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REZENSION/325: Jean-Claude Paye - Das Ende des Rechtsstaats (SB)


Jean-Claude Paye

Das Ende des Rechtsstaats

Demokratie im Ausnahmezustand



Der gar nicht so schleichende Abbau fundamentaler bürgerlicher Freiheitsrechte in den Staaten der EU und den USA geht aufgrund seines bürokratischen Charakters recht unspektakulär vonstatten. Dabei ergänzt sich der administrative, von öffentlicher Aufklärung und parlamentarischen Debatten weitgehend befreite Umbau eines für seine Subjekte in seiner sanktionierenden Gewalt prinzipiell bestimm- und berechenbaren Rechtsstaats zu einem von Sondervollmachten und Notstandslogik beherrschten Regime latenter Kriegführung nach außen wie innen mit der spätestens nach dem Ende der Systemkonfrontation rasant verlaufenden Entpolitisierung der Bevölkerung auf einander verstärkende Weise. Das Verständnis für den Wert einer Zone individueller Lebensgestaltung, die für die Staatsgewalt zumindest vom gesetzlichen Anspruch her unberührbar ist, wird erfolgreich von der autoritären Doktrin einer Gesellschaftsordnung verdrängt, die das Primat staatlicher Kontrolle mit dem Argument verabsolutiert, daß nur derjenige ein guter Staatsbürger sei, der aufgrund seiner gelungenen Anpassung an die herrschenden Normen und Werte nichts zu verbergen habe. Anpassung setzt jedoch die Elimination individueller Autonomie nicht nur formallogisch voraus, vielmehr ist die Zerstörung persönlicher Autonomie Sinn und Zweck jeder Verselbständigung der Staatsgewalt zur soziale Widersprüche gewaltsam regulierenden Handlungsmacht.

Die Möglichkeit einer diktatorischen Entwicklung, die die Schutzgarantien bürgerlicher Freiheit aufhebt, wird mit der Unterstellung, die liberale kapitalistische Marktordnung repräsentiere das Ende der Geschichte und bedürfe nur noch ihrer globalen Durchsetzung, wie selbstverständlich in Abrede gestellt. Das regulatorische Ideal des Marktes und die Rolle des Staates als Sachwalter von Kapitalinteressen haben jedoch Tatsachen der Herrschaftsicherung geschaffen, deren Zwangscharakter die demokratischen Ideale der Volkssouveränität und Gewaltenteilung praktisch außer Kraft setzt. Erschwerend kommt die Verheinheitlichung der europäischen Strafverfolgung und Rechtsprechung hinzu, die sich hinsichtlich der Bürgerrechte generell am niedrigsten gemeinsamen Nenner orientiert.

Mit der weitreichenden Aufhebung rechtsstaatlicher Garantien durch die ausufernde Observation der Telekommunikation, durch die unbescholtene Bürger kriminalisierende Präventionslogik, durch das die bloße Zugehörigkeit zu politisch abweichenden Gruppen verfolgendes Gesinnungsstrafrecht, durch die Ausweitung der Administrativhaft, durch die die Rechte der Angeklagten einschränkenden Sondergerichte, durch auf Gemeindeebene etablierte Formen der vorgerichtlichen Sanktionierung, die der Diffamierung und Ausgrenzung mißliebiger Bürger durch die moralische Mehrheit Tür und Tor öffnet, oder durch die Aufhebung des Prinzips der Unschuldsvermutung etwa bei der Beweislastumkehr in der Hartz-IV- Gesetzgebung geht man sogar noch vor den klassisch liberalen Rechtsstaat zurück. Während dieser sich mit der Bevorzugung der Interessen der Bourgeoisie zu Lasten der Besitzlosen zwar reaktionär, in der Überwindung des feudalen Rechtsabsolutismus jedoch fortschrittlich darstellte, läuft die insbesondere im Bereich der Terrorismusbekämpfung erfolgende Aufhebung rechtsstaatlicher Grundsätze auf eine generelle Anomie hinaus, die der Willkür des Stärkeren, also der uneingeschränkten Macht von Kapital und Staat, Tür und Tor öffnet.

