem Vertragstext zu überzeugen. Außerdem schlug er vor, anstelle des von allen Regierungen inzwischen als gescheitert erachteten Begriffs der "Verfassung" den des "Grundgesetzes" zu nehmen, mit dem man in Deutschland schließlich gut lebe.

Wer sich von Verschönerungsarbeiten an der Stukkatur und semantischen Ablenkungsmanövern nicht täuschen lassen will, der ist gut beraten, sich von dem Juristen und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament, Andreas Wehr, über die Winkelzüge und Abgründe des keineswegs aufgegebenen Plans, eine neoliberale und militaristische Union zu dekretieren, aufklären zu lassen. Wehr hat die Verfassungsdebatte schon mit seinem 2004 erschienenen Buch "Europa ohne Demokratie?" begleitet und analysiert in dem jetzt veröffentlichten Nachfolgewerk "Das Publikum verläßt den Saal" die Folgen der in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Volksabstimmungen.

Er tut dies recht gründlich, indem er zuerst drei immer wieder bemühte Legenden zur Intention des europäischen Verfassungsvertrags demontiert. Die angeblich über die Militarisierung der Union zu erlangende Selbstbehauptung Europas entlarvt er als Vorwand einer von den USA und ihren Verbündeten dominierten Außen- und Sicherheitspolitik, die an der militärischen Aufrüstung und der dominanten Rolle der NATO krankt. Wie Wehr unter Verweis auf das zur Rechtfertigung dieser Politik stets herangezogene Scheitern der EU auf dem Balkan und den innereuropäischen Konflikt um die Unterstützung des Irakkriegs demonstriert, ist das jeweilige Verhältnis der Einzelstaaten zu den USA ein wesentlicher Grund für die innere Zerrissenheit der Union. Eine nicht auf kriegerische Gewalt angewiesene Außenpolitik wird allerdings auch durch die imperialistischen Ambitionen insbesondere der großen EU-Staaten verhindert. Hier ließe sich ergänzend auf die Iranpolitik der EU-3 verweisen, die den USA Angriffsvorwände liefert, anstatt den Konflikt auf die Füße geltenden Völkerrechts zu stellen und auf eine dem Friedenswunsch aller Europäer und nicht nur den Hegemonialinteressen ihrer Funktionseliten angemessene Weise zu entschärfen.

Auch die zweite Legende, laut der der Verfassungsvertrag das europäische Gesellschaftsmodell bewahre, widerlegt der Autor, indem er die strukturellen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, mit Hilfe derer sich Partikularinteressen zu Lasten des Gros der europäischen Bürger durchsetzen, analysiert. Hier steht die Aufdeckung des unzureichenden Charakters der Grundrechtecharta im Mittelpunkt, die auch vielen als links geltenden Politikern ein willkommenes Feigenblatt ist, sich nicht in die unbequeme Position eines Gegners des Verfassungsvertrags begeben zu müssen. Wehr weist nach, daß eine sozialstaatliche Orientierung der EU dort wie in anderen Teilen des Verfassungsvertrags blockiert wird, indem den Interessen der Wirtschaft der Vorzug gegeben oder sie zumindest auf eine Ebene mit den Grundrechten der Bürger gestellt werden.

Auch bei der Demontage der dritten Legende, derzufolge die Europäische Union durch den Verfassungsvertrag demokratischer werde, bedient sich der Autor bei seiner Kritik nicht nur dieses Dokuments, um den machtpolitischen Kern unter der rhetorischen Ummantelung bester Absichten offenzulegen, sondern er macht die zugrundeliegende Intention der Herrschaftsicherung zudem anhand der Kommentare sich links gerierender Verfassungsbefürworter und der politischen Debatte auf europäischer Ebene kenntlich. Dabei widmet er der Behauptung, die im Verfassungsvertrag vorgesehenen institutionellen Reformen stärkten das demokratische und partizipatorische Element der Union, sein besonderes Interesse.

Wie Wehr im Detail nachweist, ändert sich an dem viel beklagten Zustand, daß die EU zwar die Rechte und Kompetenzen der Mitgliedstaaten schwächt, dies aber nicht durch erweiterte Mitbestimmungsmöglichkeiten ihrer Bürger kompensiert, nicht nur nichts. Schlimmer noch, die Ratifizierung des Verfassungsvertrags stärkte die Vormacht der großen EU-Staaten über die mittleren und kleinen Mitgliedstaaten und vergrößerte die Exekutivbefugnisse des Europäischen Rats, des Ministerrats und der EU-Kommission, während das EU-Parlament dauerhaft auf einen der legislativen und die Exekutive kontrollierenden Aufgabe einer Volksvertretung völlig unzureichenden Aufgabenkatalog festgelegt wäre.

