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REZENSION/248: K. Müller, M. Voigt - Explosive Gambits (Schach) (SB)


Karsten Müller und Martin Voigt


Danish Dynamite -

Explosive Gambits: the Danisch, Göring, Scotch and Urusov



Es liegt durchaus etwas Ehrbares in dem Unternehmen, halbvergessene und aus der Mode gekommene Gambitsysteme wieder ins tagesaktuelle Geschehen zu rücken. Wir erinnern uns: Bei einem Gambit handelt es sich um das Opferangebot eines oder mehrerer Bauern - mitunter wird gar eine Figur ins Geschäft gesteckt - mit dem Ziele, die Partie mit dem Heraufbeschwören und Wirbelwind taktischer Verwicklungen möglichst früh aus dem Krampfe der Fixierung in Diplomatie und Langzeitmanövern gefaßter Pläne herauszureißen.

Gambits aller Art sind noch heute die lippenscharfe Würze und das Aphrodisiakum des Schachspiels und waren nachweislich das Markenzeichen des 19. Jahrhunderts, als eine Schachpartie nichts anders bedeutete als den Sturm und Drang der Schaffenskräfte zu erregen. Um nichts Geringeres ging es als den höchsten Griff der intellektuellen und künstlerischen Herausforderung. Und aus jener Zeit, die man rückblickend mit einem Auge der Bewunderung als die romantische Ära des Königlichen Spiels bezeichnet, sind unsterblich gewordene Partien, ja Perlen an menschlicher Inspiration, bis in unsere Gegenwart überliefert, die in keinem Buch fehlen dürfen und durch den Widerhall der Zeit als ewig junge Lehrmeister befruchtend auf ganze Generationen von jungen Schachspielern eingewirkt haben.

Der unstillbare Reiz des Gambitspiels liegt in seiner strikten Verweigerung und Konfrontation mit dem Gesetz des Gleichgewichts der Kräfte, das Thema und inhaltliche Auseinandersetzung jeder Positionspartie ist, wo mit dem langen Löffel strategischer Manöver kleinste Risse und Schwachpunkte ins gegnerische Lager hineingetrieben werden, um die anfängliche Balance allmählich aus dem Takt zu bringen und sodann in einem Schlußakt ebendiese Vorteile mühsam gegen den Widerstand des Gegners zur Geltung zu bringen. Vom Wesen und der Signatur her sind positionelle Schachpartien also Werke, die einen langen Atem verlangen. Die Ausgestaltung vollzieht sich in einem zähen Ringen um kleinste Stellungsvorzüge. Meist werden Positionspartien dann auch erst im Endspiel entschieden. Überhaupt geht es hier immer ehrlich zu, man ist fair und begegnet dem Gegner auf gleicher Augenhöhe - larvierte Feigheit nennen es die Spötter.

Ganz anders die Gambitpartie, deren oberste Prämisse der Überfall ist. Wer es mit dem Blumengebinde der Tugenden hält, Bravheit vor Barbarei stellt, der sollte kein Gambit spielen. Dieses Wort italienischen Ursprungs bedeutet, "jemandem ein Bein stellen" und kommt nicht zufällig von den mittelalterlichen Boxerbuden.

Nun verweisen aber die Gegner des Gambits im Aufbauschen koketter Eigenliebe gerne darauf, daß jene Angriffskünstler und Virtuosen alter Tage mit ihrer Affenbehendigkeit zu Abenteuer und figürlicher Artistik nur deshalb so erfolgreich sein konnten, weil die Prinzipien der Verteidigung seinerzeit noch in engen Kinderschuhen steckten. Mit der Zeit sei man ihnen indessen auf die Schliche gekommen und habe schlechterdings die chamäleonhafte Natur ihres Bluffs enttarnt. Niemand, so der allgemeine Tenor, würde sich heutzutage noch von den Finten der Gambitjongleure aufs Kreuz legen lassen. Ist ein Gambit also nichts weiter als ein Vorrat und Spickzettel an Tricks, Hinterlist und Überrumpelung, um vor allem schwächere Gegner ins Hintertreffen zu locken?

