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REZENSION/200: Giorgio Agamben - Was von Auschwitz bleibt (SB)


Giorgio Agamben


Was von Auschwitz bleibt

Das Archiv und der Zeuge



"Was von Auschwitz bleibt" - diese Frage wird, sobald sie den Rahmen politischer und juristischer Moral überschreitet, meist mit der Aufhebung einst verläßlicher anthropologischer und historischer Gewißheiten beantwortet. Der sogenannte Zivilisationsbruch will das angeblich Unfaßbare gar nicht erst seiner numinosen Ferne entreißen, sondern setzt auf die Sicherung des Bestandes nämlicher Gewißheiten durch das Postulat einer Zäsur, die den Einbruch von etwas markiert, das dem Wirkungs- und Erfahrungshorizont des Menschen eigentlich fremd sei. Dennoch waren es Menschen, die den industriellen Massenmord an den europäischen Juden und anderem in ihren Augen minderwertigen Leben begangen.

Da Auschwitz mithin ein grundmenschliches Phänomen darstellt, kann seine Auslagerung ins Unmenschliche, mit dem der Katastrophe eine Leerstelle im Kompositum humanen Potentials zugewiesen wird, dem Anspruch auf ernsthafte Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen nicht genügen. Der italienische Rechtsphilosoph Giorgio Agamben verwahrt sich daher entschieden dagegen, Auschwitz in einer Sphäre der Unaussprechlichkeit anzusiedeln, in der man sich nicht nur des Problems menschlicher Willkür, sondern auch der Hinterfragung sinnstiftender Werte entzogen hätte:

Deswegen sollten diejenigen, die heute auf der Unsagbarkeit von Auschwitz insistieren, mit ihren Behauptungen vorsichtiger sein. Wenn sie damit sagen wollen, daß Auschwitz ein singuläres Ereignis war, angesichts dessen der Zeuge gewissermaßen jedes seiner Worte der Probe einer Unmöglichkeit zu sagen unterziehen muß, dann haben sie recht. Doch wenn sie Singularität mit Unsagbarkeit verbinden und aus Auschwitz eine absolut von der Sprache getrennte Realität machen, wenn sie im Muselmann die das Zeugnis konstituierende Relation zwischen der Unmöglichkeit und der Möglichkeit zu sagen durchtrennen, dann wiederholen sie unbewußt die Geste der Nationalsozialisten, sind sie insgeheim solidarisch mit dem arcanum imperii. (S. 137)

Agamben verschont seine Leser nicht von der Erkenntnis, daß die Täter keineswegs so unmenschliche Wesen sind, wie sie einem unbescholtenen Bürger in ihrer Monstrosität erscheinen müssen. Nicht-Menschen scheinen dem Autor eher die nicht nur vom Lagerpersonal, sondern auch den anderen Häftlingen Verworfenen zu sein. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen zu dem, was von Auschwitz bleibt, steht der Muselmann. Er ist in der Dialektik Agambens dort anzutreffen, wo die Antagonismen interagieren und im Ergebnis eine negative Anthropologie konstituieren, in der der Mensch erst aus seiner Verneinung heraus zum Menschen wird.

Agamben trägt vom "nackten Leben", dem der erste Band seiner aufsehenerregenden Homo sacer-Trilogie gewidmet ist und das den Menschen als quasi vorrechtliche Form frei verfügbarer Biomasse umschreibt, Schicht um Schicht der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Rationalität ab, um die Verkennung herauszuarbeiten, mit der in den geläufigen Berichten über Auschwitz das Schicksal der am meisten von der Vernichtungsmaschinerie betroffenen Häftlinge ignoriert wird. Der Muselmann führt eine schattenhafte Existenz am Rande des Todes, für die kein humanistisches Ideal mehr Gültigkeit besitzt. Der durch Hunger und Krankheit, die sich erschwerend zu den harten Überlebensbedingungen im Konzentrationslager hinzugesellen, auf einfachste kreatürliche Bedürfnisse reduzierte Muselmann ist für Agamben die Personifikation in Frage gestellter Werte und daher ein überaus erkenntnisträchtiger Grenzgänger von wesentlicher Relevanz für das, was von Auschwitz bleibt. Unter Verweis auf in seinen Augen widersprüchliche Aussagen Theodor W. Adornos siedelt Agamben den Muselmann in jenem Zwischenreich an, das sein Denken wie ein unsichtbarer, da wahrnehmungsadäquaten Kategorien fremder Faden durchzieht:

In diesem Schwanken verrät sich die Unfähigkeit der Vernunft, mit Gewißheit festzustellen, worin das spezifische Verbrechen von Auschwitz besteht. Zwei anscheinend widersprüchliche Anschuldigungen werden erhoben: einerseits soll Auschwitz den unbedingten Triumph des Todes über das Leben verwirklicht haben und andererseits die Herabwürdigung und Entwertung des Todes. Beide Anschuldigungen (und vielleicht jede Anschuldigung, da diese immer einen genuin juristischen Gestus darstellt) vermögen es nicht, das Verbrechen von Auschwitz zu erschöpfen, seinen Tatbestand zu definieren. Als sei dort etwas wie ein Gorgonenhaupt, das man um keinen Preis sehen kann - und sehen will -, etwas so Unerhörtes, daß man es begreiflich zu machen versucht, indem man es auf die extremen und zugleich vertrautesten Kategorien zurückführt: Leben und Tod, Würde und Unwürde. Zwischen ihnen oszilliert die wahre Chiffre von Auschwitz - der Muselmann, der 'Nerv des Lagers', den 'niemand sehen will' und der in jedes Zeugnis eine Lücke einschreibt -, ohne je ihren endgültigen Ort zu finden. Er, der Muselmann, ist wirklich das Gespenst, das unsere Erinnerung nicht zu begraben vermag, der Nicht-zu- Verabschiedende, mit dem wir weiterhin zu rechnen haben. Er zeigt sich einmal als der Nicht-Lebendige, als das Wesen, dessen Leben nicht wirklich Leben ist, und ein andermal als der, dessen Tod nicht Tod genannt werden kann, sondern nur 'Fabrikation von Leichen'; als Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod. In beiden Fällen wird die Menschlichkeit des Menschen selbst in Frage gestellt, weil der Mensch seine wichtigste Verbindung zu dem, was ihn als menschlich konstituiert, zerbrechen sieht: die Heiligkeit von Tod und Leben. Der Muselmann ist der Nicht- Mensch, der sich hartnäckig als Mensch zeigt, und das Humane, das nicht mehr vom Inhumanen getrennt werden kann. (S. 71)

Während der Muselmann die Hölle durchschritten hat und daher kompetentes Zeugnis ablegen könnte, bleibt dies dennoch dem Häftling überlassen, der die Hölle nicht in ihrer Gänze erlitten hat. Dessen Urteilsfähigkeit steht zur Debatte, weil seine Angaben Agamben zufolge in der Sphäre des Rechts in Urteile umgemünzt werden, die sich in ihrer sozialen Funktion selbst genügen, das heißt mit der anthropologischen und politischen Dimension des Problems der Massenvernichtung nichts zu tun haben. Sie wird in Frage gestellt, weil der Zeuge überlebt hat nicht nur aus purem Zufall oder Glück, sondern infolge seines Überlebenskampfes. Der Autor spricht in den Worten Primo Levis von einer "Grauzone", durch die sich die "lange Verbindungskette zwischen Opfern und Henkern" ziehe, und präzisiert die düstere Ahnung als Zone, "wo der Unterdrückte zum Unterdrücker und der Henker seinerseits als Opfer erscheint" (S. 18).

Als jemand, der nicht mehr Zeugnis ablegen kann, obwohl er am meisten dazu qualifiziert wäre, etwas über das Wesen des Vernichtungslagers zu vermitteln, verkörpert der Muselmann das Paradox einer Geschichtserkenntnis, die den Anspruch auf authentische Wiedergabe nicht einlösen kann und dennoch bestrebt ist, den Eindruck historischer Kohärenz zu erwecken, um die Indetermination der Zukunft, mithin die Unbestimmbarkeit der Gegenwart, nicht als fundamentales Problem jedes Kontrollanspruchs in Erscheinung treten zu lassen. Agamben geht dieses Problem mit der Darstellung einiger bekannter Erklärungsversuche zum Phänomen Auschwitz an, die dem Leser bereits die Möglichkeit nehmen, das Bodenlose und Abgründige der Vernichtungsmaschinerie durch das Siegel der Unbegreifbarkeit zu verschließen.

So erinnert er an die Beobachtung Hannah Arendts, "daß der überraschenden Bereitschaft der Deutschen aller Altersgruppen, in der Nachkriegszeit eine Kollektivschuld am Nationalsozialismus auf sich zu nehmen, sich schuldig zu fühlen für die Taten ihrer Eltern oder ihres Volkes, ein ebenso überraschender Mangel an gutem Willen gegenüberstand, wenn es um die Feststellung individueller Verantwortung und die Bestrafung einzelner Verbrechen ging" (S. 82). Demgegenüber läßt Agamben Primo Levi erklären, daß "man persönlich für Schuld und Irrtum einstehen" müsse, "weil sonst jede Spur von Zivilisation vom Erdboden verschwinden würde" (S. 83). In diesem Zusammenhang setzt Agamben sich auch mit der vielzitierten Scham der Überlebenden auseinander, die er ebenfalls der Gemeinplätze und Abstraktionen entkleidet, die ihr individuelles Schicksal auf theatralische Weise verzerren.

