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REZENSION/174: G. Raeithel - Geschichte der nordamerikanischen Kultur (SB)


Gert Raeithel


Geschichte der nordamerikanischen Kultur (1600 bis 2002)



Der Anfang des 21. Jahrhunderts steht ganz im Zeichen des sogenannten Unilateralismus der einzig verbliebenen Supermacht USA. Führt Washington seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 einen gerechten Krieg gegen das Böse, oder baut es einfach seine Führungsposition aus? Ist die Bereitschaft der Regierung von George W. Bush, auf komplizierte Probleme globaler Größenordnung wie der zunehmenden Verelendung der Dritten Welt oder der Proliferation von atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen militärisch zu antworten, ein Zeichen der Schwäche oder der Stärke? Läßt sich auf Jahrzehnte hinaus eine weltweite Pax Americana errichten, oder befinden sich die Vereinigten Staaten historisch gesehen bereits auf dem absteigenden Ast? Ist dem Pentagon mit dem Einmarsch in Afghanistan und in den Irak ein entscheidender Schritt hin zur Befestigung seiner Kontrolle über die eurasische Landmasse einschließlich der Ölressourcen des Mittleren Ostens und der Region um das Kaspische Meer gelungen oder wird das US-Militär im Zweistromland und am Hindukusch sein zweites Vietnam erleben? Die Brisanz dieser Fragen kann man daran erkennen, daß darauf zahlreiche namhafte Politologen wie Noam Chomsky, Chalmers Johnson, Michael Moore, Immanuel Todd, Detlef Junker, Tariq Ali, Conrad Schuhler und Michael Mann mit ihren aktuellen Büchern Antwort zu geben suchen.

Wer verstehen will, "was Amerika antreibt", dem sind die drei Bände "Geschichte der nordamerikanischen Kultur (1600 bis 2002)" von Gert Raeithel zu empfehlen. Zurecht ist dieses Werk, das 1995 erstmals erschienen und jetzt in einer aktualisierten und erweiterten Ausgabe herausgekommen ist, von der deutschen Presse in den allerhöchsten Tönen gelobt worden. In drei Bänden - 1. Vom Puritanismus bis zum Bürgerkrieg (1600-1860); 2. Vom Bürgerkrieg bis zum New Deal (1860- 1930); 3. Vom New Deal bis zur Gegenwart (1930-2002) - bietet Raeithel dem Leser eine informative, spannende, witzige und absolut kurzweilige Einführung in die Geschichte der Kolonisierung der Neuen Welt und der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika, welche - ob es einem gefällt oder nicht - seit beinahe einem Jahrhundert wie kein zweites Staatengebilde das Geschick der Menschheit bestimmen.

Raeithel, Professor für Amerikanistik an der Universität München, habilitierte 1972 über die Sozialfürsorgesysteme amerikanischer Großstädte. Es folgten Lehr- und Forschungsaufträge an den Universitäten von Denver, Stanford, Venedig und Saigon. In den letzten dreißig Jahren hat Raeithel eine ganze Reihe von Publikationen zu verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens jenseits des Nordatlantiks veröffentlicht. Hierzu gehören "Amerikanische Provinzzeitungen", 1978; "Go West - Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner", 1981, 1993; "Opfer der Gesellschaft - Armut in den USA", 1982; "Lach, wenn du kannst - Der aggressive Witz von und über Amerikas Minderheiten", 1984; "Washington und einige seiner Bewunderer", 1987; "Der ethnische Witz - Am Beispiel Nordamerikas", 1996; "Amerikas Heilige der letzten Tage - Mormonische Lebensläufe", 1997. Seit 1994 gibt er den Deutsch- Amerikanischen Almanach heraus. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß sich Raeithel in seinem Fach bestens auskennt, doch es verblüffen bei der vorliegenden Lektüre immer wieder der Humor und die Leichtigkeit, mit denen er den Leser durch die Niederungen der amerikanischen Kulturgeschichte geleitet.

Aufschlußreich wie bisweilen auch recht amüsant sind die häufigen, aber keinesfalls übermäßigen Hinweise auf die Impulse, welche von deutschen Auswanderern in Nordamerika ausgingen. Krefelder Mennoniten unter Franz Pastorius haben 1688 - gerade einmal fünf Jahre nach der Landung in Philadelphia - die erste Resolution gegen die Sklaverei verfaßt. Von den 48.000 Soldaten, welche die Briten im Unabhängigkeitskrieg unter Waffen hatten, waren 30.000 deutsche Fremdenlegionäre - die gefürchteten "Hessen", von denen einer laut Nathaniel Hawthornes berühmter, vor kurzem von Tim Burton verfilmter Geistergeschichte "The Legend of Sleepy Hollow" noch Anfang des 19. Jahrhunderts als "kopfloser Reiter" unter den Bürgern New Englands Angst und Schrecken verbreitet haben soll. Nicht zu vergessen ist der legendäre Aufstieg des aus dem badischen Walldorf stammenden Metzgersohns Johann Jacob Astor, der es als Pelzhändler, Grundstückspekulant und Kriegsgewinnler vor dem Bürgerkrieg zum reichsten Mann Amerikas schaffte. Ein gutes Beispiel für den leichten, ironischen Ton, den Raeithel immer wieder gekonnt anklingen läßt, sind folgende Einlassungen im zweiten Band:

Allweil sparsam und ordentlich, sauber und anständig, so steht der deutschamerikanische Bauer in den Geschichtsbüchern da. Bei der Lektüre zeitgenössischer Quellen ergibt sich ein weniger geschöntes Bild. Dort wurde der Deutsche in Amerika oftmals als faul, herrisch, stur und trinkfreudig charakterisiert. Luise Weil schämte sich ihrer ehemaligen Landsleute, 'indem diese am Sonntag scharenweise in die Wirtshäuser ziehen und durch Lärmen und unmäßiges Trinken für die Amerikaner ein Gegenstand des Ärgernisses und der Verachtung werden'. Selbst die vielgepriesene Assimilationsbereitschaft der Deutschen hatte ihre Schattenseite. Deutsche Bauern in Virginia und in anderen Südstaaten hielten sich ihre Sklaven zur Mithilfe in Haus und Feld. In der Personenbeschreibung eines entlaufenen Sklaven hieß es in einem Zeitungsinserat: 'he generally speaks the German language'. (S. 135)

Selbst denjenigen, die sich in der Kultur, Geschichte und Politik der USA gut auskennen, bietet Raeithels Werk jede Menge Hintergrundinformationen und skurrile Anekdoten. Neben längeren Abhandlungen über so bekannte Größen wie Benjamin Franklin, Mark Twain, Thomas Edison, John F. Kennedy und Andy Warhol oder Themen wie den Bürgerkrieg, den McCarthyismus, das Fernsehen oder den Jazz werden fast in Vergessenheit geratene Entwicklungen wie der heroische Kampf der Progressive Movement um soziale Gerechtigkeit in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und hierzulande kaum wahrgenommene, aber geschichtlich einflußreiche Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Ayn Rand beleuchtet. Zur aktuellen Bedeutung der Objektivistin und ihrer Werke schreibt Raeithel im 3. Band:

The Virtue of Selfishness verlangt Unterwerfung unter das Moralgesetz des Stärkeren wie in einem früheren Amerika, denn die Vereinigten Staaten waren aus objektivistischer Sicht 'die erste moralische Gesellschaft in der Geschichte'. Der Objektivismus ist eine Philosophie des 'hands off!': 'Kultur ist der Prozeß, den Menschen von anderen Menschen zu befreien'. Der Staat hat nur noch polizeiliche und militärische Aufgaben, keine sozialen. (S. 292)

Und weiter:

Alan Greenspan, einer der engsten Vertrauten Rands, wurde 1974 Wirtschaftsberater von Richard Nixon und unter Ronald Reagan Chef der Bundesreservebank. Reagan freilich war für Rand kein willkommener Präsidentschaftskandidat, weil er gegen die Abtreibung auftrat und ihrer Meinung nach keine Ideologie besaß. Die Romane Fountainhead und Atlas Shrugged wurden noch um 1970 jährlich hundert- bis zweihunderttausendmal abgesetzt. Eine billige Ausgabe von Atlas Shrugged wird nach wie vor in fünfzigtausend Exemplaren pro Jahr nachgedruckt. 'Moral Majority' und Neokonservative haben Ayn Rand für sich wiederentdeckt. (S. 294)

Ohne jeden Anflug von sogenanntem Anti-Amerikanismus, dafür um so mehr aus Bewunderung für sein Sujet setzt sich Raeithel recht kritisch mit dem Exceptionalism auseinander - jener Urideologie der Amerikaner, im gelobten Land zu leben, an dessen Gesellschaftsmodell sich die restliche Welt zu orientieren hätte, wollte sie den Anschluß an den menschlichen Fortschritt nicht verlieren. Gerade vor wenigen Tagen hat US-Präsident Bush mit seiner hochtrabenden "Vision" von der "Demokratisierung" der islamischen Welt ein Paradebeispiel für jenes von Raeithel kritisierte, "ethische Überlegenheitsgefühl" geliefert, welches seit den Tagen Woodrow Wilsons die "internationalen Auftritte" von US-Politikern kennzeichnet. Woraus sich das Sendungsbewußtsein, der fast messianische Führungsanspruch Washingtons, speist, läßt sich besser nachvollziehen, hat man die "Geschichte der nordamerikanischen Kultur" gelesen. Die unterhaltsame Sprache des Autors wie auch die liebevolle Ausstattung der drei Bände durch den Verlag Zweitaussendeins sorgen dafür, daß die Bewältigung eines fast 1700seitigen Mammutwerks zum reinen Lesegenuß wird. Mit diesem Klassiker Raeithels kommt jeder Bibliophile voll auf seine Kosten.

12. November 2003


Gert Raeithel
Geschichte der nordamerikanischen Kultur (1600-2002)
aktualisiert und erweitert im
Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003
Drei Bände, 1663 Seiten, 145 Abbildungen
ISBN 3-86150-603-3.