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REZENSION/099: Ethnotherapien. Therapeutische Konzepte (Konferenzband) (SB)


Herausgegeber: Christine E. Gottschalk-Batschkus


Ethnotherapien

Therapeutische Konzepte



Ethnomedizin ist eine noch recht junge Disziplin, in der es darum geht, mit den als gültig und schlüssig erachteten wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden althergebrachtes und überliefertes heilkundliches Wissen fremder Kulturen systematisch nach pharmakologisch und medizinisch nutzbaren Therapien und Wirkstoffen zu durchforsten. Diese aufwendige Forschung dient jedoch nicht dem vorgehaltenen Interesse an "neuen" Heilmethoden und dem Wunsch, diese nutzbringend für die Menschheit einzusetzen, sondern folgt in erster Linie wirtschaftlichen Interessen. Denn ein rechtzeitig angemeldetes Patent für einen neuen Wirkstoff oder eine Wirkstoffkombination kann sich zu einem Goldesel für den Patentinhaber entwickeln. So hat die Ethnomedizin eine starke Lobby bei den großen transnationalen Pharmakonzernen. (Einen Beitrag zu diesem Thema finden Sie unter dem Index "MIO/09: Ethnomedizin stützt sich auf 'legalen' Bioraub" im Fachpool MEDIZIN\MEINUNGEN)

Doch die interessengebundenen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen, die die Ethnomedizin ganz wesentlich bestimmen, werden totgeschwiegen. Norbert Kohnen, Autor des Lehrbuchs "Grundlagen der Ethnomedizin", schreibt 1990:

Ethnomedizin ist die Wissenschaft, die die Heilkunde verschiedener Ethnien, Gruppen und Subgruppen in ihren medizinischen, gesellschaftlichen, formal-institutionellen Aspekten und in ihren individuellen Erlebnis- und Handlungsformen sowie in der persönlichen Heiler- Patientenbeziehung untersucht. So stellt Ethnomedizin die kulturelle Vielfalt menschlichen Erlebens und Strebens nach Bewältigungsformen von Krankheiten in Medizintheorie und Medizinpraxis dar und erfasst die subjektive Verwertung dieses Bemühens.

Auch das Vorwort zu dem Buch, das hier vorgestellt werden soll, geht auf die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge und Konsequenzen dieser Wissenschaft nicht ein, sondern zeichnet ein durchweg positives und vielschichtiges Bild der Ethnomedizin, das dem Leser das Stöbern in den zahlreichen Kurzbeiträgen schmackhaft machen soll:

Vorwort:

"Die Ethnomedizin ist eine noch recht junge Wissenschaft. Sie erforscht und vergleicht die verschiedenen Medizinsysteme der Völker und Zeiten. Dabei kommen viele erstaunliche, verwunderliche, faszinierende oder auch befremdliche Dinge zum Vorschein. Merkwürdige Diagnosemethoden, bei denen Schamanen unter dem Einfluss eines Rauschmittels quasi "Röntgenaugen" bekommen und Körper und Geist des Patienten durchleuchten können. An mittelalterlichen Aberglauben gemahnende Praktiken, wie das Tragen von Amuletten und das Lesen im Kaffeesatz, ekelerregende Heilmittel aus Tierkot und anderen Spezereien aus der "Dreckapotheke", brutal erscheinende Heilbehandlungen, z.B. mit drastischen Abführmitteln, Isolation oder Reizüberflutung, stehen im krassen Gegensatz zu den eher zarten Methoden der "sanften Medizin". Ekstatische Heiltänze, Maskenbräuche, Einweihungen in geheime Medizingesellschaften, Fetischverehrung und Liebeszauber bilden das ethnomedizinische Spektrum unseres Heimatplaneten ab. Hinter den äußerlich sichtbaren Heilweisen verbergen sich aber stets ganze Weltbilder, komplexe Wirklichkeitskonzepte und effektive Therapien. Wie immer, es lohnt sich, hinter den Schleier der 'maya' zu schauen." (Vorwort, S. 8)

Ganz sicherlich wäre es mehr als nur interessant, hinter den Schleier der 'maya' zu schauen, doch werden die wirklich spannenden Themen, die sich dahinter verbergen könnten, mit den Beiträgen in diesem Tagungsband gar nicht berührt.

