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BUCHBESPRECHUNG/188: Auf dem Ozean der Literatur - Thomas Blumbergs "Lesebegleiter" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2020

Auf dem Ozean der Literatur
Tobias Blumenbergs "Lesebegleiter"

von Hanjo Kesting


Als Kind soll Tobias Blumenberg, der Sohn des Philosophen Hans Blumenberg, mit seinem Vater Nachtspaziergänge gemacht haben, auf denen der Vater die Sterne zählte und Stichworte zu Gesprächen über Literatur gab. Sie fielen offenbar auf fruchtbaren Boden und machten den Sohn zum literarischen Enthusiasten. Von Beruf Zahnarzt, konnte er von seiner literarischen Leidenschaft auch später nicht lassen und fühlte sich sogar gedrängt, seine Erfahrungen mit Büchern aufzuschreiben und weiterzugeben. Daraus entstand das Buch Der Lesebegleiter, das zunächst im Selbstverlag erschien, dann dem Kritiker Denis Scheck in die Hände fiel, der Gefallen daran fand und es an die große Glocke seiner monatlichen Fernsehsendung hängte. Damit stand der weiteren Karriere des Buches nichts mehr im Wege. Jetzt hat ein angesehener literarischer Verlag (Kiepenheuer & Witsch) den Lesebegleiter als 784-Seiten-Opus herausgebracht.

Blumenberg, der Literatur-Enthusiast, möchte offensichtlich andere Menschen für das Lesen begeistern und ihnen den ganzen Reichtum der Weltliteratur zu Füßen legen. Er spricht seine Leser vertraulich mit "Du" an, um sie bei seiner "Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher" (so der Untertitel) gleichsam bei der Hand zu nehmen. Und er kennt sich tatsächlich aus, ist in der Literatur fast aller Zeiten und Länder beschlagen. Überdies schreibt er verständlich, vermeidet die Terminologie des akademischen Expertentums und glänzt mit Exkursen in die Musik- und Kunstgeschichte. All das nimmt für ihn und sein Buch ein.

Da Blumenberg die gesamte Weltliteratur zu umarmen sucht, sind seine Darstellungen in der Regel knapp. Oft liest man nur drei oder vier Zeilen über große Bücher wie Anna Karenina oder Schuld und Sühne. Die Romane von Charles Dickens werden der Reihe nach behandelt, aber Blumenberg hat für die 15 Romane des englischen Schriftstellers nur knapp drei Seiten und für ein Meisterwerk wie Große Erwartungen lediglich einen einzigen, nicht sehr erhellenden Satz: "'Große Erwartungen' hat Pip, der seine eigene Lebensgeschichte erzählt; aber das erwartete Erbe stammt von einem Verbrecher und am Ende muss er es aus eigener Kraft schaffen." Das ist ziemlich nichtssagend. Ist es wenigstens richtig? Die schmerzhafte Pointe des Buches besteht doch darin, dass Pips große Erwartungen unerfüllt bleiben und er lernen muss, die Verlockungen des Geldes und des Gentleman-Ideals als trügerisch zu erkennen.

Um Ordnung in die Fülle zu bringen, gibt es längere Abschnitte etwa über französische und russische Literatur, aber dieses Prinzip lässt sich in dem eher assoziativ angelegten Buch auf Dauer nicht durchhalten. Darum wird zum Beispiel Tolstois Roman Krieg und Frieden bereits 400 Seiten früher behandelt als die Bücher seiner russischen Kollegen, seltsamerweise in dem Kapitel "Abenteuer". Krieg und Frieden ist aber kein Abenteuerbuch, sondern eine große Chronik der napoleonischen Kriege in Romanform. Diese Kriege geben Blumenberg Gelegenheit, kurz auf Stendhals Roman Die Kartause von Parma, Kleists Hermannsschlacht und Beethovens Eroica einzugehen, auch wenn diese Werke nur beiläufig oder indirekt mit Napoleon zu tun haben. Beethoven wollte seine dritte Sinfonie ursprünglich dem Konsul Bonaparte widmen, strich die Widmung aber aus, als Bonaparte sich zum Kaiser krönte; Kleists Stück, geschrieben nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt 1806, ist eine antifranzösische Kampfschrift. Insofern passen beide Werke in den Napoleon-Zusammenhang, aber was sie in dem Kapitel "Abenteuer" zu suchen haben, bleibt rätselhaft, es sei denn, man macht sich Blumenbergs Feststellung zu eigen: "Napoleon war vieles, eben auch das verkörperte Abenteuer."