Der in Belgien lebende Publizist und Soziologe Jean-Claude Paye läßt sich bei der Analyse dieser Entwicklung nicht von den angeblichen Sachzwängen der Terrorismusbekämpfung beeindrucken, sondern stellt schon mit dem Titel seines Buches "Das Ende des Rechtsstaats" klar, daß die Verschärfung der inneren Sicherheit auf einen politischen Paradigmenwechsel zugunsten der Dichotomie des Guten und Bösen abzielt, die die demokratische Gestaltung des Gemeinwesens durch das doktrinäre Orientativ herrschender Interessen ersetzt. Die geltende Verfassungsordnung wird unter dem Vorwand einer angeblich von Terrorismus und organisierter Kriminalität ausgehenden Bedrohung de facto aufgehoben und in eine Form des dauerhaften Ausnahmezustands überführt, der sich durch die Suspendierung geltenden Rechts insbesondere in Strafverfahren und die Stärkung der Exekutive zu Lasten der Legislative und Judikative auszeichnet.

Das manifestiert sich unter anderem in Strafnormen, die bereits die unterstellte Absicht, eine Straftat zu begehen, sowie die Assoziation mit politisch Gleichgesinnten mit Gewaltmitteln ahnden, in der gegen parlamentarischen Einspruch immunen Auflistung bestimmter Gruppen und Personen in Terrorlisten, in der Aufwertung des Strafrechts zum zentralen gesellschaftlichen Regulativ, in der Umschiffung der Legislative durch die Formulierung von Rahmengesetzen, in der Vormacht der polizeilichen Verfahrenslogik über die Gültigkeit von Gesetzen wie in der Schwächung des Primats richterlicher Kontrolle über die Vollzugsgewalt der Strafverfolgungsbehörden. All das belegt der Autor im Detail anhand der Entwicklung der Terrorismusbekämpfung in den USA wie der EU, wobei er die Antiterrorgesetze einzelner Mitgliedstaaten im Vergleich analysiert, um Parallelen aufzuzeigen, die die Handschrift vor allem US-amerikanischer Entwürfe kenntlich machen.

Besonderes Augenmerk richtet Paye auf die internationale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste, da mit ihr eine Schwächung nationalstaatlicher Rechtsgarantien einhergeht, die den einzelnen Bürger einem kafkaesken System der Auslieferung und Sanktionierung unterwirft. So führt der Europäische Haftbefehl zur gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Verfahren, ohne daß diese im Herkunftsland der auszuliefernden Person notwendigerweise der gesetzlichen Norm entsprechen müssen. Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluß zur Terrorismusbekämpfung der EU von Belang, da dieser aufgrund seines weitgefaßten Charakters die Möglichkeit eröffnet, die Aktionsformen und Programme sozialer Bewegungen zu kriminalisieren.

Ein weiterer Schwerpunkt bei der Darstellung der vertraglichen und gesetzlichen Grundlagen der Terrorismusbekämpfung liegt auf dem Abkommen zur Auslieferung und Rechtshilfe zwischen den USA und der EU, aufgrund dessen US-Behörden Rechtsansprüche gegen EU- Bürger geltend machen können, vor denen ihre eigenen Bürger geschützt sind. Für Paye konstituieren die weltweit geltend gemachten Befugnisse US-amerikanischer Sicherheitsbehörden und Geheimdienste sowie die Dehumanisierung "illegaler Kombattanten" im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus das imperiale Zentrum, von dem die Bestrebungen zur Etablierung einer neuen Regierungsform und Rechtsordnung maßgeblich ausgehen.

