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REZENSION/136: Jochen Schmid - Politische Brandstiftung (Rostock 1992) (SB)


Jochen Schmid


Politische Brandstiftung

Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging



Rostock-Lichtenhagen, 1992. Diese drei Worte genügen, um an die Beinah-Ermordung von über 120 Menschen zu erinnern, die im August 1992 um ein Haar in einem von einem sogenannten "Mob" angezündeten Ausländerwohnheim verbrannt oder erstickt wären. Zehn Jahre danach hat der Fernsehjournalist Jochen Schmid, der damals selbst mit einem ZDF-Team zu den Eingeschlossenen gehört hatte, mit dem in der "edition ost" der Eulenspiegel Verlagsgruppe herausgegebenen Band "Politische Brandstiftung" den Versuch unternommen, Licht in die Hintergründe der Vorfälle jener Tage zu bringen, die schon damals von offizieller Seite nach besten Kräften vertuscht worden sind. In seinem Vorwort erläutert der Autor, worin die seiner Meinung nach wichtigste Frage besteht:

Was aber mich drängt, an das Pogrom zu erinnern: Rostock steht auch und besonders für einen Polizeieinsatz, der im wesentlichen keiner war. Während das Haus lichterloh brannte, war von den `Freunden und Helfern' nichts zu sehen. Warum? Diese Frage ist bislang nicht überzeugend beantwortet worden. Weder in den beiden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, in Gerichtsverfahren, noch in diversen publizistischen Untersuchungen.
Denn diese Frage zielt auf die Politik in Stadt, Land und Bund. Daß es in Rostock zum Pogrom kam, liegt mit in ihrer Verantwortung, denn das eklatante Versagen der Polizei ist zwar vielfach beschrieben, aber nur selten ausführlich untersucht worden. (...)
Die wohl wichtigste Frage aber besteht darin, ob es eine Verbindung zwischen politischen Handlungen und rechtsextremistischen Straftaten gibt. Bislang wurde vornehmlich von Medienvertretern der Verdacht geäußert, als hätten Politiker aller Ebenen durch das Unterlassen von deeskalierenden Maßnahmen das Pogrom begünstigt. Das wäre der passive Part.
Aber vieles spricht dafür, daß es noch mehr gab. Daß es auch ein aktives Handeln gab mit einer bestimmten Absicht, nämlich um ein Fanal zu erzeugen mit dem Ziel, 1992 eine Änderung des Asylrechts voranzutreiben. (S. 8/9)

Aus diesen Absätzen geht das große Plus dieses Buches hervor, nämlich Fragen zu stellen, ohne sich mit der landauf, landab weitgehend durchgesetzten Version abspeisen zu lassen, hier habe die Polizei eben verschlafen, oder, noch dreister, es wären, wie der damalige Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer, noch in der Brandnacht behauptet hatte, "Menschenleben nie gefährdet" gewesen. Für Jochen Schmid und seine Recherchen zu diesen eigentlich noch heute brisanten Fragen spricht auch, daß er nicht nur von einem etwaigen Versagen der Polizei durch Untätigkeit ausgegangen ist, sondern der Vermutung nachzugehen wagt, hier sei von den sogenannten Sicherheitskräften aktiv, absichtlich und gezielt eine Katastrophe herbeigeführt worden, die nur deshalb nicht zum Tod von über hundert Menschen führte, weil die Verzweifelten auf dem Dach des brennenden Hauses noch einen Fluchtweg in ein Nachbarhaus fanden.

Das Manko dieses Buchs besteht, so absurd es klingen mag, keineswegs in den aufgeworfenen Fragen, sondern in der gegebenen Antwort. Die Feststellung, das "Fanal", wie Schmid es nennt, sei auf politischer Ebene nicht nur gewollt, sondern herbeigeführt worden, wird in diesem Buch durchgehend mit der Annahme verknüpft, dies sei zu dem Zweck geschehen, die damals oppositionelle SPD zu einer Verschärfung des Asylrechts zu bewegen. In einem einleitenden, vom Verlag formulierten Text heißt es dazu:

Der damals hinter vorgehaltener Hand geäußerte Verdacht, die Eskalation sei gewollt gewesen, die in Land und Bund regierende CDU habe das Problem nur zuspitzen wollen, um Mehrheiten auf der Straße und im Parlament für die von ihr beabsichtigte Änderung des Asylrechts zu bekommen, scheint begründet gewesen zu sein. Der Journalist Schmid, seinerzeit selbst in die Vorgänge involviert, hat bislang unbekannte Unterlagen gesichtet und Beteiligte befragt und kommt zu der Auffassung: Rostock war eine Inszenierung. Unter Mißachtung des Rechtsstaats und seiner Regeln wurde die vorhandene fremdenfeindliche Stimmung geschürt, um das Grundgesetz wieder einmal ändern zu können.

