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BUCHBESPRECHUNG/140: Uwe Sonnenberg - Linker Buchhandel im Westdeutschland in den 1970er Jahren (Sachbuch) (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2017

Zwischen politischem Anspruch, Existenzsicherung und Verfolgung
Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 70er Jahren

von Rudolf Walther


Der Historiker Norbert Frei bemerkte einmal, die Studentenbewegung von 1968 sei bisher »überkommentiert und untererforscht«. Das ist richtig, wenn man die fast schon unüberschaubare Masse an Literatur zu dem Phänomen »68« von ganz unterschiedlichem intellektuellen Niveau und politischen Zuschnitt betrachtet. Auf das Buch von Uwe Sonnenberg über die Funktion und die Arbeit von linken Buchläden, Verlagen, Druckereien und Vertrieben in den 70er Jahren trifft Freis Kritik mit Sicherheit nicht zu. Es handelt sich um eine umfangreiche, äußerst materialreiche und wissenschaftlich fundierte Studie, die sich sicherlich bald als Standardwerk entpuppen wird. Es gelingt Sonnenberg zu zeigen, wie der linke Buchhandel zum zentralen Ort wurde, »an dem die 1968 aufgebrochene radikale Linke in ihrer Praxis 'anders arbeiten' wollte und selbst wirtschaften musste«. Als Schutz gegen die unpolitische »Existenzsicherungsmentalität« (Helmut Richter vom Verlag Neue Kritik) hatte das Berliner agit druck kollektiv einen Passus in seinen Arbeitsverträgen, wonach niemand länger als vier Jahre bei ihnen arbeiten dürfe, um zu vermeiden, dass die »politische Zielsetzung von agit zugunsten von persönlicher Existenzsicherung verhindert« wird. Ob und wie das zwiespältige Rezept funktionierte, ist nicht bekannt.

Viele nachfolgende soziale Bewegungen von der Ökologie- und der Alternativbis zur Frauenbewegung - um nur die größeren und wichtigeren zu nennen - haben von der Erfahrung und der Praxis linker Buchläden mit dem schwierig zu verbindenden kollektiven, solidarischen und politischen Wirtschaften profitiert.

Der linke Buchhandel entwickelte sich als Folge der Herausbildung einer Neuen Linken, die sich mit der Wiederbewaffnung, der sozialen und ökonomischen Restauration in Westdeutschland, dem Antikommunismus als Staatsreligion und der weitgehenden Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht abfinden wollte. Die Neue Linke hatte ihre Wurzeln in außerparlamentarischen sozialen Bewegungen, aber auch in Gruppen und Personen am linken Rand der SPD und bei oppositionellen Gewerkschaftern und kritischen Christen. Verkürzt gesagt ist die »Neue« oder »ausgebürgerte Linke« (Sebastian Scheerer) ein Produkt des KPD-Verbotes, des CDU-Staates, des Marsches der SPD nach Godesberg, der Opposition gegen die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn und der amerikanischen Kriege in Korea und Vietnam.

Der 1961 aus der SPD »ausgebürgerte« Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und sein 1965 gegründeter Verlag Neue Kritik wollten sozialistische Schriften, die durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Krieg in Vergessenheit geraten waren, zu Schulungszwecken wieder zugänglich machen. In diesem Verlag gründete der SDS deshalb das »Archiv sozialistischer Literatur«. Dessen erster Band war Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals von 1913. Ermöglicht wurde der Nachdruck durch die billige und relativ einfache Offset-Drucktechnik. Die 300 Exemplare wurden über die Unigruppen des SDS vertrieben. Nach wenigen Büchern gab der SDS seine Hobbydruckerei auf. Hinweise auf geeignete Druckvorlagen gaben sozialistische Gewerkschafter und Wissenschaftler wie etwa Jakob Moneta, Fritz Lamm, Viktor Agartz, Wolfgang Abendroth, vor allem aber der umtriebige und kenntnisreiche linke Buchhändler Theo Pinkus aus Zürich. Andere Verlage wie Trikont widmeten sich nicht Nachdrucken, sondern druckten aktuelle Texte zum Antikolonialismus, zu den Befreiungsbewegungen, zu Che Guevara und zum Rassismus in den USA.

Dass es dank der beginnenden Bewegung an den Universitäten einen »Markt für Marx« gab, merkten schnell auch kommerzielle Verlage - allen voran die Europäische Verlagsanstalt (EVA), Luchterhand, Rowohlt und Suhrkamp. Der Suhrkamp-Lektor Günter Busch empfahl seinem Patron Siegfried Unseld schon 1966 eine Reihe mit dem Arbeitstitel »Marxismus zeitgenössisch«, für den Namen wie Georg Lukács, Jean-Paul Sartre, Herbert Marcuse und Eric Hobsbawm standen.

Im Namen einer sogenannten »Gegenöffentlichkeit« von Demokratisierung, Mitbestimmung und Sozialisierung der Verlage schlossen sich linke Lektoren und Autoren als »Literaturproduzenten« zu einer offenen Vereinigung zusammen. Bei Suhrkamp löste die Forderung nach einer demokratischen Lektoratsverfassung, d. h. einer faktischen Entmachtung des Verlegers und Eigentümers Unseld, eine Krise aus. Im Laufe des Jahres 1968 entstanden erste linke Buchläden in fast allen Universitätsstädten und ein Jahr später waren bereits 100 Raubdrucke von 30 bis 40 Untergrunddruckern lieferbar. Diese verstanden ihre Produkte als »sozialisierte Drucke«.