Trotz aller Widerlegungsversuche ist das Gambit ja nie ausgestorben. Die Idee, Partien von vornherein taktisch und nicht strategisch lösen zu wollen, war vielmehr nicht totzukriegen. Selbst die früheren Weltmeister Alexander Aljechin und Emanuel Lasker haben taktische Eröffnungen immer wieder aufs Brett geholt, wenngleich dies zumeist in Simultanpartien gegen schwächere Laien geschah. Aber auch unter Großmeistern von Ruf lassen sich eine Reihe von Namen zitieren, die von der Spielbarkeit des Gambits überzeugt waren und den Dissenz in dieser Frage unerschrocken auch gegen ebenbürtige Gegner austrugen. Niemals ist das Gambit widerlegt worden - behaupten die Apologeten. Nur Schwindel und Augenwischerei, unausrottbare Geißel der Unvernunft - beteuern die Kritiker.

Diese Streitfrage sollte im Kopf haben, wer das 2003 in Russell Enterprises, Inc. erschienene Buch "Danish Dynamite - Explosive Gambits: the Danisch, Göring, Scotch and Urusov" zur Hand nimmt. Hier hat das Hamburger Autorengespann Großmeister Karsten Müller und FIDE-Meister Martin Voigt mit analytischem und recherchierendem Eifer die Ziele und Kampfmotive der Gambitfamilie des Nordischen, Göring-, Schottischen und Urusov- Gambits akribisch herausgearbeitet, peinlich genau im Kleinen, aber ins Große gewendet, wo es um die Eigentümlichkeiten ging, doch vor allem beseelt von dem Recht auf Revanche gegen die renommierte Theoriemeinung, deren hypnotisierender Blick das alte Gambitspiel seit langem mit kränkelnder Depression, Schwere und Müdigkeit überzieht.

Im großen und ganzen ist dabei, in Billigkeit gesprochen, ein Repertoirebuch entstanden, das im knappen Telegrafenstil eine Fülle von Varianten und Neuentdeckungen auf die Tapete bringt. Die Recherche ist dabei eher geglückt als die Darstellung der Motive. Überhaupt vermißt man beim Lesen des Buches allzu oft und aufs Schmerzlichste einen die Analyse vertiefenden Begleittext. Und selbst da, wo Erläuterungen hinterherpurzelnd eingestreut werden, sind sie knapp gehalten und vermitteln den unverwischbaren Eindruck von fliegender Hast und Routine.

Als Laie wünscht man sich jedoch ein größeres und sensibleres Fingerspitzengefühl für das Einführen in die Materie. So bleiben die teils opulenten Varianten in ihrer abstrakten Form der Notation nackt und abstoßend, wie es Zahlen und Symbole eben an sich haben. Die Ontologie siegt hier über die am Anfang stehende Idee, also das Nordische Gambit spielt man so und so...

Wo jedoch an Sprache und klärendes Überbrücken der Lücken gespart wird, bleibt auch das zu erlangende Verständnis größtenteils auf der Strecke. Und Auswendiglernen war noch nie der Geist der Gelehrsamkeit. So auf lieblose Distanz zur Didaktik gehalten, fühlt man sich als Leser schnell wie ein auf dem trockenen gestrandeter Fisch. Und wie dieser nach Luft schnappt und nicht atmen kann, obwohl er von einem Himmel voller Lüfte umgeben ist, braucht der Anfänger Wasser für seine entwicklungsgeschichtlichen Kiemen.

Daß Karsten Müller als Doktor der Mathematik Zahlen- und Symbolfolgen höher schätzt als die Klausur der Worte, bildet nachgerade den neuralgischen Schmerz dieser Ausarbeitung, was bedauerlich ist, weil damit ein wesentlicher Aspekt der Auseinandersetzung in einem nebelverhangenen Limbo verbannt bleibt. Sind es doch primär und ausschließlich die Gedankengänge, die den Wert jeder Analyse prägen, mit Hilfe derer sich der Forschereifer in der Wildnis neu gestellter Fragen und Probleme orientiert und zurechtfindet.

Ohne diese Wegweiser zum Sitz eines aufklärerischen Willens, und alles darunter wäre Plagiat und Diebstahl am Geldbeutel des Käufers, wächst freilich die Gefahr ins Greifbare, daß sich der im Variantengeflecht auf sich selbst zurückgeworfene Leser in die Kategorien eines "Richtig" und "Falsch" verirrt. Jede Aufklärung sollte jedoch zur Eigenständigkeit des Denkens ermutigen, und wo eine menschliche Arbeit als Beispiel dazu dienen will, bedarf es sprechender Lippen und warmer Kohlebecken an Mitteilsamkeit. Im Falle eines Buches ist dies der Dialog über das geschriebene Wort, und ja, man kann es verargen oder nicht: Kein Schachthema ist dem Anscheine entgegen sprachlich so akademisch verarmt, daß die Hürde nicht zu meistern wäre mit einem kleinen engagierten Hopser. Alles andere ist Faulheit und Mangel an Disziplin.