Schmid selbst sieht seine These bestätigt und begründete dies bei der Vorstellung des Buches im August 2002 mit dem Argument, die SPD habe "zeitgleich mit dem Rostocker Pogrom ihren Widerstand gegen die Änderung des Artikel 16 Grundgesetz" aufgeben. Obwohl der Fernsehjournalist darauf verzichtete, die in einer Weiterverfolgung der aufgeworfenen Fragen liegenden Chancen zu einer Radikalisierung seiner Position zu nutzen, wehte ihm und dem Verlag beim Erscheinen des Buchs ein recht harscher Wind entgegen. So erklärte Marieluise Beck, Ausländerbeauftragte einer inzwischen rotgrünen Bundesregierung, Schmids These von einem von außen gesteuerten Pogrom sei "ausgesprochen heikel"; Beck wollte statt dessen die damaligen Ereignisse als Resultate von "Inkompetenz und geistiger Sympathie" verstanden wissen.

Ihren weiteren Ausführungen - "wenn man dem Mob Raum läßt, breitet er sich aus" - geben allerdings schon erste Anhaltspunkte dafür, welche politischen Zielsetzungen 1992 in Rostock eine Rolle ganz unabhängig von der Frage, ob ein solches "Fanal" denn überhaupt erforderlich gewesen wäre, um die SPD zu einer Aushöhlung des parteiübergreifend als äußerst lästig empfundenen Asylrechts zu bewegen, gespielt haben könnten. Die eigene Bevölkerung als einen "Mob" zu präsentieren, der buchstäblich über Leichen zu gehen bereit ist, um was - ja, was eigentlich? - zu erreichen, ist ein Resultat, das so kurz nach der sogenannten deutschen Wiedervereinigung, die tatsächlich eine Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik war, in vielfältiger Hinsicht den Interessen der damaligen Eliten zweckdienlich gewesen sein könnte.

Und hierzu trug Jochen Schmid durchaus seinen Teil bei. Auffällig ist nämlich, daß in seinem Buch, in dem akribisch die Ereignisse jener Tage nachgezeichnet werden, wie sie unter anderem den Telefonmitschnitten bei Polizei und Feuerwehr zu entnehmen sind, ein Kapitel mit dem Titel "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die DDR und der Rechtsextremismus" an den Anfang gestellt wurde. Es mutet schon seltsam an, daß in einem Buch, das sich die ehrenvolle Aufgabe gestellt hat, die politischen Hintergründe aufzuschlüsseln und dabei insbesondere auch die Politiker in Stadt, Land und Bund kritisch unter die Lupe zu nehmen, ein solches Thema erörtert wird, noch bevor es so richtig zur Sache geht.

Ein Zitat Lothar de Maizières, des letzten Ministerpräsidenten der DDR ("In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte"), steht am Anfang dieses aufschlußreichen Kapitels, was sich kaum anders interpretieren läßt, als daß "Politische Brandstiftung" durch die Blume gesagt eine verkappte Abrechnung mit oder posthume Bezichtigung der DDR sein soll. Die Vermutung, hier sollen die Rostocker Krawalle, der die deutsche Polizei nicht Herr werden zu können vorgab, als verspätetes Resultat der DDR-Politik präsentiert werden, läßt sich auf Anhieb bestätigen.

"Einer der großen Vorzüge der DDR gegenüber der Bundesrepublik ist, daß es im sozialistischen deutschen Staat keinen Rechtsradikalismus gibt." Da war sich der Glasnost-Anhänger und "linientreue Dissident" Jürgen Kuczynski ziemlich sicher, damals 1988.
Allerdings: Damit war nichts gesagt über die tief im Inneren der Gesellschaft wurzelnden Denkmuster und Gefühlslagen. Denn kaum war die Mauer gefallen, stieg auch in Ostdeutschland die Zahl der rechtsextrem eingestellten Bürger rapide an. Der Schoß war eben fruchtbar noch." (S. 13)

