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REZENSION/038: Margret Find - Dämmerung (Krankenpflege) (SB)


Margret Find


Dämmerung

die Pflege eines verwirrten Menschen



1,2 Millionen sogenannte Demenz-Kranke in der Bundesrepublik, Tendenz zunehmend - die fortschreitenden Hirnleistungsschwächen, meist als Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert, stellen ein immer größeres Problem für Angehörige und die Institutionen des Gesundheitswesens dar. Als die Mutter der Stuttgarterin Margret Find Anfang der neunziger Jahre erste Anzeichen einer Demenz in Form ungewöhnlicher paranoider Anwandlungen zeigte, die in Verdächtigungen gegen Personen ihres Bekanntenkreises resultierten und ihr soziales Umfeld beeinträchtigten, sah sich die Tochter mit Problemen konfrontiert, die sie neben ihrem Beruf in den nächsten Jahren gänzlich in Beschlag nehmen sollten.

Margret Find hat ihre Erfahrungen unter dem Titel "Dämmerung" in einem 140 Seiten starken Buch mit der Absicht zusammengefaßt, ihre bei der Pflege entstandenen Probleme aufzuarbeiten und denjenigen Mut zu machen, die sich selbst der Betreuung ihrer demenzkranken Angehörigen widmen möchten. Zu diesem Zweck ist das Werk in übersichtlicher Form unter Einsatz eines großen Schrifttyps angelegt, medizinische Fremdwörter werden in Fußnoten erklärt und zentrale Merkpunkte in extra hervorgehobenen Kästen zusammengefaßt. Die persönlichen Erfahrungen der Autorin bilden den Rahmen eines praktischen Ratgebers, der sich sicherlich zum Einstieg in die häusliche Pflege verwenden läßt.

Die Darstellung der Probleme, die durch die Tatsache entstanden, daß Margret Find von ihrer Mutter nicht mehr als Tochter erkannt und von ihr in mancherlei Form verdächtigt und bezichtigt wird, lassen das Ausmaß an psychischen Problemen erkennen, mit dem ein Menschen zu tun bekommen kann, der sich zur Pflege der eigenen Angehörigen entschließt. Die ganze Bandbreite emotionaler Reaktionen zwischen Aggression und Depression können sich auftun, wenn die einstmals souveräne Mutter vom Versorgungsaufwand her auf das Niveau eines Säuglings zurückfällt und das nicht einmal zu honorieren weiß, sondern gleichfalls in infantiler Manier den Streit um Probleme sucht, die erst durch ihre lebhafte Einbildungskraft entstehen.

Der nichtzustandegekommene Anruf bei längst verstorbenen Verwandten geht natürlich ebenso aufs Konto der Tochter wie die Tatsache, daß die von der Mutter nicht mehr als solche Erkannte dafür verantwortlich sein soll, daß sie sie nicht mehr zu Gesicht bekommt. Die bündige Unterscheidung, mit der die Autorin Realität und Wahn auseinandersortiert, hat natürlich wenig mit den aus der Sicht eines Alzheimerkranken resultierenden Problemen zu tun, da die Welt für ihn nicht minder real ist als zuvor. Die während eines Krankenhausaufenthalts von der Mutter getroffene Aussage "Nie komme ich hier wieder heraus. So lange ich lebe, bin ich nun eingesperrt." entbehrt ebensowenig eines potentiell realistischen Einschätzungsvermögens wie die Vermutung, die Umwelt habe es im wesentlichen darauf abgesehen, den eigenen Vorteil zu wahren und einen selbst zu diesem Zwecke hinters Licht zu führen. Der Ausfall bestimmter kognitiver Funktionen muß nicht bedeuten, daß der Mensch nicht mehr in der Lage ist, grundlegende Bedingungen seiner Existenz zumindest zu erahnen.

Da das Werk einer Frau, die erst über die persönliche Betroffenheit in Berührung mit der Materie degenerativer Hirnerkrankungen gekommen ist, auch nicht den Anspruch solider fachlicher Relevanz erhebt, stört die über die biografischen Details vermittelte Einseitigkeit bei der Darstellung der Alzheimer-Erkrankung auch wenig. Bei dem Buch geht es in erster Linie um die Probleme des pflegenden Familienmitglieds und weniger um die Abgründe der Krankheit, die vom Standpunkt des Angehörigen her lediglich als Beeinträchtigung seiner auf Vernunft und Effizienz ausgerichteten Welt erlebt wird. Die im Klappentext getroffene Aussage "Schließlich kann der Kranke seine eigene Situation nicht mehr verstehen und wird verwirrt." unterstellt, daß der mit dem Ausfall von Hirnfunktionen kämpfende Mensch weniger am Widerspruch zu einer wohlgeordneten Umwelt, die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit nicht integrieren und hinnehmen kann, als an einer hypothetischen Selbstwahrnehmung leidet. Die bei allen zwischenmenschlichen Problemen aufgeworfene Frage der Schuld wird so zu seinen Lasten gelöst und der Kranke als solcher ganz zum entmündigten Objekt der Pflege.

Die Autorin versucht in diesem Rahmen zumindest, optimale Lebensumstände zu schaffen und so wenig Reibungspunkte, an denen sich ein Streit entzünden könnte, wie möglich anzubieten. Ansonsten ist sie vollauf damit beschäftigt, neben ihrem Beruf die alltägliche Versorgung ihrer Mutter zu gewährleisten und vor allem die umfangreiche Behördenkorrespondenz zu erledigen, die notwendig ist, um im Rahmen der Pflegeversicherung die erforderliche finanzielle Ausstattung zu erhalten.

