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REZENSION/261: Guy de Maupassant - Le Vagabond · Coco (Französisch) (SB)


Guy de Maupassant


Le Vagabond · Coco

Textes et dossier



Le Vagabond

Guy de Maupassant beschreibt den Weg eines grundehrlichen, arbeitslosen Zimmermanns, der, um seiner in Not geratenen Familie nicht als zusätzlicher Esser zur Last zu fallen, zu Fuß nach Mittelfrankreich zieht. Dort soll es laut Auskunft seines Bürgermeisteramtes Arbeit geben. Als er sich mit der Zimmerarbeit unterwegs nicht mehr ernähren kann, nimmt er jede Art von Tätigkeit, gleich gegen welches Entgelt, an. Schließlich gelingt ihm auch dies nicht mehr, und er lebt von dem, was man ihm gibt oder was er findet. Nun beginnt die Repression von Seiten der Behörden, die Gendarmerie verwarnt ihn, Landstreicherei und Betteln sind verboten - daß er auf Arbeitssuche ist, glaubt man ihm nicht. Er faßt mehr oder weniger den trotzigen Entschluß, sich verhaften zu lassen.

Mais le gendarme déclara: - Je vous prends en flagrant délit de vagabondage et de mendicité, sans ressource et sans profession, sur la route, et je vous enjoins de me suivre. Le charpentier se leva. - Oùsque vous voudrez, dit-il. Et se plaçant entre les deux militaires, avant même d'en recevoir l'ordre, il ajouta: - Allez, coffrez-moi. Ça me mettra un toit sur la tête quand il pleut. (S. 22-23)

Er wird jedoch vom Bürgermeister - hungrig und zornig - wieder auf die Straße gesetzt. Als er an einem Haus vorbeikommt, aus dessen geöffnetem Fenster ein verführerischer Essensgeruch nach draußen dringt, vermag er nicht mehr an sich zu halten. Niemand öffnet auf sein Klopfen hin, so bricht er ein und macht sich über das auf dem Herd stehende Mahl und den Schnaps her. Vollkommen betrunken und außer sich vor Wut vergewaltigt er auch noch eine Magd auf einem einsamen Waldweg und macht sich erschrocken über sich selbst davon. Die Gendarmen erwischen ihn, eingeschlafen unter einem Baum, der Bürgermeister reibt sich zufrieden die Hände.

Toute les portes étaient ouvertes, car on savait les événements. Paysans et paysannes soulevés de colère, comme si chacun eût été volé, voulaient voir rentrer le misérable pour lui jeter des injures. Ce fut une huée qui commença à la première maison pour finir à la mairie, où le maire attendait aussi, vengé lui-même de ce vagabond. Dès qu'il l'aperçut, il cria de loin: - Ah! mon gaillard! nous y sommes. Et il se frottait les mains, content comme il l'était rarement. Il reprit: - Je l'avait dit, je l'avait dit, rien qu'en le voyant sur la route. Puis, avec un redoublement de joie: - Ah! gredin, ah! sale gredin, tu tiens tes vingt ans, mon gaillard! (S. 33 - Schluß)

Angenehm ist Maupassants realistisch-nüchterne Erzählweise. Er läßt dem "Vagabunden" die Würde, versteigt sich nicht darin, ein kunstvolles Bild von Armseligkeit und Dreck zur allgemein entsetzten Betrachtung heraufzubeschwören. Wirkliche Not durch eine Erzählung so nahezubringen, daß es dem Voyeurismus den Atem verschlägt und der Leser wirklich berührt wird, ist sehr schwierig und dementsprechend selten anzutreffen. So kann man sich freuen, daß Maupassant durch die Art seiner Schilderung nicht von den Problemen eines Menschen, für den es keinen Platz in der Gesellschaft gibt, ablenkt, sondern diese auf den Punkt bringt. Wir haben hier mit dem Arbeitssuchenden Jacques Randel einen Mann vor uns, der sich unter allen Umständen versucht, in die Gegebenheiten zu schicken, sich anzupassen. So wird an ihm recht deutlich, daß das mit den herrschenden Gesetzen verbundene gesellschaftliche Versprechen: Verhalte dich nur wohl, dann geschieht dir recht, nicht gehalten wird.