Was jedoch in der Hauptsache den Unmut hervorkitzelt, weil der Punkt zur Gänze unberührt bleibt, ist die Frage, wie eine Stellungsbeurteilung eigentlich zustande gekommen ist. Ein Schlußplädoyer wie "Weiß hat genügend Kompensation für den Bauern" oder "die Initiative wiegt das fehlende Material auf", helfen in der Sache nicht weiter, weil sie subjektive Einschätzungen darstellen, die lediglich in einen objektiven Spiegel hineinreflektiert werden. Und hier beginnt das Malheur. Denn wo vorab die Basis fundierter Parameter nicht hinreichend definiert wird, entzieht sie sich des Nachvollzugs für den Leser auf überwältigende Weise, und so bleibt neben einer Magenverstimmung bestenfalls noch die nutzlose Verdauung einer reinen Begriffsgespensterei zurück.

Kompensation, was ist sie im einzelnen? Initiative, worauf gründet sie sich? Bar dieser um nichts zu vernachlässigenden Klärung reduziert sich der Anspruch auf Gewissenhaftigkeit auf ein spekulatives Denken, das durch eine statistische Dichte, also der Auswahl einiger handverlesener Partien, die einen bestimmten Zusammenhang erhellen sollen, weniger als notdürftig aufgewogen wird.

Kurzum wird beim Leser eine Art Vorverständnis vorausgesetzt, das als Konsens unhinterfragt in Erscheinung tritt und sich infolge der Wiederholungen zu einem Schleier verdichtet, der jeden Blick eingrenzt und die Dinge, die eigentlich auf den Prüfstand gehören, durch Nivellierung entwertet, also in ihrer einzigartigen Bedeutung aufhebt.

Daß ein Zug ein Ausrufezeichen verdient, wird zwar durch das Analyseergebnis bestätigt, aber es fehlt das Wie und Wieso. Der Leser steht so vor dem Dilemma, entweder zwecks Selbstbehauptung die suggerierte Klugheit in der Anpassung zu wählen, was ungefähr dem entspricht, sich im Haifischbecken bei lebendigem Leibe fressen zu lassen, oder die Flucht in einen ständigen Alarm anzutreten, indem der ganz allgemeine Zustand des Zweifels - "ich glaube aus Prinzip nichts" - bei jedem Umblättern einer Seite aufs neue generiert wird.

Daß ein Urteil im Schach immer nur eine notdürftige Diplomatie darstellt, bedeutet demnach ohne Abzug und Zutat in der ältesten Form der Voreingenommenheit - ein Vorurteil, das, lanciert und interessenhalber in die Vordergründigkeit eines Spezialistentums gedeutet, sich selbst verrät durch seinen ureigenen Zweck, nämlich: Die eigene Unsicherheit auf den Leser umzulasten.

Möglicherweise sollte dabei auch nicht mehr herauskommen als ein fein säuberlich zusammengetragenes Adreßbuch, archivarisch untermauerte Verweise auf gespielte Partien, die, in einen historischen und inhaltlichen Kontext gestellt, einen bestimmten Blickwinkel auf den neuesten Stand der Forschung erlauben. Als Spurenlesen durch die Geschichte des Gambits ist es hingegen zu mager und marginal.

Man erfährt durchaus, wann und wo die einzelnen Gambits erstmals literarisch dokumentiert wurden, Stammpartien werden belegt und die zuweilen auftretende Verwirrung bei der differenten Namensgebung dargestellt, doch über das Schaufenster hinaus wird zum Themenstreit Gambit nicht wenig Erhellendes geboten.

Zudem kann man beim Verfolgen der nicht selten meilenweit verzweigten Varianten leicht ins Stolpern kommen. So sind Müller/Voigt in Adaptation zu sehr den Standards im englischsprachigen Raum verpflichtet geblieben. Ein Unterverzeichnis in der Gliederung wie B2b22233211) kann im Labyrinth der vielen Neben- und Untervarianten schon arg verwirren und unvermutet aus der Bahn werfen, auch wenn man kein ausgesprochener Kürbiskopf ist. Hier wurde die Neigung zur Exaktheit zu sehr auf Kosten der Systematik betrieben.