Da ist zunächst einmal die politische und wirtschaftliche Dimension der ethnomedizinischen Feldforschung, die - losgelöst von den abenteuerlichen Erzählungen über magische Heilrituale, Tänze und Heiltränke - das wahre Ausmaß der ernüchternden Bilanz von Zerstörung und Ausbeutung fremder Kulturen nur erahnen läßt. Denn in letzter Konsequenz verbindet sich mit dieser Forschung nicht nur die Vernichtung des Lebenszusammenhanges und Lebensraumes ganzer Volksgruppen, sondern auch die Vernichtung der betroffenen Menschen selbst.

Zum anderen stellt sich an dieser Stelle natürlich auch die Frage nach wirklichem Wissen und Können, das sich ausschließlich an seiner uneingeschränkten Wirksamkeit zeigt, und den Möglichkeiten, einen Zugang zu diesem Wissen zu finden. Es läßt sich nur spekulieren, daß eine Weitergabe dieses Wissens mit Voraussetzungen verknüpft ist, die sich mit der Neugier und dem wissenschaftlichen Aneigungsinteresse der forschenden Wissenschaftler sicherlich nicht in Deckung bringen lassen.

Die ganze Wucht westlicher Arroganz, die nahezu allen Forschern der ersten Welt in ihrem Glauben an die Wissenschaft zu eigen und nicht zu trennen ist von einer menschenverachtenden Einstellung, die ganze Völker zu bloßen Anschauungs- und Untersuchungsobjekten herabwürdigt, wird in vielen Beiträgen zwischen den Zeilen deutlich, in einigen sogar ausgesprochen. In dem Kapitel über "Methoden in der Ethnomedizin", in dem man einige grundlegende Dinge über Theorie und Praxis der Ethnomedizin erfährt, schreibt Norbert Kohnen unter Punkt "2.1 Informanteninterviews":

Ethnomedizinische Ethnographien dokumentieren medizinisches Wissen fremder Kulturen. Die wichtigste Methode, dieses Wissen offenzulegen, ist die Befragung von Informanten. Unter Informanten verstehen wir diejenigen Menschen, die uns in ihrer Sprache und aus ihrem Verständnis d.h. auf ihrem kultureigenen Wahrnehmungs- und Denkhorizont medizinische Sachverhalte darlegen. Die meisten Menschen sind in irgendeiner Weise Informanten, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Wenn wir besondere Fragetechniken anwenden und mehrere Interviews führen, können aus einfachen Menschen hervorragende Informanten werden. Als Ethnomediziner werden wir uns einerseits ganz durchschnittliche Menschen mit durchschnittlichem Wissen aussuchen, um ihre Alltagserfahrungen über Gesundheit und Krankheit aufzuzeichnen. Gleichzeitig werden wir uns den Heilspezialisten zuwenden, die besondere Erfahrungen auf medizinischem Gebiet haben. [...] Eine weitere Besonderheit eines Informanteninterviews besteht in der Wiederholung. Der Forscher wiederholt häufiger die Antworten seines Informanten und formuliert das, was er erklärt hat, mit seinen Worten, um sicher zu sein, dass er den Sinngehalt der Information des Informanten verstanden hat. Der Forscher sollte verhältnismäßig oft sein Interesse bekunden und seine Unwissenheit gegenüber dem (kultureigenen) Wissen des Informanten zugeben. (S. 231-232)

Hier offenbart sich der arrogante und ignorante Standpunkt der Feldforscher. An alles, was entdeckt und beobachtet wird, werden die Maßstäbe der westlichen Wissenschaft gelegt. Es wird verglichen, analysiert, eingeordnet und interpretiert vor dem Hintergrund des bereits Bekannten. Ob sich die wissenschaftlichen Methoden der Analyse überhaupt dazu eignen, etwas über die Wirksamkeit der beobachteten Therapien und Rituale herauszufinden, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Doch häufig genug bleiben Phänomene und Wirkungen unerklärt. Dort, wo das so favorisierte Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung nicht schlüssig nachvollzogen werden kann, muß dann der kulturelle Hintergrund, eine psychologische oder religiöse Komponente als interdisziplinäre Ausrede herhalten, die alles und auch wiederum rein gar nichts erklärt.


