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REZENSION/138: Raid Sabbah - Der Tod ist ein Geschenk (Palästina) (SB)


Raid Sabbah


Der Tod ist ein Geschenk

Die Geschichte eines Selbstmordattentäters



"Der Tod ist ein Geschenk" - schon der Titel der "Geschichte eines Selbstmordattentäters" verrät, daß man es beim vorliegenden Buch von Raid Sabbah nicht mit der sozialwissenschaftlichen Untersuchung eines Phänomens des politischen Extremismus zu tun hat, sondern einer persönlichen Stellungnahme zu einem heiklen Thema. Nicht nur die grenzüberschreitende Qualität der Gewalttat, mit der ein Selbstmordattentäter dem Leben anderer Menschen wie dem seinen ein Ende setzt, sondern auch die politische Verwerflichkeit dieser Form der Kriegsführung machen den Umgang mit der Geschichte des palästinensischen Intifada-Aktivisten Said zu einem gleichzeitig prekären wie aufschlußreichen Unterfangen.

Die Familie des Journalisten, Drehbuchautoren und Dokumentarfilmers Raid Sabbah stammt aus dem Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland, und dorthin reiste der 29jährige in Deutschland lebende Palästinenser, um die Geschichte des gleichaltrigen Said aufzuschreiben. Natürlich ist das nicht der richtige Name des stets vermummten Gesprächspartners Sabbahs, handelt es sich doch um einen Mann, der sich der Organisation Dschihad Al Islami, hierzulande meist Islamischer Dschihad genannt, als Märtyrer zur Verfügung stellen wollte. Wie es dazu kam, hat Sabbah in mehreren Gesprächen, die er des nachts unter konspirativen Bedingungen mit Said führte, erfahren und aus den dabei entstandenen Aufzeichnungen die Lebensgeschichte eines Palästinensers verfaßt, dessen leidvolle Erfahrungen exemplarisch für das Schicksal seines ganzes Volkes sind.

Dabei hält sich der Autor mit der eigenen Geschichte weitgehend im Hintergrund. Sie schildert vor allem die Umstände, unter denen Sabbah seine Recherchen in Dschenin angestellt hat, und markiert den zeitlichen Rahmen seiner Reise, die mit der Rückkehr des Autors nach Deutschland am 21. März 2002 endet. Sein Gesprächspartner kommt in den Kämpfen, die nach Einmarsch der israelischen Armee in Dschenin am 2. April beginnen und in der Verwüstung eines Großteils des Flüchtlingslager enden, ums Leben. Die Ereignisse in Dschenin haben aufgrund der Zerstörungswut, mit der die Angreifer das verwinkelte Lager einebneten, und der von den USA verhinderten internationalen Untersuchung des brutalen Vorgehens der israelischen Streitkräfte, das der palästinensischen Seite zufolge in einem Massaker resultierte, weltweite Beachtung erfahren.

Wer die Geschichte Saids liest, die den größten Teil des Buches einnimmt und in autobiografischer Ich-Form verfaßt ist, erhält einen Einblick in die Leiden der Palästinenser, der verständlich macht, wieso die Bewohner Dschenins den israelischen Eindringlingen einen Kampf geliefert haben, der nur durch den Einsatz massiver Zerstörungsmittel zugunsten der Angreifer entschieden werden konnte. Wie die Familie Saids von jüdischen Siedlern in Zusammenarbeit mit der israelischen Militärverwaltung von ihrem Land vertrieben wurde, das sie in der Nähe von Ramallah bestellte, wirkt aus der Sicht eines Betroffenen mit einer Intensität auf den Leser ein, die ihn nicht mehr weghören lassen wird, wenn in den Nachrichten wieder einmal lakonisch von Häuserzerstörungen durch die israelische Armee berichtet wird.

Zehn Minuten Zeit hat die Familie, einige Bestandteile des hart erarbeiteten gemeinsamen Lebenswerks zu retten, bevor das Haus und sein ganzer Inhalt mit einer Planierraupe dem Erdboden gleichgemacht wird. Unter den Soldaten befindet sich jener Israeli, von dem Said nur weiß, daß er über Einfluß verfügt und möglicherweise dem Geheimdienst angehört. Er hat den Weg der Familie bereits mehrfach gekreuzt und kein Hehl aus seinen feindseligen Absichten gemacht. So hat er den kleinen Said bei einem früheren Anlaß mit einer Pistole bedroht, als dieser seinen Anweisungen nicht sofort Folge leistete, und dafür gesorgt, das dessen Vater genügend Angst entwickelte, um sich nicht mehr gegen die Enteignung zu wehren. Nun erklärt der Peiniger, der Said schon bis in seine Träume verfolgt, warum die Familie Opfer einer Vertreibungsaktion wurde:

Dieses Land ist jüdisches Gebiet. Es gehört uns. Das ist das biblische Judäa und Samaria. Gott hat uns hierher geführt. Wir sind immer hier gewesen. Warum sind daraus aber arabische Dörfer geworden? Weil wir vor euch geflohen sind. Doch in diesem Land liegen unsere Wurzeln. Unausrottbar. Jetzt kehren wir zurück und machen das fruchtbar, was ihr habt verkommen lassen. Schaut euch doch um! Ihr kippt euren Müll einfach vor die Türe ... Ich wüßte nicht, warum ihr noch länger unser Land verdrecken solltet!

Diese Kombination aus tiefer Verachtung und massiver Gewalttätigkeit zeichnet so gut wie alle Erlebnisse aus, die Said mit Israelis hat. Wenn er als Kind damit konfrontiert wird, wie sein Vater und sein Onkel, in dessen Haus in Dschenin die Familie nach dem Verlust ihres Hauses und Landes lebt, von israelischen Soldaten gedemütigt, verschleppt und mißhandelt werden, wobei dem Vater ein Fuß um 180 Grad verdreht wurde, so daß die Zehen in die Gegenrichtung wiesen, wenn er nach Hause kommt und seine Mutter tot vorfindet, weil sie aus Sorge um ihren jüngsten Sohn auf die Straße lief und dort von einem israelischen Soldaten mit einem Kopfschuß niedergestreckt wurde, wenn er Zeuge von Gewalttaten wird, die nicht anders als feige zu bezeichnen sind, da sich israelische Soldaten an wehrlosen Kindern vergehen, dann erscheint dem Leser das Maß vorstellbarer Leiden bereits reichlich gefüllt.

Nun jedoch wird Said als Aktivist der ersten Intifada verhaftet und mehrere Wochen lang gefoltert, um endlich das von ihm standhaft verweigerte Geständnis zu erzwingen. Die Schilderung der Schmerzen, die ihm von israelischen Verhörspezialisten beigebracht werden, lassen alles, was der Jugendliche bereits als Kind mitmachen mußte, als geringfügig erscheinen. Wer nicht glauben will, daß der Mensch der schlimmste Feind des Menschen sein kann, wird durch die Schilderung der Pein und Not, die Said unter den Händen und Instrumenten seiner Folterer zu erleiden hat, gründlich darüber aufgeklärt, daß es sich bei den humanistischen Werten und zivilisatorischen Errungenschaften, auf die man auch in Israel stolz ist, um ein dünnes Firnis handelt, hinter dem nichts als die Hölle auf Erden lauert.

Der Autor versteht es, die zwar um Nüchternheit bemühte, aber aufgrund der Belastungen eines Leben in Angst und Unterdrückung sehr nahegehende Schilderung Saids durch eingeschobene Erläuterungen so mit der politische Entwicklung im Westjordanland und Gazastreifen zu verknüpfen, daß ein konsistentes Gesamtbild aus der Sicht der von militärischer Besatzung, ökonomischer Auszehrung und menschlichen Katastrophen betroffenen Palästinenser entsteht. Auf dem relativ knappen Raum, auf dem er die Geschichte Palästinas seit Gründung des Staates Israel darstellt, werden dem Leser Einblicke in die Grundlagen des Konflikts gewährt, die jeden Zweifel am räuberischen Charakter der israelischen Landnahme beseitigen. Sabbah macht hinlänglich deutlich, daß es sich bei dem sogenannten Friedensprozeß der neunziger Jahre um ein ganz und gar israelischen Interessen zuarbeitendes Kolonisationsprojekt handelte, bei dem die Ergebnisse der ersten Intifada durch eine um Palästinenserführer Arafat gescharte Clique aus eigennützigen Motiven verspielt wurden, daß das angeblich so generöse Angebot des israelischen Ministerpräsidenten Barak in Camp David keines war und daß es keinen Frieden ohne den Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967, die Freigabe Ost-Jerusalems und eine angemessene Lösung für die von ihrem Land vertriebenen Palästinenser geben wird.