Aufs Wohlwollendste erfüllt wird dagegen der Anspruch deutscher Gründlichkeit. Zu den meisten Subvarianten gibt es ausreichend begleitendes Partienmaterial, wobei die Autoren mit scharfem Chirurgenmesser fehlerhafte Fortsetzungen von den korrekten Zügen erkennbar trennten und im Nebenlauf die Analyse mit dem Einflechten eigener Ideen und Empfehlungen bereicherten. Auf diese Weise gewinnt der Leser einen erweiterten Blick für die lebendige und nie endende Entwicklung auch alter Eröffnungssysteme.

Man kann nichts Schimpflicheres über ein Buch sagen, als daß es immerhin ein gutes Nachschlagewerk sei. Von diesem Verdruß ist das Buch jedoch freizusprechen. Karsten Müller, der als Steppke und "Peter Leko von der Elbe" sich von Kindesbeinen an durch den Betrieb im Hamburger Schachklub durchgebissen hat - zu seinen Anfangszeiten konnte er stehend gerademal über die Tischkante blicken -, konnte sich in den letzten Jahren durch excellente Endspielbücher einen Namen machen. So gesehen ist das vorliegende Buch eine Art Premiere für ihn, weil er darin von dem Ende einer Partie quasi an den eröffnenden Anfang zurückkehrt, was die Kinderkrankheiten, mit denen sich jedes Erstlingswerk herumschlagen muß, im gewissen Sinne entschuldigt.

Die Personalunion mit Martin Voigt hat das Buch in zweierlei Hinsicht beeinflußt. Voigt, der vor allem das Nordische Gambit im Team der Hamburger Königsspringer tapfer selbst gegen Großmeister aus der Bundesliga angewandt hat, macht aus seiner frenetischen Leidenschaft nie einen Hehl, so daß bestimmte Stellungsbeurteilungen ein wenig zu optimistisch ausfallen und in einem verzärtelten Rosé erscheinen, aber bei alledem nie den Boden des Seriösen verlassen. Gleichzeitig wird die Linie einer ernsten Hinterfragung der kritischen Abspiele aufs Jota genau aufrechterhalten, was insbesondere beim Nordischen Gambit, das allgemein von der vorherrschenden Theorie als zweifelhaft und umstritten abgetan wird, neue Pfade der Annäherung schafft. Hier wird nicht in den Himmel gelobt oder ein fauler Zauber versprochen, wohl aber dezidiert mit den Mitteln gebotener Wissenschaftlichkeit Pragmatismus vor blinde Parteinahme gestellt.

Auf der letzten Seite des Buches angelangt erfüllt sich weder die Nimmermehr-Attitüde der Gambitgegner noch die Jetzt- erst-recht-Plattitüde der Befürworter. Dies Buch will auch nicht als Natron verstanden werden für den übersäuerten Magen gestreßter Gambitfreunde, die gerne in weichen Pantoffeln schlurren und sich in ihrer stubenwarmen Nostalgieseligkeit die heile Welt der Romantik aufgeputzt wünschen.

Gewiß ist, daß nur ein Narr letzte Weisheiten sucht, und so ist im Kampf der Extreme zwischen asketischer Unlust und schwärmerischem Hedonismus eine Art Tao-Te-Ching des Mittelwegs herausgekommen, ein Salon gewissermaßen, in dem nach vollzogener Läuterung der stille Rebell und sanfte Schöngeist den Applaus der Menge erntet - nichts vom ungesitteten und ungestümen Lärm der Risikobereitschaft, für den ein Gambit hergebrachtermaßen steht, schon deshalb, weil auf der Warntafel an der Türschwelle zu lesen ist: Vorsicht vor der raschen Hand des Fehlgriffs.

Ansonsten jedoch und frei von jeder Häme eine gelungene studentische Examensleistung, zu schade, um es aus falscher Scheu nie in die Hand zu nehmen, doch wer sich mehr von der "Spring- hinein-ins-Ungewisse-und-kämpfe"-Mentalität wünscht, dem sei gesagt: Man ahnt es mehr, als daß man ihr tatsächlich begegnet.


Karsten Müller / Martin Voigt:
Danish Dynamite -
Explosive Gambits: the Danisch, Göring, Scotch and Urusov
Russell Enterprises, Inc. 2003