Der Autor betont die vorrangige Bedeutung, die der geplanten Reform der EU-Institutionen als Basis politischer Entscheidungsgewalt zukommt, und bemängelt, daß diese Entwicklung im Verhältnis zur Kritik am neoliberalen und militaristischen Charakter des Verfassungsvertrags in Deutschland nicht genügend Beachtung fände. Sein Resümee zur Verfassungsdebatte in der Bundesrepublik fällt ihrem antidemokratischen Charakter gemäß nicht eben positiv aus, auch wenn Wehr das Engagement linker Verfassungsgegner bemüht würdigt. In der Bundesrepublik ist jedoch nur wenig Bewußtsein für den entscheidenden Charakter verfassungsrechtlicher Grundlagen vorhanden, was angesichts der deutschen Tradition, die Bürger nicht am konstitutionellen Prozeß zu beteiligen, nicht verwundern kann.

So wurde beim Anschluß der DDR an den Geltungsbereich des Grundgesetzes systematisch verhindert, daß dem in seiner Präambel erteilten Auftrag, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", nachgekommen wurde. Insofern, als daß Art. 146 des Grundgesetzes, laut dem es seine Gültigkeit an dem Tag verliere, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist", 1990 gezielt ignoriert wurde, dokumentiert Steinmeiers Vorschlag, die geplante EU-Verfassung lieber als "Grundgesetz" zu bezeichnen, das dezisionistische Selbstverständnis herrschender Kräfte.

Die Bundesbürger wurden bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrags nicht nach ihrer Zustimmung gefragt, weil eine offene und engagierte Diskussion seines Inhaltes und der Modalitäten seines Zustandekommens einiges über den autokratischen Umgang deutscher Politiker mit dem ihnen erteilten demokratischen Auftrag enthüllt hätte. In Deutschland als bevölkerungsreichstem Land der Union verläuft die Absicht, die Bundesrepublik zu einem "Gravitationszentrum" der europäischen Integration zu machen und damit die imperialistischen Ambitionen ihrer Eliten zu befördern, konträr zum Interesse der Menschen an der Wahrung und dem Ausbau ihrer bürgerlichen und sozialen Rechte. Wie man anhand der von Wehr geleisteten Kritik an den europäischen Strukturen administrativer Verfügungsgewalt hervorragend studieren kann, erfolgt deren Aushebelung vor allem über die Entmachtung nationaler Organe der politischen Willensbildung und die Übertragung partizipatorischer Kompetenzen auf weitgehend eigenmächtig agierende, bestenfalls von einflußreichen Lobbyisten und den Agenturen der Politikberatung zu erreichende Institutionen zweckrationaler bürokratischer Entscheidungsfindung.

Andreas Wehr betont daher die Bedeutung des Nationalstaates als den Ort, der nach wie vor entscheidend sei für die Reproduktion des Kapitals und an dem daher auch noch am ehesten von unten Einfluß genommen werden könne. Hier sei der Kampf um mehr Demokratie auszufechten, das gelte gerade auch für die deutsche Linke, die er ermutigt, sich den Widerstand gegen den

Verfassungsvertrag in anderen EU-Staaten zum Vorbild zu nehmen und das Feld der Debatte nicht nationalchauvinistischen Agitatoren zu überlassen. Die Verfechter des Verfassungsvertrags haben keinesfalls aufgegeben, sondern bereiten Variationen desselben in Form von Konzepten vor, mit denen sich die ursprüngliche Intention auf anderem Wege verwirklichen lassen soll.

Um so dringender sei geboten, sich nicht mit einer Reform der Reform, also einer bloßen Modifikation des Dokumentes aufzuhalten, sondern die Aufmerksamkeit auf die vertraglichen Grundlagen der europäischen Integration zu richten:

In den Blick zu nehmen sind die großen Weichenstellungen der europäischen Politik, die erst die hier herrschende neoliberale Wirtschaftsordnung möglich machten. Es geht um die Einheitliche Europäische Akte von 1986 und um den Vertrag von Maastricht von 1992, wenn nicht sogar um die Römischen Verträge von 1957.
(S. 183)

Wie man sieht, gibt es einiges aufzuarbeiten, was in der Euphorie eines europäischen Aufbruchs zu neuen Ufern allzu leichtfertig ignoriert wurde. Daß es sich dabei um das alte Interesse an kapitalistischer Herrschaft handelt, dem seit dem Ende der Blockkonfrontation so fraglos wie selbstverständlich Kredit gewährt wird, sollte künftig nicht nur ausgemachten Kapitalismuskritikern bewußt sein, sondern zum kleinen Einmaleins bürgerlicher Emanzipation gehören. Da das Publikum immer häufiger den Saal verläßt und auf der Straße vom Zuschauer zum Akteur wird, könnte die Entlarvung der trügerischen Strategien, mit denen die Herrschenden ihre politischen Ziele verfolgen, auf fruchtbaren Boden fallen.


Andreas Wehr
Das Publikum verläßt den Saal
Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise
PapyRossa Verlag, Köln, 2006
206 Seiten, Euro 14,90 Euro
ISBN 3-89438-342-9


04.06.2006