Seinen eigenständigen Wert erhält das Buch jedoch durch die Schilderung des Kampfes, den Said für die Rechte seines Volkes führt. Der Entschluß, sich für eine Märtyreraktion anzubieten, wird durch Saids Erlebnisse wie seine daraus gezogenen Schlußfolgerungen so umfassend begründet, daß der Leser nicht umhin kommt, in dieser Entscheidung einen legitimen Akt des Widerstands gegen einen übermächtigen Besatzer zu erkennen. Auch wenn es keinen Anlaß gibt, sich für Gewalttaten einzusetzen, die auf israelischer Seite nicht nur Soldaten, sondern auch Frauen und Kinder das Leben kosten, sondern jede Gewalt gegen Menschen grundsätzlich abzulehnen ist, ist der Argumentation Saids kaum jene Rationalität abzuerkennen, die üblicherweise durch die Unterstellung, Selbstmordattentäter seien mehr oder minder willenlose Opfer einer irrationalen Ideologie, negiert wird.

Wenn er den Tod als Geschenk bezeichnet, dann tut er dies vor dem Hintergrund, daß das, was gemeinhin als Leben bezeichnet wird, sich in seinem Fall nicht mit seiner subjektiven Befindlichkeit deckt:

Unser Nachbar hatte gesagt, es sei das einzig wichtige, daß wir lebten. Denn das Leben sei ein Geschenk Allahs. Doch im selben Augenblick, in dem ich mir seinen gebeugten Gang in Erinnerung rief, mit dem er nach diesen Worten seinen Weg fortgesetzt hatte, erkannte ich, daß wir keineswegs leben. Nein! Wir atmen, wir essen, wir schlafen - wir sind am Leben. Aber wir leben nicht!

Die von Sabbah geschilderten Lebensbedingungen der Palästinenser unter israelischer Besatzung lassen diese Worten als Konsequenz einer Verbitterung erkennen, bei der die Verkehrung jeglichen Anspruchs auf Gerechtigkeit zur realen Ohnmacht, der Willkür des Besatzerregimes ohne Aussicht auf Veränderung ausgeliefert zu sein, schließlich zur ultimativen Verzweiflungstat führt. Saids Begründung für seinen Entschluß, nicht erst darauf zu warten, bis er als von der israelischen Armee Gesuchter in den heimischen vier Wänden erschossen wird oder in einem vergeblichen Kampf mit dem Gewehr weit stärkeren, mit Panzern und Kampfhubschraubern ausgerüsteten Aggressoren zu unterliegen, macht verständlich, wieso an jungen palästinensischen Märtyrern kein Mangel herrscht:

Es ist also erst drei Wochen her, daß ich den endgültigen Entschluß gefaßt habe, eine Amalijeh Istischhadijieh (eine Märtyreroperation) zu begehen. Die Gründe dazu, mein Freund, sind in diesem Leben, das wir hier führen, zu finden. Es gibt Dinge, es gibt Ereignisse, die einen nachhaltig prägen. Ich habe dir nicht meine gesamte Lebensgeschichte erzählt. Ich habe sie auf jene Momente komprimiert, die ein Bild von unserer Wirklichkeit vermitteln. Wir haben weder einen Staat noch eine staatliche Institution, die unsere Rechte schützen könnte. Wir haben nichts. Weder Fahrzeuge noch Panzer, geschweige denn Flugzeuge, mit denen wir einen Krieg gegen die israelische Armee und für einen souveränen palästinensischen Staat führen könnten. Wir haben nur unsere Körper. Sie sind unsere einzigen Waffen. (...) Betrachtete ich die vergangenen Jahre, betrachten wir die erste Intifada und das Palästinenser-Ausrottungs-Oslo- Abkommen, fiel mir auf, daß während die Menschen hier tagtäglich starben, das Leben in Israel wie gewohnt weiterging. Die Israelis standen jeden Morgen auf und gingen zur Arbeit und brachten ihre Kinder ganz normal zur Schule. Sie besuchten Restaurants, Cafés und Theater. Was jenseits der Grünen Linie geschah, hatte schlichtweg nichts mit ihnen zu tun. Es war, als seien die Ehemänner, Väter und Söhne, die uns verstümmelten, verwundeten und töteten, Soldaten aus einem fernen Land. Doch seit es die Selbstmordattentate der Hamas, des Dschihad und der Al-Aqsa-Brigaden gibt, wissen sie, daß hier ein Volk, dem sie alles genommen haben, um seine Freiheit kämpft. Und daß wir entschlossen sind, bis zum Äußersten zu gehen. Dieselbe Angst, die unsere Mütter um ihre Kinder und Männer haben, dieselbe Angst herrscht nun auch bei ihnen.