Für den Autoren ist es wohl die Ungerechtigkeit des Schicksals, die blind-grausame Natur, die den Menschen im Stich läßt:

Il s'indignait de l'injustice du sort et s'en prenait aux hommes, à tous les hommes, de ce que la nature, la grande mère aveugle, est inéquitable, féroce et perfide. Il répétait, les dents serrées: "Tas de cochons!" en regardant la mince fumée grise qui sortait des toits à cette heure du dîner. Et, sans réfléchir à cette autre injustice, humaine celle-là, qui se nomme violence et vol, il avait envie d'entrer dans une des demeures, d'assommer les habitants et de se mettre à table, à leur place. Il disait: "J'ai pas le droit de vivre, maintenant ... puisqu'on me laisse crever de faim ... je ne demande qu'a travailler, pourtant ... tas de cochons!" (S. 14-15)

So kann Maupassant auch getrost aus der Perspektive des Umherziehenden schildern, ohne die eigene privilegierte Lebenssituation infrage zu stellen. Dem Anspruch der realistischen Schilderung kommt er nahe, objektiv kann man sie nicht nennen, und ganz sicher bleibt sie im Rahmen der Betrachtung. Natürlich hat Maupassant seinen Blickpunkt aus der eigenen Situation heraus gewählt; jede Schilderung hat einen persönlichen Ansatz, eine persönliche Färbung, ist von den eigenen Umständen, Erfahrungen und der eigenen Position geprägt. Es wäre sogar schade, wenn diese fehlte, denn an dieser Stelle ist der Mensch, der Autor in diesem Falle, zu greifen. Sie ist die Grundlage für jegliche kritische Auseinandersetzung. Wie weit der Leser über die Betrachtung hinausgreift, ist ihm überlassen. Die Regel ist allerdings wohl, daß über die Unabänderbarkeit der menschlichen Misere sinniert wird. Über der Zeitung und in den Salons wird von den Damen geseufzt, die Herren wenden sich wichtigeren Geschäften zu - man unterhält und erbaut sich -

und in der Schule wird der Bürger herangebildet, der wissend um die menschlichen Abgründe und Nöte umso gezielter an ihnen vorbeisehen kann. Denn welcher Lehrer stört heute noch die Schüler mit so abwegigen und womöglich auch noch ernst gemeinten Anmerkungen wie, daß das Wort privat von lateinisch rauben stamme und der Privatbesitz doppelt "besetzt" ist. Oder etwa - außer es diene der Belustigung - einem Brecht-Zitat, das die Gründung einer Bank dem Bankraub in einer Frage gleichsetzt.

Coco

Die zweite Geschichte nimmt in ihrer ganzen Aussichtslosigkeit einfach mit, und macht, da es eine wehrlose Kreatur betrifft, die zu Tode gequält wird, noch ein wenig wütender als die des Menschen, der in Hoffnungslosigkeit und Gefangenschaft getrieben wird. Welche Motivation Maupassant auch immer gehabt haben mag, diese knappe Erzählung zu verfassen, sie ist ganz einfach gelungen.

Der Autor

Guy de Maupassant wird am 5.8.1850 in der Normandie als Sproß einer 1846 in den Adelsstand erhobenen, bürgerlichen Familie geboren. Ein Jurastudium bricht er ab, erlebt den deutsch-französischen Krieg als Soldat und beschäftigt sich neben seiner Tätigkeit im Museum mit der Schriftstellerei, tatkräftig unterstützt von seinem geistigen Ziehvater Gustave Flaubert (1821-1880). Seine Novelle "Boule de suif" (Fettkloß) macht ihn schlagartig und eigentlich unerwartet berühmt. In den folgenden 10 Jahren verfaßt er - nicht zuletzt aus finanziellen Gründen - ein umfangreiches Werk an Romanen, Novellen, Reiseberichten, Theaterstücken und Verserzählungen sowie journalistischen Texten, von dem das eine oder andere auch als sozialkritisch verstanden werden kann. Zu seiner Zeit war er neben Émile Zola (1840-1902) der meist gelesene und erfolgreichste Schriftsteller Frankreichs. Er starb im Alter von 42 in geistiger Umnachtung in einer Irrenanstalt in Passy bei Paris - eine Folge seines ausschweifenden Lebenswandels und der Syphillis, wie man sagt.