Es kann eben nicht wirklich gelingen, die ganze thematische Fülle der "Weltliteratur" in zehn Kapiteln unterzubringen. Neben dieser strukturellen Schwäche sorgt die Häufung von Fakten und Informationen für einen wachsenden Überdruss, nicht anders als der leichte Erzähl-, fast Plauderton, in dem Blumenberg seine Materie durchweg behandelt. Auf sechs Seiten referiert er 34 Stücke von Shakespeare und knüpft daran das kümmerliche Resümee: "Shakespeares Stücke quellen über von prallem Leben, vor allem ist er in der Lage, den leidenden Menschen glaubwürdig auf die Bühne zu bringen." So kann man dem größten aller Dramatiker kaum gerecht werden.

Auch sachliche Fehler sind zu verzeichnen, etwa wenn über Goethe gesagt wird, er habe es versäumt, Kleists Stücke in Weimar aufzuführen, oder wenn es über Puschkin heißt, er sei an den Folgen eines Duells mit dem eigenen Schwager gestorben. Puschkin starb im Duell mit dem Baron d'Anthès, dem Adoptivsohn des holländischen Gesandten, mit dem er weder verwandt noch verschwägert war. Goethe brachte in Weimar Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug zur Uraufführung, aber da die Aufführung als Fiasko endete, begründete sie das fatale Missverhältnis der beiden Autoren, zum Schaden Kleists, der nahe daran war, eine Duellforderung nach Weimar zu schicken, aber auch zum Schaden Goethes, dem die Nachwelt verübelte, Kleists Talent verkannt zu haben. Bei solchen Grundtatbeständen unserer Literaturgeschichte wiegen Irrtümer doppelt schwer.

Je näher der Lesebegleiter der Gegenwart kommt, desto lückenhafter und aussparender wird er, man könnte auch sagen: desto dünner und dürftiger. Namhafte Autoren wie Herta Müller, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Christa Wolf bleiben unerwähnt, nicht anders als Orhan Pamuk, Mario Vargas Llosa, José Saramago und Nadine Gordimer, um nur die Namen einiger Nobelpreisträger zu nennen. Elfriede Jelinek wird einmal kurz erwähnt, mit dem Attribut "die keifende". Über einen literarischen Riesen wie Günter Grass schreibt Blumenberg: "[Er] ist kein großer Schriftsteller (...) Sobald er sich vom Terrain des Selbsterlebten wegbewegt auf das weite Feld der Phantasie, nicht mehr authentisch klingt, langweilt er mich." Das ist in aller berechtigten Subjektivität doch erheblich zu kurz gegriffen. So wundert es kaum noch, dass ein anderer Riese, Gabriel García Márquez, mit seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit noch strenger abgefertigt wird: "ungenießbar". Der aktuelle Nobelpreisträger Peter Handke ist im Lesebegleiter lediglich mit dem frühen Buch Die Angst des Tormanns beim Elfmeter von 1970 vertreten, aber auch hier genügen Blumenberg wenige Zeilen. Sie münden in die Feststellung: "Die junge Literatur ist nicht auf dem Weg zum Sommermärchen, schiebt stattdessen den Ball zwischen Strafraum und Abseits unschlüssig hin und her." "Zwischen Strafraum und Abseits" ist eine riskante Metapher. Soll sie ernsthaft besagen, seit 1970 habe "die junge Literatur" nichts Nennenswertes mehr hervorgebracht?

Tobias Blumenberg: Der Lesebegleiter. Eine Entdeckungsreise durch die Welt der Bücher. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 784 S., 28 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bei Wallstein sind 2019 seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik erschienen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2020, S. 80 - 82
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2020

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