Sabbah verletzt mit der Wiedergabe dieser Worte Saids das wohlgeschützte Tabu, auf irgendeine Weise sogenannte terroristische Taten der Palästinenser zu rechtfertigen. Tatsächlich lassen sich weder die Gewalttaten der Palästinenser noch die der Israelis ohne ein tiefes Verständnis dieses Konflikts beenden, und das bedeutet in erster Linie, endlich der Position der primär Betroffenen, der Palästinenser, so viel Aufmerksamkeit und Raum zu geben, daß sie nicht mehr mit Friedensplänen behelligt werden, die nur mühsam die israelischen Annexionsabsichten verdecken. Nicht Stigmatisierung, sondern Aufklärung erfordert die ultimative Gewalttat des Selbstmordattentäters, liegt doch auf der Hand, daß kein Mensch sein Leben freiwillig wegwirft, wenn er nicht triftige Gründe dafür hat.

Saids Empörung über die gegen sein Volk gerichtete Gewalt entspricht der Ignoranz, mit der er Überlebenskampf der Palästinenser hierzulande bedacht wird. Das Buch Raid Sabbahs leistet daher wesentliche Aufklärungsarbeit zu einem Konflikt, dessen Grundlagen in der Bundesrepublik nach wie vor zugunsten der israelischen Seite ausgelegt werden. Die Subjektivität des Erlebten vermittelt ungeschönt, was in den wohlabgewogenen Nachrichtensendungen und Kommentaren zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser untergeht, da man einer einseitigen Aggression nur mit der einseitigen Favorisierung der Position der Opfer gerecht werden kann.

"Saids letzte Worte" ist ein Abschnitt vom Anfang des Buches überschrieben, der praktisch das politische Vermächtnis dieses in Dschenin gestorbenen Palästinensers darstellt. Angesichts der Brisanz eines Werkes, daß sich des Schicksals eines potentiellen Selbstmordattentäters annimmt, ohne ihn zu verurteilen, und der Notwendigkeit, die Tragödie dieses Kampfes auf rationale Weise handhabbar zu machen, um ihn beenden zu können, seien daraus abschließend noch einige Zeilen dieses wichtigen Buches zitiert:
(...) ihr glaubt, daß uns der Anblick von zerfetzten Leibern, blutgetränktem Asphalt und weinenden Müttern und Kindern Freude bereitet. So, wie es uns Freude bereitet, eine ganze Nation in Angst und Schrecken zu versetzen. Ihr irrt, denn der Fanatismus und Terror hat seine Wurzeln in Eurem Bestreben, sich die Welt untertan machen zu müssen. Ohne Unterlaß schickt Ihr die Planierraupen der Demokratie und die Freiheit verheißenden Dampfwalzen aus - mancherorts nehmen sie sogar die Gestalt von Leben vernichtenden Splittergranaten und mörderischen Raketen an. Ohne Unterlaß wüten sie, zerstören alles, was uns heilig ist, alles, was unsere Vorväter, Väter und wir geschaffen haben, alles, was wir Kultur und Religion nennen - jene Errungenschaften unserer Geschichte, die wir in uns tragen, gleich einer Mutter, die ihr Kind in sich trägt, bis es eines Tages das Licht der Welt erblickt. Eine Welt, die grausamer nicht sein könnte, weil sie den Boden unter den Füßen der noch Ungeborenen verschachert hat. Und alles im Namen der Herrschaft des Volkes und der Freiheit. Es ist aber nicht unsere, sondern Eure Freiheit! Wir trauern um die Toten in den Restaurants, Diskotheken, Bussen und um jene, die auf den Straßen ihr Leben lassen mußten. Aber wer von Euch trauert um unsere Toten? Sind sie vergessen? War ihr Leben so viel weniger wert als das der Euren? Ist das der Geist Eurer Demokratie, Eurer Verfassungen, Eurer Gesetze, Eurer Gerichte? Diese traurigen Seelen finden keine Beachtung. Ihnen bekundet Ihr keine uneingeschränkte Solidarität. Das Recht ist immer nur auf der Seite derer, die es ohnehin schon haben, derer, die stärker zu sein glauben. Wir wollen weder Euer geheucheltes Mitleid, noch Eure selbstgefällige Solidarität. Was wir wollen, ist, daß Ihr uns unser Recht zugesteht, ohne Wenn und Aber. Unser Recht auf unseren Grund und Boden, unser Recht auf unsere eigene Kultur und Religion. Unser Recht auf ein Leben, wie Ihr es führt. Ein Leben in Frieden, ein Leben in unseren eigenen Grenzen und mit unseren selbstgeschaffenen Problemen. Und dafür werden wir kämpfen, koste es was es wolle ...


Raid Sabbah
Der Tod ist ein Geschenk
Die Geschichte eines Selbstmordattentäters
Droemersche Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf. München, 2002