Begleittexte

Nun noch ein kurzer Blick auf die Begleittexte, die zum Teil zeigen, in welche Richtung gesellschaftliche (Lösungs)ansätze und Initiativen gehen und weitergedacht, den berühmten Tropfen auf dem heißen Stein bilden. Darüber hinaus bieten sie ein paar zusätzliche Informationen und Anregungen zum Sprechen und Nachdenken.

- Pauvreté: la facture sociale - Nouvel échec pour les clochards - 20 ans sans toit ni loi - Le triste succès des Restos du coeur - Un franc par repas - "Et hop! c'est le jackpot: 3600 francs par mois!" - La Voleuse de Saint Lubin

Eine Reihe kleiner Texte bietet weiteren Aufschluß über Guy de Maupassant (1850-1893) direkt, und zwei Textauszüge von Émile Zola (1840-1902) sollen aufgrund dessen schriftstellerischer Nähe zu seinem Zeitgenossen Maupassant, der Erläuterung dienen:

- Gagner sa vie la plume à la main - Maupassant, un auteur impartial - L'impassibilité de Maupassant - Maupassant et sa façon d'écrire - Maupassant, un journaliste engagé - Émile Zola: Le Roman expérimental (extraits) - Emile Zola: L'Assommoir

Auch dem Vorwort empfiehlt sich Aufmerksamkeit zu widmen. Wie immer bei den Reclam'schen Fremdsprachentexten, fehlen die Vokabelhinweise nicht.

Bei diesem kleinen Band handelt es sich alles im allem um eine Zusammenstellung, die eine vielfältige Beschäftigung mit Maupassant, seinem Werk, der Aussage seiner beiden Erzählungen und möglichen Konsequenzen zuläßt. Es ist also eine Gelegenheit auf Gedanken zu kommen. Einer wäre zum Beispiel: Warum ist es damals wie heute noch genauso? Warum schlagen wir uns, wo doch so viele Menschen in verantwortlichen Positionen erklären, das Beste für die menschliche Gesellschaft zu wollen, immer noch mit den gleichen Verhältnissen herum? Da schließt sich dann ziemlich schnell auch die Frage an: Wie sind solche Geschichten gemeint? Was soll das überhaupt? Verschaffen sie dem Autoren, wie dem Leser, das angenehme Gefühl, sich in die Tiefen menschlichen Schicksals begeben, heil wieder herausgekommen und sich - dem Gefühl nach oder vielleicht auch wirklich - als verständnisvoll oder später gar mildtätig erwiesen zu haben? Sind sie als Auseinandersetzung ehrlich gemeint?

Und an diesem Punkt müssen wir uns alle packen lassen: Meinen wir es ehrlich damit, die Gesellschaft ändern zu wollen, ernst mit der Aussage: So soll es nicht bleiben. Oder räumen wir nicht lieber gleich unumwunden ein: Nein, ich finde, es gibt zwar das eine oder das andere, das nicht so in Ordnung ist, aber mir geht es doch ganz gut. Ich habe noch Aussichten, ich bin in der Lage, Glück anzustreben. Warum sollte ich das ändern? Ich bin zufrieden so. Ich kann mit anderen gemeinsam, nicht ohne Eigenverantwortung, ein erfülltes Leben führen und mich einigermaßen von gesellschaftlichen Widersprüchen, die mich gar nichts angehen, fernhalten. Denen sollten sich die dafür ausgebildeten Fachleute zuwenden. Geht es in unserem System nicht wie eh und je darum, dem in Not Geratenen gerade soviel zu geben, daß er nicht zur Rebellion schreitet?

Ob es gelingt, diese Frage in die Schule zu tragen? Fraglos ist es die Intention dieses Bändchens bzw. des Verlages, einen Beitrag für die Auseinandersetzung mit der sich aktuell zuspitzenden sozialen Lage zu leisten. Die Zahl der Obdachlosen und Arbeitslosen nimmt zu, die Armut nimmt zu, die Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen Menschen nimmt zu, die Hoffnungslosigkeit nimmt zu. Schicksal? Vielleicht auch Sprengstoff.


Guy de Maupassant
Le Vagabond · Coco
Textes et dossier
Herausgegeben von Karl Stoppel
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2004
Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
96 Seiten, 2,80 Euro
UB 9116, ISBN 3-15-009116-0