Doch Thema des hier zu besprechenden Buches heißt nicht etwa "Kritik und politische Analyse der Ethnomedizin", sondern "Ethnotherapien". Die Sammlung von Kurzbeiträgen ist als Sonderband der Zeitschrift für Ethnomedizin "Curare" im VWB- Verlag für Wissenschaft und Bildung erschienen und ansprechend aufgemacht. Schon das Titelbild, das auf einer Holzschnitzerei an einem Medizingefäß aus Bali basiert und die dortige Medizingottheit darstellt, macht neugierig. Das Buch ist der begleitende Konferenzband zur 13. Internationalen Fachkonferenz der AGEM (Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin e.V.), einem wissenschaftlichen, interdisziplinären Informations- und Diskussionsforum zum Thema "Ethnotherapien - Therapeutische Konzepte im Kulturvergleich", das vom 6. bis 8. März 1998 in München stattfand. Ausgerichtet wurde dieser Kongreß von der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin, die 1970 gegründet wurde und heute die weltweit größte und international etablierte wissenschaftliche Vereinigung zur interdisziplinären Erforschung der Ethnomedizin ist. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen und Nationalität trugen hier ihre Forschungsergebnisse aus aller Welt zusammen.

Die kurzen Beiträge der Vortragenden werden in diesem Buch durch zahlreiche weitere thematisch verwandte Artikel anderer Autoren ergänzt und entstammen den Fachbereichen der Ethnologie, Medizin, Psychologie und Soziologie. Durch diese bunte Zusammenstellung wird auch einem Laien Einblick in die Arbeit, die Methoden, den Stand der Forschung und die Therapien der Ethnomedizin gewährt.

Die Gliederung der einzelnen Beiträge erfolgt nach den geographischen Regionen: Afrika - Asien - Südostasien und Ozeanien - Nord-, Mittel-, Südamerika und Karibik - Europa. Das letzte Drittel des Buches ist dem Thema "Wechselbeziehungen zwischen Ethnomedizin und der modernen Schulmedizin" gewidmet. Zirka 60 Prozent der Beiträge sind deutsch, die restlichen in englischer Sprache verfaßt. Die Abstracts, durch grau hinterlegte Kästen hervorgehoben, liegen jedoch immer zweisprachig vor. Wurde das Interesse des Lesers geweckt, eröffnen die zum Teil sehr ausführlichen Literaturverzeichnisse zu jedem Beitrag die Möglichkeit einer weitreichenderen Auseinandersetzung. Die einzelnen Texte sind im Schnitt drei bis sechs Seiten lang und so unterschiedlich wie ihre Themen. Die folgenden Titel mögen dies veranschaulichen:

* Struktur und Dynamik schamanischer Heilrituale in Nepal
* Initiation von traditionellen Heilern: Ein Beispiel aus Tansania
* Der Gebrauch von toxischen Metallen in indischen Medizinsystemen
* Angstreduktion durch Santo Daime. Ethnomedizinische Untersuchungen im brasilianischen Regenwald
* Dekonstruktion traditioneller Heilpflanzenkunde in der westlichen Medizin
* Symbol und Heilung - Zu den archetypischen Strukturen des symbolischen Heilens
* Methoden in der Ethnomedizin: Untersuchungsmethoden von Therapieformen
* Heilung mit Hilfe von Göttern und Geistern
* Dunkeltherapie - Eine traditionelle Selbstbefreiungsmethode und ihre Verwendung in der modernen Praxis
* Polypragmasie oder Orientierungslosigkeit: Therapeutische Konzepte in Deutschland
* Übersetzung ethnomedizinischer Phänomene in die Sprache der Chaos- und Systemforschung


Zusammenfassend kann man sagen, daß dieser Konferenzband einen Überblick über den heutigen Stand der Forschung und des Wissens über Ethnotherapien zu vermitteln vermag. Und dem aufmerksamen und interessierten Leser wird, trotz des positiven, von berufsständischen Interessen gezeichneten Bildes der Ethnomedizin, genügend Zündstoff für eine grundlegendere Kritik und Diskussion geboten.


Weitere bislang erschienene Curare Sonderbände:

8/1995: Gebären - Ethnomedizinische Perspektiven und neue Wege
9/1996: Ethnomedizinische Perspektiven zur frühen Kindheit 10/1997: Transkulturelle Pflege 11/1997: Frauen und Gesundheit - Ethnomedizinische Perspektiven 12/1997: The Medical Anthropologies in Brazil 13/1998: Was ist ein Schamane? - Theorien des Schamanentums im


Spiegel westlichen Denkens
Herausgegeben: Christine E. Gottschalk-Batschkus
Christian Rätsch
Ethnotherapien
Therapeutische Konzepte
Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Ethnomedizin
Curare-Sonderband 14
Berlin: VWB,
Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1998
283 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ca. 60 Autoren
Hardcover, DM 68,-
ISBN 3-86135-567-1