Bei dieser Entwicklung geht es, wie schon im Untertitel "Demokratie im Ausnahmezustand" angedeutet und in der Einleitung vorausgeschickt, um einen qualitativen Umschlag, der im Begriff des Ausnahmezustands seinen Ausgangspunkt nimmt. Nachdem Paye den Leser auf den ersten 200 Seiten mit den gesetzlichen Grundlagen sicherheitsstaatlicher Handlungsgewalt vertraut gemacht hat, wobei er die komplexe Materie auch für Laien gut verständlich aufbereitet, spitzt er seine schon dort stets ins grundsätzliche Politik-, Staats- und Rechtsverständnis greifende Analyse in einer vor allem an die Arbeit des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben zum Thema des Ausnahmezustands anknüpfende Schlußfolgerung zu.

Dabei verfällt Paye keiner Verherrlichung des demokratischen Rechtsstaats, dem er ebensowenig wie dem Begriff des Ausnahmezustands zutraut, "Aufschluß über den organischen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat" (S. 209) zu geben. Er nutzt diese Gegenüberstellung lediglich als Einstieg in eine staatsrechtliche Debatte, in der er vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs nationalstaatlicher Souveränität und deren Ablösung durch die Doktrin der Global Gouvernance die "Schaffung einer globalen Kommandostruktur" schildert, die sich gemäß des dialektischen Verhältnisses von Rechtsnormativismus und Dezisionismus als imperiale Doppelstruktur darstellt:

auf der einen Seite ein netzartiger Verband aus multinationalen Konzernen, internationalen Institutionen und Nationalstaaten, der den Planeten wie ein Unternehmen managt; auf der anderen Seite ein im vollen Wortsinn politischer Apparat, der der Gesellschaft gegenübersteht, will sagen: die US-Exekutive, die imperiale Souveränität ausübt.
(S. 221)

Für politische Aktivisten von besonderer Bedeutung ist dabei die Rolle der Antiterrorgesetzgebung, bei der Paye unterstreicht, daß sie anders als im konventionellen Strafrecht, das meist versucht, den politischen Charakter sozialer Bewegungen zwecks Eindämmung ihrer Wandlungskraft durch Kriminalisierung zu bestreiten, den politischen Charakter von Oppositionsbewegungen, wie die darauf zugeschnittenen Terrorismusdefinitionen zeigen, zum Ausgangspunkt ihrer strafrechtlichen Verfolgung macht. Die vom Autor ausführlich belegte Aufhebung geltenden Rechts durch das "Primat des Ausnahmeverfahrens" (S. 224) soll daher zur Schaffung einer neuen Rechtsordnung, in der der Staat und nicht die Bevölkerung alle Politik gestaltet, führen:

Die Anpassung der Rechtsordnung zielt nicht, wie im Belagerungszustand, auf eine systemexterne Bedrohung, sondern auf einen vom System selbst hervorgebrachten Sachverhalt. Die Zweck-Mittel-Relation kehrt sich um. Der designierte Feind in Gestalt der Terrororganisation präsentiert sich als Instrument zum Umbau der Rechtsordnung und des politischen Systems. Die Staatsgewalt selbst formt die Politik nach ihrem Bild.
(S. 225)

Paye beleuchtet diesen Umstand unter besonderer Würdigung der Tatsache, daß das Strafrecht durch die Implementierung von Ausnahmeverfahren im Rahmen der Gesetzgebung zum Terrorismus und der organisierten Kriminalität konstitutive Funktion erlangt. Dabei unterscheidet er zwischen einem zwecks Bewahrung der bestehenden Ordnung vorübergehenden Ausnahmezustand, der "kommissarischen Diktatur" (S. 230), und der auf die Veränderung der politischen Ordnung zielenden "souveränen Diktatur" (S. 230). In ihr wird die Ausnahme zu Regel, was schon aufgrund des durch Ausbruch und Bewältigung einer Krise gesetzten Zeitrahmens eines Staatsnotstands den dauerhaften Umbau der herrschenden Ordnung zur Folge haben muß. Man denke nur an das von der US-Regierung jenseits des Horizonts individueller Lebensperspektiven angesiedelte Ende des Terrorkriegs, der viele Jahrzehnte oder gar hundert Jahre lang währen soll und inzwischen ganz offiziell den Titel des "langen Krieges" erhalten hat:

Im Gegensatz zur kommissarischen Diktatur ist die souveräne Diktatur nicht als bloße Regierungsform zu verstehen. Sie zielt nicht nur auf eine interne Umstrukturierung auf politischer Ebene und verändert nicht nur das Verhältnis zwischen "bürgerlicher Gesellschaft" und Staat, sondern sie bereitet mehr noch eine Modifizierung der Staatsform selbst vor, will sagen: des bestehenden Verhältnisses zwischen Politischem und Ökonomischem. Was bedeutet, dass die souveräne Diktatur als Regierungsform einer neuen politischen Organisationsform des Kapitals - dem Imperium - entspricht. Die souveräne Diktatur ist die adäquate Regierungsform des Imperiums und die Bedingung seines Bestehens. Sie ist die andere Seite von "Good Gouvernance", reine politische Subjektivität, die eine globalisierte, "technische" Verwaltung nackter Arbeitskraft installiert, von Arbeitern, die aller politischen Rechte beraubt sind und sich den Imperativen des Weltmarkts zu fügen haben.
(S. 231 f.)

Damit wird der Zweck der neuen Rechtsordnung und Regierungsform weit plausibler gemacht, als es alle Antiterrorrhetorik vermag. Die jeden an der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit interessierten Menschen beleidigende Plattheit des moralisierenden Manichäismus, mit dem amerikanische und europäische Politiker die Einschränkung bürgerrechtlicher Garantien und die Mißachtung völkerrechtlicher Normen legitimieren, müßte alle Alarmglocken schrillen lassen, haben ältere Europäer doch noch den Nachhall derartiger Demagogie und ihre katastrophalen Auswirkungen im Ohr. Dabei ist es gar nicht so schwer, hinter den funktionalen Fassaden, der Sachzwanglogik und den Effizienzkriterien modernen Politmanagements die ungeschminkte Fratze konkreter Machtansprüche und Raubinteressen auszumachen.

Paye nennt die Zukunft "eines neuen sozialen Krieges" mit dankenswerter Offenheit beim Namen und macht die treibenden Faktoren und maßgeblichen Methoden dieser gegen alle Menschen, die sich nicht in einer ökonomisch privilegierten Position befinden oder den Funktionseliten angehören, gerichteten Ausgrenzung kenntlich:

Die Terrorismusbekämpfung antizipiert soziale Auseinandersetzungen, sie zielt auf die proaktive Zerschlagung jeder politischen Opposition. Den antizipatorischen Charakter dieser Gesetzgebung gilt es ins Blickfeld zu bekommen, will man ihre ganze Tragweite verstehen. Nicht auf die gegenwärtigen, vergleichsweise schwach ausgeprägten Konflikte ist sie gemünzt, sondern auf künftige Auseinandersetzungen. Über den Umbau des Strafrechtlichen antizipiert das Politische eine neue Offensive des Kapitals auf ökonomischer Ebene.
(S. 243)

Das Buch sei jedem Menschen, der sich nicht davor scheut, unangenehmen Tatsachen ins Auge zu blicken, und dem die Machtfrage als zentrales Kriterium politischen Handelns nicht unvertraut ist, wärmstens zur Lektüre empfohlen. "Das Ende des Rechtsstaats" ist politische Lektüre im besten, das heißt demokratischen und emanzipatorischen Sinne, so daß man auf Freude und Interesse bei der Lektüre nicht verzichten muß.


Jean-Claude Paye
Das Ende des Rechtsstaats
Demokratie im Ausnahmezustand
Rotpunktverlag, Zürich, 2005
280 Seiten, Euro 22,00
ISBN 3-85869-294-8


17.05.2006