Jochen Schmid, Jahrgang 1964 und studierter evangelischer Theologe, Politikwissenschaftler und Historiker, offenbart an dieser Stelle seine ideologische Grundpositionierung, die sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk, das vor diesem Hintergrund seinem investigativen Anspruch keineswegs so gerecht wird, wie es zunächst vielleicht den Anschein hat. Die nun gesamtdeutschen Bürger Ost als "ausländerfeindlich" zu stigmatisieren stellt eine weitere nachträgliche Delegitimierung der DDR dar, wie auch die immensen wirtschaftlichen Probleme, die insbesondere auf die ostdeutsche Bevölkerung nach der Wende zukamen, als unumgängliche Begleiterscheinungen auf dem Weg zu dem versprochenen Wohlstand bezeichnet wurden, der nun einmal durch die Niederungen einer Misere führen müsse, die 40 Jahre sozialistische Wirtschaft herbeigeführt hätten.

Schmids Verdienst besteht darin, nachgezeichnet zu haben, wie die Rostocker Krawalle, die im Gegensatz zu vergleichbaren Aktionen sogenannter Neonazis und Skinheads in den westlichen Bundesländern über Tage hinweg live in aller Welt übers Fernsehen ausgestrahlt wurden, kontinuierlich aufgebaut und so gezielt inszeniert wurden, daß die Bewohner der Ausländerunterkunft eigentlich keine Chance hatten, dem Flammentod zu entrinnen. Die damaligen Täter, unterstützt und angefeuert von einer johlenden Menschenmenge, sind jedoch, wenn man so will, den eigentlichen Drahtziehern des Rostocker "Fanals" insofern in die Falle getappt, als sie die an sie klammheimlich gestellten Erwartungen erfüllt haben.

Wenige Stunden vor der Brandnacht fand ein Treffen auf höchster politischer Ebene unter Beteiligung des damaligen Bundesinnenministers Rudolf Seiters (CDU) statt, worüber im Buch unter anderem folgendes vermerkt wird:

Anno 2002 fragte sich auch Kordus [Haupteinsatzleiter der Polizei, Anm. d. Red.] in seinem noblen Haus am Mittelmeer, was die höchsten Vertreter aus Bund und Land am Montag nach Rostock getrieben hatte. Es sei ihm nie klar geworden, wieso ein Bundesinnenminister zusammen mit seinem Inspekteur des BGS vor dem Höhepunkt des Pogroms nach Rostock gekommen sei. Wenn es um Unterstützung gegangen wäre, denkt Kordus laut, hätte man die Chance gehabt, sofort mit starken BGS-Kräften dem Ganzen ein Ende zu machen. Das wäre für ihn die einzige Erklärung gewesen. In seinem Beisein aber sei darüber nicht verhandelt worden. (S. 81)

Daß Polizei und Bundesgrenzschutz sehr wohl in der Lage waren, wie sie es nennen würden, "Sicherheit und Ordnung" (wieder)herzustellen, zeigte sich am darauffolgenden Wochenende, an dem linke Gruppierungen Demonstrationen "gegen Gewalt" angemeldet hatten. Der Staat machte mobil: 3000 zusätzliche Beamte wurden nach Rostock beordert (in der Brandnacht waren Hundertschaften abgezogen worden), die Zufahrtswege nach Rostock wurden gesperrt, der Bahnverkehr eingestellt. Hubschrauber von Polizei und BGS kreisten über der Stadt, und vorsorglich wurden Tausende anreisende Demonstranten noch vor Rostock eingekesselt.

Zu weiterführenden Fragen hätten jedoch auch weitere, dem Buch zu entnehmende Einzelheiten genutzt werden können. So bleibt in der akribischen Beschreibung der Auseinandersetzungen in Rostock nicht unerwähnt, daß sie zwar von fremdenfeindlichen Ressentiments begleitet oder genährt sein mochten, sich jedoch zunächst ausschließlich gegen die Polizei gerichtet hatten.

