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REZENSION/172: "Zacarias Moussaoui, mein Bruder" (11. September) (SB)


Abd Samad Moussaoui unter Mitarbeit von Florence Bouquillat


Zacarias Moussaoui, mein Bruder



Zacarias Moussaoui ist die bisher einzige Person, gegen die in Verbindung mit dem Flugzeuganschlägen von New York und Washington Anklage in den USA erhoben worden ist. Den Medien gilt der 1968 geborene Franzose marokkanischer Herkunft als sogenannter "20. Luftpirat", der nur wegen seiner rechtzeitigen Festnahme am 17. August 2001, die aufgrund auffälligen Verhaltens an einer Flugschule in Minnesota und eines abgelaufenen Visums erfolgte, nicht in der Maschine United-Airlines-Flug-93 saß, die an jenem weltbewegenden Tag über Pennsylvania abstürzen sollte. Moussaoui selbst streitet alle Vorwürfe hinsichtlich einer möglichen Verwicklung seiner Person in die Anschläge vom 11. September 2001 vehement ab. Gleichzeitig jedoch bekennt er sich zu Osama Bin Laden und nennt sich selbst einen "Sklaven Allahs".

Derzeit tritt das Verfahren gegen Moussaoui vor einem Gericht in Alexandria im Bundesstaat Virginia auf der Stelle. Der 35jährige französische Islamist, der sich selbst verteidigt, hat beantragt, mehrere, in den letzten Monaten von Geheimdienst und Militär der USA angeblich gefaßte, mutmaßliche Al-Kaida-Mitglieder zu seinem Fall befragen zu dürfen. Bei den drei potentiellen Entlastungszeugen handelt es sich um Khalid Shaikh Mohammed, der als Chefplaner der Flugzeuganschläge gilt, Mustafa Ahmed Hawsawi, den mutmaßlichen Zahlmeister der Al Kaida, und Ramsi Binalschibh, der zwischenzeitlich zusammen mit Mohammed Atta, dem mutmaßlichen Kopf der Selbstmordattentäter, in der Hamburger Marienstraße gewohnt hat. Alle drei "Topterroristen" werden angeblich als sogenannte "feindliche Kombattanten" an einem oder mehreren geheimen Orten von Mitgliedern des US-Sicherheitsapparats verhört. In allen drei Fällen hat die zuständige Bundesrichterin Leonie Brinkema im Laufe der letzten Monate angeordnet, daß Moussaoui Zugang zu den Gesinnungsgenossen gewährt werden soll - notfalls auch über eine Videoverbindung. Wegen der Weigerung der US-Regierung, dieser Anordnung nachzukommen, hat Brinkema Anfang Oktober die Möglichkeit einer Todesstrafe für Moussaoui ausgesetzt - ein Urteil, gegen das Staatsanwaltschaft und Justizministerium ihrerseits Revision angekündigt haben.

Öffentlich ist recht wenig über Moussaoui bekannt geworden. Durch seine konfrontative, antiwestliche Haltung und seine häufig recht unverblümte Sprache im Briefverkehr mit Richterin Brinkema wird er in der Presse häufig als geistig instabil geschildert. Die am häufigsten kolportierte Angabe über ihn, wonach er deshalb in der Flugschule in Minnesota aufgefallen war, weil er nur das Fliegen einer Großraummaschine, nicht aber das Starten oder Landen lernen wollte, ist nur eine Legende. Wie der Pulitzerpreisträger Seymour Hersh letztes Jahr herausfand, erregte Moussaoui den Verdacht seines Fluglehrers, als er sauer auf eine offen rassistische Frage hinsichtlich der Bräuche von Mekka-Pilgern reagierte.