Mit dem Zerfall der Studentenbewegung stellte sich für die chaotische linke Buchladen- und Raubdruckerszene die Frage der Koordination und Organisation, denn es drohte eine Kannibalisierung. Westberliner Buchladenkollektive ergriffen 1970 die Initiative zur Gründung des »Verbandes des linken Buchhandels« (VLB), der sich als Dienstleister verstand. Die Mitglieder verpflichteten sich, Gewinne aus dem Handel mit Büchern und Raubdrucken an politische Projekte abzuführen (was freilich nur in Ausnahmefällen klappte). Der Verband schlichtete Streitfälle und hatte um 1977 rund 200 Mitglieder mit 3.000 Beschäftigten, die sich jährlich zweimal trafen, um gemeinsame Probleme zu besprechen und betriebswirtschaftliche Abläufe zu optimieren.

Unmittelbar nach der Gründung geriet der VLB allerdings in eine schwere Krise, weil marxistisch-leninistische Gruppen, die sich als kommunistische Parteien drapierten, die Buchläden als »ihre« Parteibuchläden instrumentalisieren und das Sortiment nach ihren leninistisch-stalinistisch-maoistischen Vorstellungen bestimmen wollten. Mit knapper Not gelang es Linkssozialisten und Spontis, die Übernahme des VLB durch die Vorreiter des westdeutschen Campus-Kommunismus abzuwehren. Der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW) etwa war besonders stolz auf seine 1973 gegründeten 25 Buchläden. Der Stolz wich schnell der hybriden Parole, »mit Mao (...) in die Massen« zu gehen. Im September 1974 schloss der KBW die Buchläden und ersetzte sie durch lokale »Literatur-Obmänner«, die nun der Gefolgschaft das Standardfutter vorkauten und vorschrieben.

Oskar Negts im Sozialistischen Büro (SB) entwickeltes Konzept, »Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren«, verabschiedete das substanzlose Avantgardegerede der K-Gruppen. Der politische Einfluss des Konzepts auf die Arbeit des VLB ist schwer auszumachen, aber nach den Quellen, die Sonnenberg ausgewertet hat, unbestreitbar. Meino Büning (1936-2003) etwa - zuerst beim Express international, dann bei der Karl-Marx-Buchhandlung in Frankfurt und von 1979 bis 1991 bei der taz tätig - war einer der wichtigen Exponenten des VLB. Seine Charakterisierung des Verbandes als »Institution der rebellischen Intelligenz« und nicht einer eingebildeten Agentur der »proletarischen Avantgarde« stand dem Selbstverständnis der Linkssozialisten vom SB nahe.

Bundesweite politische Bedeutung bekam der VLB als loses Netzwerk »von einzigartigem Charakter« (Sonnenberg) 1976/77. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels beschäftigte sich zwischen 1969 und 1978 nicht weniger als 42 Mal mit dem Problem von Raubdrucken. Im Windschatten der politischen Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion (RAF) und dem Tod von Ulrike Meinhof ergriff er die Initiative und richtete eine Denkschrift an das Innenministerium unter Werner Maihofer, in dem er die Verluste durch Raubdrucke auf 25 bis 30 Millionen Mark bezifferte. Der anerkannte Raubdruckexperte Albrecht Götz von Olenhusen hält das für eine »gänzlich spekulative, unrealistische Hochrechnung«. Mithilfe einer privaten Detektei fahndete der Börsenverein auf eigene Faust nach Raubdruckern und brachte schließlich auch das Innenministerium dazu, dass das Bundeskriminalamt (BKA) gegen Raubdrucke ermittelte - nicht wegen Urheberrechts- bzw. Wirtschaftsvergehen, sondern wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB.

Hauptbetroffene von diesen Ermittlungen waren Buchläden und Buchhändler, auf die rund ein Viertel der harten polizeilichen Verfolgungs- und Einschüchterungsmaßnahmen entfielen. Diese bildeten den Vorwand und die Dekoration zur hysterischen CDU-Kampagne für ein »Gesetz zum Schutz des Gemeinschaftsfriedens«, das mit einer ganz großen Koalition der inneren Sicherheit am 16. Januar 1976 verabschiedet wurde. 1981 wurde die Gesetzesverschärfung (§§ 88a und 130a StGB) wegen der negativen Folgen für das »geistige Klima« wieder rückgängig gemacht. In den Jahren 1976/77 - mit dem Höhepunkt des »Deutschen Herbstes« - führte das verschärfte Gesetz jedoch eher zur Stärkung des VLB und zur Solidarisierung mit den verfolgten Buchhändlern. Das BKA präsentierte keine Belege, dass der VLB jemals Raubrucke gefördert hat. Die Ermittlungsakten sind inzwischen verschwunden. Mit solch präzisen Informationen und Befunden geizt das vorliegende Buch nicht. Ein starkes Stück Aufklärung.

Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren. Wallstein, Göttingen 2016, 544 S., 44 EUR.


Rudolf Walther
ist Historiker und freier Publizist. Er arbeitet für schweizer und deutsche Zeitungen und lebt in Frankfurt am Main. Unter dem Titel Aufgreifen, begreifen, angreifen erscheint im Herbst der fünfte Band der Reihe mit seinen Arbeiten im Oktober-Verlag.
rudolf.walther@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2017, S. 67 - 70
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Sigmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka, Thomas Meyer,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2017

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