Der Philosoph beantwortet das Problem, die Ereignisse im Vernichtungslager an die Nachwelt zu übertragen, nicht damit, daß er die Distanz zwischen dem Überlebenden, der Bericht erstattet, und dem Muselmann, der erlitten hat, was dem Berichterstatter nicht angetan wurde, zu einem unüberbrückbaren Riß zwischen subjektiver Erfahrung und ihrer sprachlichen Vermittlung erklärt. Statt dessen entzündet er, ausgehend von Primo Levis Ausführung über die Phänomenologie des Zeugnisses, eine Kaskade dialektischer Verschränkungen, die sich im Kern auf das positive Menschenbild des Überlebenden stützt, das anhand seiner Negation durch den Muselmann die Voraussetzung für die Benennbarkeit des Unsagbaren schafft und die Frage beantwortet, wer das "Subjekt des Zeugnisses" sei:

Es scheint zunächst so, als lege der Mensch - der Überlebende - Zeugnis ab vom Nicht-Menschen, vom Muselmann. Doch wenn der Überlebende Zeugnis ablegt für den Muselmann - im technischen Sinn von 'im Namen von', 'als Bevollmächtigter' ('wir [sprechen], als Bevollmächtigte, an ihrer Stelle'), dann müßte nach dem Rechtsgrundsatz, daß die Handlungen der Bevollmächtigten dem zugerechnet werden, der die Vollmacht erteilt hat, in gewisser Weise der Muselmann derjenige sein, der Zeugnis ablegt. Daß heißt aber, daß derjenige, der im Menschen wirklich Zeugnis ablegt, der Nicht-Mensch ist; daß also der Mensch nichts anderes ist als der Mandatar des Nicht- Menschen, derjenige, der dem Nicht-Menschen seine Stimme leiht. Heißt, genauer gesagt, daß es keinen rechtmäßigen Inhaber des Zeugnisses gibt, daß sprechen und Zeugnis ablegen das Eintreten in eine schwindelerregende Bewegung bedeutet, in der etwas zu Grunde geht, sich gänzlich entsubjektiviert und verstummt - und etwas sich subjektiviert und spricht, ohne für sich selbst etwas zu sagen zu haben ('Bericht über Dinge, die [...] nicht am eigenen Leib erfahren wurden': Levi 2, S. 86). Im Zeugnis läßt der Sprachlose den Sprechenden sprechen und trägt derjenige, der spricht, in seinem eigenen Wort die Unmöglichkeit des Sprechens: Der Stumme und der Sprechende, der Nicht-Mensch und der Mensch treten in eine Zone der Ununterscheidbarkeit ein, in der es unmöglich ist, die Position des Subjekts zuzuweisen, die 'geträumte Substanz' des Ich zu identifizieren - und damit den wirklichen Zeugen. (S. 104f.)

Auch wenn Agamben seiner Profession als Rechtsphilosoph gemäß das Zeugnis als eine juristische Kategorie behandelt, so stellt er die Gültigkeit solcher vertrauten Verkehrsformen durch die Aufhebung ihrer Funktionalität sogleich wieder in Frage und taucht in die Sphäre anthropologischer Grundwidersprüche hinab, die die Themenstellung seines Buches als eine jeden Menschen angehende Frage ausweisen. Nicht nur der das Vernichtungslager Überlebende ist mit einer unüberbrückbar erscheinenden Distanz zur Welt, die jeder Beobachter zugleich zu nehmen und zu überwinden trachtet, ist mit der permanenten Negation seiner Existenz durch ihre Flüchtigkeit und die Totalität der sie bedingenden Kräfte konfrontiert. Agamben bietet jedoch durchaus eine Lösung für das Dilemma an, und das ist vielleicht das größte Problem seiner Philosophie.