Das Sonnenblumenhaus [in dem sich die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende sowie das von Vietnamesen bewohnte Ausländerwohnheim befanden, Anm. d. Red.] spielte keine Rolle. Die Angriffe richteten sich - genau wie angekündigt - ausschließlich gegen die Polizei. Während die an verschiedenen Fronten gleichzeitig kämpfen mußte, entschloß sich Deckert [Einsatzleiter der Polizei, Anm. d. Red.], die Einheiten neu zu gruppieren, "um wieder Ordnung in den Laden zu bekommen." (S. 99)

Hieraus kann geschlußfolgert werden, daß die Verletzung oder gar Tötung ausländischer Menschen ursprünglich keineswegs in der Absicht der zumeist jungen Ostdeutschen lag, deren Wut und Verzweiflung sich zunächst an uniformierten Beamten hochgekocht hatte, die ihnen als Respräsentanten einer Staatsgewalt gegenüber standen, von der sie sich mit gutem Grund verraten und verkauft fühlten. In einer solch prekären und über mehrere Tage hinweg zugespitzten Situation von seiten der Polizei auf "deeskalierende" Maßnahmen zurückzugreifen, so als wäre dies das von geradezu psychologischem Feinsinn geleitetes Gebot der Stunde, läßt vielmehr ein polizeitaktisches Vorgehen von geradezu teuflischer Perfidie erahnen.

"Dem Mob freien Raum zu lassen", wie es die Ausländerbeauftragte der rotgrünen Bundesregierung, Marieluise Beck, im Sommer dieses Jahres formulierte, konnte in einer solchen Situation eigentlich nur bedeuten, darauf zu setzen, daß die aufgeheizte und gewaltbereite Menschenmenge sich anderen Haßobjekten anstelle der systematisch zurückgewichenen Polizei zuwenden würde - mit den bekannten verheerenden Folgen. Die Verantwortlichen im Hintergrund - nicht etwa Verantwortungsträger im unteren Bereich der Polizeihierarchie, die wie Einsatzleiter Jürgen Deckert als Prügelknaben für die Machenschaften ihrer Vorgesetzten herhalten mußten - mögen damit kalkuliert haben, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können.

Hätte die Polizei sich der Herausforderung gestellt und sich mit ihren ohnehin weit überlegenden Mitteln den aufgebrachten Rostocker Bewohnern entgegengestellt, hätte darauf eine Konfrontation erwachsen können, deren politischer Charakter dann kaum noch kleingeredet hätte werden können. Die von so vielen in den ostdeutschen Ländern gemachte bittere Erfahrung, beim Untergang der von ihnen im übrigen keineswegs einhellig akzeptierten DDR über den Tisch gezogen und nicht einmal gefragt worden zu sein, ob sie denn mit einer Vereinigung mit dem Weststaat überhaupt einverstanden sind oder vielleicht ein neues Experiment unter sozialistischen Vorzeichen wagen wollten, wozu sich wenige Monate nach dem Mauerfall Umfragen zufolge noch eine Mehrheit bekannt hatte, hätte sich nur allzuleicht zu einer sich zunehmend radikalisierenden Fundamentalopposition auswachsen können, zumal die 1989/90 gemachten Versprechen blühender Wiesen sich allzuschnell als plumpe Tricks der Marke "Nepper, Schlepper, Bauernfänger" entlarvt hatten.

Die zweite mit der Rostocker "Fanal"-Klappe geschlagene Fliege könnte darin zu vermuten sein, daß durch das nun mediengerecht inszenierte Bild des häßlichen Ost-Deutschen der Vermittlung westlicher Werte, die der ehemaligen DDR-Bevölkerung wegen des "strukturellen Rassismus" (Schmid) des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates so offensichtlich fehlten, verstärkt in Angriff genommen werden mußte, woraus dann später in sozialdemokratischer Lesart der "Aufstand der Anständigen" wurde, ohne daß der seltsame Widerspruch, einerseits - und zwar parteiübergreifend - eine ausländerfeindliche und flüchtlingsabwehrende Politik zu betreiben, andererseits sich in scheinbarer Anständigkeit zu empören, sobald es in der Bevölkerung zu Anwürfen und Angriffen gegen dieselben ausgegrenzten Menschen kommt, in der Öffentlichkeit auch nur wahrgenommen wird.

So oder so ist das Buch "Politische Brandstiftung" nur zu empfehlen - wegen der beabsichtigten Aussagen, der aufgeworfenen Fragen sowie des zusammengetragenen Materials und nicht minder wegen der unterschwelligen und keineswegs ausformulierten Aussagen und fortgesetzten Verschleierungen, denen anhand dieses Bandes nachzuspüren für jeden kritisch Interessierten eine willkommene Gelegenheit sein dürfte.


Jochen Schmid
Politische Brandstiftung
Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging
edition ost
Eulenspiegel Verlagsgruppe
Copyright 2002
Das Neue Berlin
Verlagsgesellschaft mbH
ISBN 3-360-01040-X