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BUCHBESPRECHUNG/192: Michael Andrick - Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Michael Andrick

Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt

Von Klaus Ludwig Helf, Juli 2020


In seinem Werk "Der flexible Mensch" (1998) analysiert der US-amerikanische-britische Soziologe Richard Sennett eindrucksvoll und treffend die Auswirkungen des Kapitalismus auf den Charakter der Menschen. Durch die Flexibilisierung der Arbeitswelt würden traditionelle Wertvorstellungen an Bedeutung verlieren was u.a. auf die Beschleunigung der Arbeitsorganisation, die anwachsenden Leistungsanforderungen, auf die zunehmende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse und Prekarisierung zurückzuführen sei. Mit der Arbeitswelt, der Marktgesellschaft und was beide mit den Menschen anstellen, beschäftigt sich auch der vorliegende Band des Managers und Philosophen Michael Andrick, der seit 2006 in Großunternehmen tätig ist, aktuell als Direktor für Digitale Transformation im Bayer Konzern.

Der Band ist übersichtlich in acht Kapitel gegliedert, sehr verständlich und flüssig geschrieben mit klarer Gedankenführung und exzellenter Verknüpfung von philosophischen, psychologischen und literarischen Erkenntnissen unterschiedlicher Provenienz mit Beispielen aus der kritisch betrachteten Lebens- und Arbeitswelt. Leider verzichtet der Autor auf genaue Angaben seiner Quellen und Literatur, so dass man sich beim Weiterdenken seiner Ausführungen die Quellen selbst zusammensuchen muss. Am Anfang des Bandes steht die "Verwunderung über mich selbst und über uns", über das normale Alltagsleben in der industrialisierten Welt, das auf der Entrechtung und körperlichen Ausbeutung von Menschen und der systematischen Zerstörung des Ökosystems beruhe: "Wir zahlen Spottpreise für die Spielzeuge unseres Konsumzeitvertreibs und für die Kellner- und Laufburschenstaffage unserer Pauschalurlaube ... Die Rechnung für unsere immense 'Kaufkraft' wird an den verlängerten Werkbänken der westlichen Staaten .., für uns beglichen. Nicht in Geld, sondern in menschlichem Leid, in Perspektivlosigkeit und Verzweiflung. Eine parteilich-koloniale Handels- und Subventionspolitik der reichen Länder stellt diese Verhältnisse auf Dauer, wann immer nötig mit Gewalt des Militärs und des Finanzsystems." (S. 11/12). Wir Menschen seien "erstaunliche Kulturwesen", die menschliches Leid und ökologische Katastrophen "routiniert" ignorierten, "grauenvolle" Dinge zivilisierten wie z.B. hemmungslosen Konsum, verlogene Werbung für Tabak-, Öl-, Auto- oder Zuckerindustrie, Ökonomisierung der Gesundheit, Ausbeutung von Rohstoffen, Produktion von Wegwerfartikeln, Vermüllung der Meere durch Plastik, Rechtfertigung von sozialen Ungleichheiten, Abwehren der Flüchtlingsströme oder Befürwortung von Waffenexporten und Angriffskriegen.

Dem Autor geht es nicht um die historisch-politische Aufklärung der skizzierten Pathologie unseres Alltagslebens, sondern um die philosophische Frage nach einer eigenen, inneren Logik: "Wir suchen das Prinzip unserer perversen Normalität, ihre treibenden Motive, Denk- und Verhaltensmuster - und deren Ursprung ... Inwiefern haben die unmenschlichen Aspekte der Industriegesellschaft mancherorts ebenso System wie die pünktliche Auszahlung ihrer Sozialleistungen?" (S. 16). Wenn man in der Arbeitswelt Erfolg suche, müsse man sich rational und ehrgeizig verausgaben - so die nüchterne Erfahrung von Michael Andrick. Die Sinnfragen und die Suche nach Alternativen blieben dabei auf der Strecke, Eigensinn und Ideale würden verblassen. Die kapitalistische Industriegesellschaft könne Menschen zu charakterlosen, dumpfen Funktionären machen. In der Arbeitswelt herrsche die Perversion unseres Ideals der Selbstbestimmung; der Ehrgeiz, mit dem wir an unserem Selbst arbeiteten, diene nur fremden und zweifelhaften Zwecken: "Ehrgeiz ist das soziale Betriebssystem unserer Institutionen, weil Selbstunsicherheit das vorherrschende Ergebnis unseres Aufwachsens in der Ordnung des Ansehens ist; wir sind alle zu Kundschaftern und Managern fremder Erwartungen ausgebildet worden. Ehrgeiz ist deshalb auch die Frömmigkeit der Industriegesellschaft." (S. 182). Ehrgeiz habe eine moralische und eine politische Dimension, die nicht voneinander zu trennen seien - die versagende moralische Person sei der Mitläufer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Der Mensch könne ohne eigenes Nachdenken nicht er selbst sein, nicht als moralische Person existieren. Ehrgeiz sei aber das "logische Gegenteil" von Moralität, seine Gegenmacht: "Denn Moralität besteht ja gerade darin, aufgrund seiner eigenen Wertvorstellungen einen Einspruch gegen das gewöhnliche Denken und Tun dort auszuüben, wo man es für notwendig hält." (S. 194). In weiten Teilen unseres Soziallebens seien wir gedanklich und nervlich nicht bei uns selbst, sondern bei den Anderen, deren reale oder meist vermutete Erwartungen wir für uns möglichst gewinnbringend erraten und erfüllen wollen - eine proteische Persönlichkeit, deren zweite Natur das Navigieren sei, nicht das selbständige Nachdenken und Entscheiden.

Am Ende seines Bandes kommt Michael Andrick zu dem Ergebnis, dass wir uns in der aktuellen Arbeitswelt kaum ungehindert als moralische, nachdenkliche und selbständige Person entfalten könnten, da die Strukturen dem entgegenwirkten. Es sei eine gesellschaftlich-politische Entscheidung, dies zu ändern. Es gehe auch darum, eigene Lebensräume zu suchen und zu kultivieren gegen die Widerstände und den Konformitätsdruck der Gesellschaft. Ein anregendes und Mut machendes Buch.

Michael Andrick
Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt
Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2020
208 Seiten
Klappenbroschur
15 EUR.

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2020

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