Wegen des Mangels an echten Informationen über den Mann, der möglicherweise mit den Attentäter vom 11. September in Verbindung stand, an dem sich jedoch die Justizbehörden in den USA seit einiger Zeit die Zähne ausbeißen, ist das Buch "Zacarias Moussaoui, mein Bruder" von Abd Sammad Moussaoui zu empfehlen. Zusammen mit Florence Bouquillat, einer Journalistin des Fernsehsenders France 2, hat der ein Jahr ältere Bruder Moussaouis, Abd Samad, ein Berufsschullehrer für Elektrotechnik, kurzweilig und einfühlsam die Kinder- und Jugendjahre jenes Mannes, den die Welt anhand von Polizeifotos und reißerischer Berichterstattung lediglich als grimmig dreinschauenden, islamischen "Terroristen" kennt, geschildert.

Zusammen mit zwei älteren Schwestern wachsen Abd Samad und Zacarias Moussaoui als Kinder einer alleinerziehenden, kleinbürgerlichen Marokkanerin zunächst im elsässischen Mulhouse, später im südfranzösischen Narbonne auf. Das Leben der Emigrantenkinder ist alles andere als einfach. Die Familie ist zerrüttet. Der Vater, ein Fliesenleger, landet immer wieder im Gefängnis. Die Mutter, offenbar unfähig zu lieben, drangsaliert und schikaniert die eigenen Kinder. Abd Samad und Zacarias, die beide relativ dunkle Haut haben, müssen ab 1982 aufgrund des Erstarkens der Rechtsextremen unter Jean-Marie Le Pen erleben, wie in Frankreich der alltägliche Rassismus zunimmt. Hinzu kommt die Lage in der islamischen Welt, die sich ab 1991 katastrophal verschlechtert. Dazu schreibt Abd Samad Moussaoui, der zum Zeitpunkt von "Operation Wüstensturm" vierzehn Jahre alt war:

Golfkrieg, Bosnien, Algerien, Afghanistan, Tschetschenien... überall in der Welt werden Muslime verfolgt. Das empörte uns. Nicht nur Zacarias empfand das so. Alle Muslime unseres Alters und selbst die jüngeren waren schockiert. Sie verspürten in ihrem tiefsten Inneren, an ihrem eigenen Leib die Ungerechtigkeit, denen ihre Glaubensbrüder zum Opfer fielen. Diejenigen, die das besonders stark wahrnahmen, wurden mit der Zeit sehr dünnhäutig. Sie glaubten nicht mehr an die Moral und die Ethik der Regierenden. So wurden einige von ihnen anfällig für totalitäre fanatische Ideologien.

Zu letzteren zählt Abd Samad die vor allem von reichen Saudis finanziell unterstützte islamische Glaubensrichtung des Wahhabismus. Den Wahhabiten wirft er vor, Zwietracht nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch zwischen den islamischen Ländern und denen des Westens zu säen. Ihm zufolge mißbrauchen die Wahhabiten junge desorientierte Muslime als Kanonenfutter für die eigenen politischen Zwecke. Den tiefen Groll, den Abd Samad Moussaoui gegen die Wahhabiten hegt, weil sie ihm seinen über alles geliebten Bruder entfremdet haben, ist dem Text anzumerken.

Daß die Wahhabiten besonders engstirnig sind, zeigt der Autor unter anderem anhand eines Exkurses über deren "skandalöse" Begründung, warum Frauen kein Auto fahren sollten. Dennoch reicht der Totalitarismusbegriff, so häufig er in diesem Buch auch benutzt wird, nicht aus, um das Phänomen des "Islamismus" beziehungsweise des islamistischen "Terrorismus" zu erklären. Zacarias Moussaoui geriet erst in zwielichtige Kreise, als er Ende 1991 nach einer Reihe beruflicher Niederlagen nach London mit dem Ziel ging, dort Englisch zu lernen und sich dann als Kaufmann zwischen der arabischen Welt und den westlichen Industrienationen zu betätigen. Im Laufe der Jahre werden die Ansichten Zacarias Moussaouis immer extremer - eine Entwicklung, welche sein Bruder in jedem Sommer bei Besuchen in Frankreich mit Bestürzung und Enttäuschung verfolgen muß. Im Sommer 1996 kommt es zum Bruch, als Abd Samad und seine Frau während eines Urlaubs in Marokko erfahren, Zacarias hätte sie kurz zuvor bei den eigenen Verwandten als "Ungläubige" beschimpft. Seitdem haben die beiden Brüder nicht mehr miteinander gesprochen.