Die Erfahrungen, die die Autorin bei der Einstufung ihrer Mutter in die entsprechende Pflegestufe gemacht hat, haben bei ihr Zorn und Tränen ausgelöst, da man ihr lediglich anderthalb Stunden Entgelt für die tägliche Pflege zugestand. Ihr weiterer Weg durch den Dschungel der Bestimmungen und Paragraphen führte sie über das Ausfüllen umfangreicher Fragebögen, das Einlegen von Widerspruch und die Auseinandersetzung mit diversen Gutachtern schließlich vor das Sozialgericht, dessen Entscheidung über die letztgültige Einstufung der Mutter noch aussteht.

Was die Autorin nur durch ihre berufliche Vorbildung in dieser Hinsicht bewältigen konnte, stellt für viele Menschen bereits eine erhebliche Überforderung dar. Da man nicht um den Eindruck umhin kommt, daß das Herunterstufen pflegebedürftiger Menschen in zu niedriger Klassen nicht nur fallweise vorkommt, sondern zum programmatischen Vorgehen der zuständigen Mediziner zu gehören scheint, sind viele Menschen akut davon bedroht, die häusliche Pflege nicht mehr gewährleisten zu können. Da Demenzkranke zudem häufig ausgesprochen "normal" wirken, kommt es gerade hier zu Beurteilungen, die dem tatsächlichen Pflegeaufwand bei weitem nicht gerecht werden, ganz zu schweigen von allen Aktivitäten, die über die physische Versorgung hinausgehen und dem seelischen Wohlbefinden des Betroffenen dienen. Wer sich nicht wie die Autorin auf den mühevollen Weg machen will, durch umfangreiche Protokollierung des Arbeitsaufwands und die entsprechende Nutzung von Rechtsmitteln eine angemessene Einstufung zu erstreiten, ist von vorneherein dem Handikap einer ungenügenden Finanzierung ausgesetzt.

Angesichts der persönlichen Erfahrungen fällt die Kritik der Autorin an den hohen Hürden vor dem Gewähren einer angemessenen Unterstützung betont verhalten aus. Bei einem Thema, das allein im Bereich der Demenzen bald ein Prozent der Bevölkerung betrifft, könnte ein offeneres Wort zu den politischen Hintergründen der Pflegegesetzgebung durchaus zur Solidarisierung der Betroffenen beitragen. Ansonsten versucht Margret Find jedoch, zu allen Fragen der Pflege und Therapie Stellung zu nehmen, und bemüht sich unter Zurhilfenahme fachlich qualifizierter Beiträge, die medizinische Dimension der Demenzen greifbar zu machen. Dabei fällt allerdings auf, daß es gravierende Unterschiede bei der Beurteilung der Erkrankungen gibt, etwa was die Differenzierung in degenerativ und vaskulär bedingte Hirnschädigungen betrifft. Der Expertenjargon kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß sich die Medizin in den Fragen der Entstehung, des Fortschreitens und der Therapie der Demenzen nach wie vor im Anfangsstadium befindet.

Auch die von der Autorin dargestellte Medikation ihrer Mutter bietet wenig Anlaß, beim Ausbrechen einer Demenz allzusehr auf medizinische Hilfe zu bauen. Da ihre Mutter am besten auf eine homöopathische Therpie angesprochen hat, die nicht unter allen Umständen von der Krankenkasse finanziert wird, gilt auch in diesem Fall, daß der persönliche Einsatz den wichtigsten Beitrag zum Wohlbefinden des erkrankten Angehörigen ausmacht, das im Mittelpunkt der Pflege steht. In den abschließenden Worten stellt die Autorin fest, daß sie nicht mehr ohne fremde Hilfe auskommt und eine Pflegekraft einstellen muß. Damit leitet sie über zu Lösungsvorschlägen privater und konfessioneller Vereine, die Vorschläge für Einrichtungen speziell für Alzheimer- und Demenzkranke erarbeitet haben.

Neben dem allgemeinen Aufruf zum persönlichen Engagement, den Margret Find über ihre eigene Geschichte glaubwürdig vermittelt und mit einer Vielzahl von Ratschlägen bestückt, bildet die Verbreitung des Anliegens dieser Vereine den Hauptzweck des Buches. Welche Ambitionen die Protagonisten nichtstaatlicher Initiativen auch immer umtreiben mögen, in einer Welt der zunehmenden Verkopplung von Leistungsfähigkeit und Lebensrecht müssen sie aufpassen, nicht zu den Vollzugsorganen einer Ausgrenzung aller nichtproduktiven Elemente der Gesellschaft zu werden. Während die in der Pflege persönlich erarbeiteten Erkenntnisse eine wertvolle Hilfe für Anfänger darstellen können und daher die Lektüre lohnen, müssen die geschilderten Ansätze zu einer erweiterten Pflege in Gemeinschaftseinrichtungen eher als Werbung der betreffenden Träger verstanden werden. Die so wichtige Frage, ob man bereit ist, beinahe jeden privaten Freiraum für die häusliche Pflege eines Angehörigen aufzugeben, beantworten sie jedenfalls nicht.


Margret Find
Dämmerung
die Pflege eines verwirrten Menschen