Indem der das Humanum praktisch im Limbus zwischen allen Widersprüchen, zwischen positivistischem Menschenbild und seiner Negation verortet, gelangt er zu selbstevidenten Formeln, die die Frage nach dem nächsten Schritt aufwerfen, der nach dem Reigen gegenseitiger Aufhebungen in Angriff zu nehmen wäre. Wenn die Menschen nur Menschen seien, "insofern sie nicht-menschlich sind", wenn sie hinsichtlich der Gewaltfrage nur Menschen seien, "insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen" (S. 105), dann schlägt die Negation in einen wiederum positivistischen Bestand, man könnte auch sagen, in eine Antwort um. Dieses Vorgehen läßt sich unendlich fortsetzen und bietet wenig Anhaltspunkte für eine Frageentwicklung, die den Menschen in die Lage versetzte, die Konfrontation mit der Aussichtslosigkeit einer keineswegs nur in den Kategorien der Anschauung, sondern ganz materiell zwingenden und schmerzerfüllten Welt zu treten.

Das wird besonders deutlich, wenn Agamben sich den Grundlagen des menschlichen Bewußtseins widmet und seine ontologischen "Einschreibungen" zum Ausweis der Vergeblichkeit einer Zeugenschaft werden, bei der es dem Rechtsphilosophen nicht nur um die Überwindung kommunikativer Grenzen geht, sondern darum, dem Menschen wider alle Flüchtigkeit und Vergänglichkeit Existenz zu verleihen:

Eben weil das Bewußtsein keine andere Konsistenz besitzt als die der Sprache, ist all das, was Philosophie und Psychologie dort entdeckt haben wollten, nichts als ein Schatten der Sprache, eine 'geträumte Substanz'. Subjektivität und Bewußtsein, in denen unsere Kultur ihr festes Fundament glaubte gefunden zu haben, beruhen auf dem Zerbrechlichsten und Prekärsten der Welt: Dem sprachlichen Ereignis. Doch dieses labile Fundament gewinnt Stärke - um erneut zusammenzubrechen -, sooft wir die Sprache in Gang setzen, um zu sprechen, im nichtigsten Geplauder wie im ein für allemal uns selbst und den anderen gegebenen Wort. (S. 106f.)

Agambens Plädoyer für das Schwache und Haltlose, das Zarte und Verletzliche hat etwas überaus Symphatisches, gerade weil es an Fragen rührt, denen man sich normalerweise nicht gerne stellt, die sich in den existentiellen Grenzbereichen des Vernichtungslagers jedoch am wenigsten verleugnen lassen. Sein Versuch, dem Flüchtigen und Vergänglichen menschlichen Daseins eine Beständigkeit abzutrotzen, die nicht an den Parametern des Verbrauchs und des Sterbens vergeht, sondern einen Raum inmitten der permanenten Widerlegung jedes Anspruchs auf Dauer eröffnet, ist jedoch so lange zum Scheitern verurteilt, solange er ihn als Manifestation einer Sprache verfolgt, deren perspektivische Eröffnungen gerade deshalb über sie hinausweisen, weil sie dem fiktiven und fragmentierenden Charakter sprachlicher Operationen entspringen, das heißt stets auf die grundlegende sprachliche Funktion des Trennens und Teilens zurückgeworfen werden.

Verkürzt könnte man auch von einem Fluchtraum sprechen, der aus derselben Substanz generiert wird, die Agamben an der Grenze des Sprachlichen ihrer unausweichlichen Widersprüchlichkeit überführt. Er siedelt diesen Raum unter dem Terminus des Restes an, dessen, das bleibt, wenn man die Begriffe ihrer teleologischen Suggestion entkleidet, man könne "sich in einer erreichten, vollendeten Menschlichkeit verbinden, sich zu einer verwirklichten Identität zusammenfügen" (S. 139). Agamben widerspricht zwar einer Kausalität, die Wirkungen postuliert und diese mit zu erstrebenden Zielen verwechselt, doch resultiert sein vermeintlich akausaler Geschichtsbegriff, demzufolge "das, was die Zeit nicht in Richtung der Zukunft oder einfach auf die Vergangenheit hin erfüllt, sondern in der Überschreitung eines Mittleren" (S. 139) bewirke, lediglich in einer horizontalen Äquivalenz zur vertikalen Ordnung des Vorher und Nachher. Mit dem bloßen Ersetzen eines Positivismus, dem des Ziels, durch einen anderen, dem des Rests, entkommt man der höheren Mathematik sprachlicher Kausalevidenz jedenfalls nicht.