Abd Samad wirft den Behörden Großbritanniens und der USA vor, jahrelang zuviel Nachsicht im Umgang mit den Wahhabiten geübt zu haben. Möglicherweise greift er mit seiner Kritik an London und Washington zu kurz. Über Jahrzehnte hinweg haben die Angloamerikaner den religiösen Fundamentalismus in der muslimischen Welt gefördert, um ihn als Instrument gegen progressive, panarabische und linksgerichtete Kräfte einsetzen zu können. Wie man aus dem letztes Jahr ebenfalls beim Pendo-Verlag erschienenen Buch Jean-Charles Brisards und Guillaume Dasquiés "Die verbotene Wahrheit - Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden" weiß, haben islamistische Freischärler 1996 im Auftrag der britischen Regierung einen blutigen Anschlag auf den libyschen Revolutionsführer Muammar Gaddafi durchgeführt. Im selben Jahr hat bekanntlich auch der Sudan der Regierung Bill Clinton angeboten, Osama Bin Laden an die US-Behörden auszuliefern. Washington winkte jedoch ab und ließ den ehemaligen CIA- Verbindungsmann nach Afghanistan weiterziehen.

Zurecht stellt Abd Samad Moussaoui gegen Ende seines Buchs fest: "Wenn wir diesem Räderwerk des Terrors wirklich ein Ende setzen wollen, müssen wir uns unbequemen Fragen stellen. Warum fördern bestimmte Staaten die wahhabitische Propaganda und Parteien wie die 'Muslim-Brüder'? Der Weg all derer, die der Beteiligung an den fraglichen Attentaten beschuldigt werden, führt durch Großbritannien." Mit ähnlichen Worten wurde in einem Artikel der liberalen britischen Tageszeitung Guardian vom 14. Februar 2002 unter der Überschrift "The British connection" ein namentlich nicht genanntes, hochrangiges Mitglied des deutschen Geheimdienstes zitiert: "Alle Spuren führen nach London. Alle Straßen führen nach London."

Der Verdacht, daß es sich beim "20. Luftpiraten" Zacarias Moussaoui und bei Omar Scheich, der im Auftrag des pakistanischen Geheimdienstes den Flugunterricht von Atta und Co. in den USA mitfinanziert hat und der in die Ermordung des Wall-Street-Journal- Reporters Daniel Pearl in Karatschi Anfang 2002 verwickelt war, sowie bei dem sogenannten "Schuhbomber" Richard Reid um Kontaktpersonen, gar Agenten des britischen Geheimdienstes handeln könnte, ist nicht unbegründet. Alle drei verkehrten in den islamisten Kreisen um die beiden verrufenen Prediger Abu Qatada und Abu Hamza in London. Dort sind sie für was auch immer, von wem auch immer angeworben worden.

Wegen des fehlenden Kontaktes zwischen den beiden Moussaoui-Brüdern erfährt man aus dem Buch von Abd Samad leider nichts darüber, warum Ende August, Anfang September 2001 die Anti-Terror-Spezialisten in Washington nachweislich die Ermittlungen des FBI in Minneapolis gegen den verdächtigen, bereits festgenommenen Zacarias mehrmals torpediert, die Hinweise des französischen Geheimdienstes relativiert und somit eine Spur, welche möglicherweise zur Verhinderung der Flugzeuganschläge geführt hätte, ignoriert haben. Man kann nur hoffen, daß es irgendwann zu einer Versöhnung zwischen den beiden Brüdern kommt und daß dann Abd Samad vielleicht ein weiteres Buch über die Jahre von Zacarias Moussaoui im Dunstkreis der "Al Kaida" schreibt.

20. Oktober 2003


Abd Samad Moussaoui unter Mitarbeit von Florence Bouquillat
Zacarias Moussaoui, mein Bruder
Aus dem Französischen (Originaltitel: "Zacarias, mon Frère")
von Karola Bartsch und Jutta Kaspar,
Pendo Verlag, Zürich 2002
176 Seiten
ISBN 3-85842-541-9.