Interessant und vor allem eminent politisch wird das Buch überall dort, wo Agamben sich der prinzipiellen Machtfrage annähert, die das "nackte Leben" nur aus der Vergeblichkeit seiner Ohnmacht heraus stellen kann und daher tunlichst vermeidet. Indem er Michel Foucaults Begriff der "Bio-Macht" und Carl Schmitts Diktum, das "souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", zu konstitutiven Faktoren vergesellschafteter Leiblichkeit erhebt, definiert er "als spezifischstes Merkmal der Biopolitik des 20. Jahrhunderts":

nicht mehr sterben machen oder leben machen, sondern überleben machen. Nicht das Leben oder der Tod, sondern die Erzeugung eines modulierbaren und virtuell unendlichen Überlebens ist die entscheidende Leistung der Bio-Macht unserer Zeit. Es handelt sich darum, im Menschen jedesmal das organische vom animalischen Leben zu trennen, das Nicht- Menschliche vom Menschlichen, den Muselmann vom Zeugen, das durch die Reanimationstechniken in Gang gehaltene vegetative Leben vom bewußten Leben, bis ein Grenzpunkt erreicht wird, der, wie die geopolitischen Grenzen, im wesentlichen beweglich ist und sich mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen und politischen Technologien verschiebt. Der höchste Ehrgeiz der Bio-Macht besteht darin, in einem menschlichen Körper die absolute Trennung von Lebewesen und sprechendem Wesen, von zoe und Bios, von Nicht-Mensch und Mensch zu erzeugen: das Überleben. (S. 135f.)

Die sich hieran anschließenden Überlegungen Agambens zur biopolitischen Bedingtheit des Menschen verschaffen dem Muselmann eine erstaunliche Aktualität und lassen erkennen, daß es gute Gründe dafür gibt, sich mit dem nationalsozialistischen System der Menschenvernichtung in einem nicht nur rückwärts gewandten, sondern heutige politische Entwicklungen kritisch begleitenden Sinne zu beschäftigen. Das betrifft nicht nur vertraut anmutende Ausreden wie den angeblichen Befehlsnotstand amerikanischer Folterer im Irak oder die machiavellistischen Begründungen, mit denen heute einst als ehern geltende Rechtsgrundsätze außer Kraft gesetzt werden, sondern einen prinzipiellen Umgang herrschender Eliten und Institutionen mit dem "nackten Leben", das zugleich total verfügbar und total unsichtbar sein soll:

Im Muselmann wollte die Bio-Macht ihr letztes arcanum schaffen, ein von jeder Möglichkeit des Zeugnisses abgetrenntes Überleben, eine Art absoluter biopolitischer Substanz, die in ihrer Isolierung die Zuweisung jeglicher demographischer, ethnischer, nationaler oder politischer Identität zuläßt. (S. 136)

Agamben macht mit seiner negativen Anthropologie die Austauschbarkeit und Verdinglichung des Menschen auf eine Weise kenntlich und operabel, die zu weiterreichenden gesellschaftlichen und ökonomischen Analysen Anlaß gibt, selbst wenn der Autor diese nicht intendiert haben mag. Daß seine Subjektontologie in Operationen der gegenseitigen Aufhebung, für die er das Überleben gegen das Leben, das Nicht-Menschliche gegen das Menschliche, den Lebenden gegen den Sprechenden stellt, schlußendlich zum Resultat einer "untrennbaren Teilung" gelangt, die die Relevanz des Zeugnisses bestätigt, gerade weil "es eine Unmöglichkeit zu sagen gab, weil es einen Zeugen nur gibt, wo eine Entsubjektivierung stattfand" (S. 137), läßt Agamben auf dem sicheren Terrain eben eines Zeugen verbleiben. Bei seinem Vorstoß zum Problem menschlicher Bedingtheit macht er auf halber Strecke halt und kehrt schließlich in die Konvention vertrauter Gefilde zurück, da das "nackte Leben" Gegenstand einer Betrachtung bleibt und nicht Position im Streit um seine Emanzipation wird. Das ist jedoch bei weitem mehr, als viele seiner Fachkollegen zu wagen bereit sind, wenn sie die Harmonisierung der Widersprüche gar nicht erst in Frage stellen und so zumindest als solche kenntlich machen.

Auch wenn es fünf Jahre gedauert hat, bis man sich dazu entschieden hat, den 1998 in seiner italienischen Originalausgabe erschienenen dritten Band der Homo sacer-Trilogie Giorgio Agambens ins Deutsche zu übertragen, ist dem Suhrkamp Verlag zu danken, daß er ihn dem deutschen Publikum nicht vorenthalten hat. Zudem muß lobend erwähnt werden, daß das von Stefan Monhardt hervorragend übersetzte Werk in alter deutscher Rechtschreibung erschienen ist.


Giorgio Agamben
Was von Auschwitz bleibt
Das Archiv und der Zeuge
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
159 Seiten, 9,- Euro
ISBN 3-518-12300-9