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BUCHBESPRECHUNG/126: Die Abstiegsgesellschaft von Oliver Nachtwey (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Oliver Nachtwey
Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.

von Klaus Ludwig Helf, Januar 2017


In dem vorliegenden Band analysiert Nachtwey am Beispiel der Entwicklung in Deutschland den "fundamentalen gesellschaftlichen Wandel", der sich in den meisten westlichen kapitalistischen Ländern vollziehe; es geht es ihm vor allem darum, Ursachen, Zustände und Probleme dieser - wie er sie nennt - "Abstiegsgesellschaft" herauszuarbeiten, weniger darum, Alternativen und Auswege zu diskutieren. Aus einer Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ("soziale Moderne") - so seine Hauptthese - sei eine Gesellschaft des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden: "Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodieren seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehren sich Abstürze und Abstiege" (S. 8). Die euphorisierenden öffentlichen Verkündigungen einer "neuen Vollbeschäftigung" täuschten auch in Deutschland über die zunehmende soziale Ungleichheit, das explosive Anwachsen des Niedriglohnsektors und der Prekarität hinweg. Spätestens seit "Hartz IV" sei die Treppe steiler geworden; waren die Stufen auf der Treppe des Abstiegs früher flach und lang, so falle man jetzt schneller und tiefer und komme kaum wieder hoch: "... die soziale Rolltreppe fährt immer häufiger nach unten, soziale und wirtschaftliche Bürgerrechte werden zurückgebaut, neue Klassenstrukturierungen entstehen" (S. 187). Diesen dramatischen und drastischen gesellschaftlichen Wandlungsprozess und die Diagnose und Bewertung der gegenwärtigen Krisensituation dokumentiert und belegt Nachtwey in seinen wirtschaftwissenschaftlich wie soziologisch angelegten Analysen in differenzierender und überzeugender Weise; auch wenn der Schwerpunkt auf den deutschen Entwicklungen liegt, werden diese in den europäischen Kontext eingebettet.

Oliver Nachtwey (*1975) ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, war an den Universitäten Jena und Trier tätig und ist seit 2014 an der TU Darmstadt und assoziierter Wissenschaftler am Frankfurter Institut für Sozialforschung; seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeit, Ungleichheit und Protest. Er publiziert regelmäßig für die «Blätter für deutsche und internationale Politik«, die «tageszeitung«, die «Junge Welt«, die «Frankfurter Allgemeine Zeitung« und für die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«; für den vorliegenden Band erhielt er den von der Friedrich-Ebert-Stiftung vergebenen Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik 2016.

In fünf Kapiteln analysiert Nachtwey die historische Entwicklung der Klassengesellschaft in Deutschland bis zum Sozialstaat sowie dessen Umwandlung in eine Abstiegsgesellschaft: Soziale Moderne/ Kapitalismus (fast) ohne Wachstum/ Regressive Modernisierung/ Sozialer Abstieg/ Aufbegehren; es folgt ein recht umfangreiches Literaturverzeichnis.

Das zentrale Credo in der "alten" Nachkriegs-BRD sei die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gewesen: "In der sozialen Moderne gedieh der Sozialstaat, alte Klassenschranken wurden abgetragen, soziale Mobilität und Bildungschancen nahmen zu. Vor allem Kinder aus Arbeiterklassenfamilien erreichten ein bislang nicht gekanntes Niveau individueller Entfaltungsmöglichkeiten ... Aus Proletariern wurden Bürger." (S. 10) Für diese soziale Durchlässigkeit prägte der Soziologe Ulrich Beck den Begriff "Fahrstuhleffekt": alle Schichten, Arm und Reich fahren gemeinsam im Fahrstuhl nach oben; die Ungleichheiten werden dadurch zwar nicht beseitigt, spielten aber keine Rolle mehr, da es allen besser ging. In der Folgezeit entwickelte sich die Moderne zwar weiter, aber gleichzeitig zurück in eine "regressive Moderne" durch allmählichen Umbau des Sozialstaates und Rückbau sozialer Staatsbürgerrechte; soziale Klassenstrukturierungen - wenn auch nicht als traditionelle kollektive Klassenkampf-Milieus - kehrten wieder, ebenso viele soziale Konflikte, die sich entzündeten an der "Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen Freiheit und Gleichheit". Nachtwey benennt und analysiert auch die Wegmarken und Faktoren, die diesen Transformationsprozess verursacht haben: u.a. Ende des Bretton-Woods-Systems, Krisenzyklen der Weltwirtschaft, der Finanzmärkte, des Bankensystems und der Warenproduktion, Aufstieg des Neoliberalismus, schrankenlose Globalisierung nach 1989 und die Folgen der Kriege und des Kapitalismus (fast) ohne Wachstum. Die "soziale Moderne" sei schrittweise bereits seit Mitte der 70er Jahre von der "regressiven Moderne" abgelöst worden: stetig wachsende Vermögens- und Einkommensungleichheit, Verlust sozialer und solidarischer Bindungen, zunehmende Zahl einfacher und schlecht bezahlter Jobs (neues industrielles Dienstleistungsproletariat) und das Entstehen eines auch hochqualifizierten Prekariats mit Teilzeitverträgen (prekäre Vollerwerbsgesellschaft). Die Gesellschaft werde zwar insgesamt immer reicher, aber die Armen profitierten nicht davon: "Der zusätzliche Reichtum landet jedoch in Taschen, die ohnehin gut gefüllt sind. Solch eine Gesellschaft ist dann auch nicht mehr gerecht im Sinne des liberalen Differenzprinzips, demzufolge Vorteile für die Bessergestellten insofern legitim sind, als die weniger Bessergestellten ebenfalls davon profitieren" (S. 161/162). Die Armut sei seit der Jahrtausendwende nicht nur angewachsen, sondern habe sich verfestigt, vor allem durch den Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten. Die Mitte habe sich polarisiert; am ihrem unteren Ende häuften sich die Abstiege und im oberen Teil wachse die Unruhe: "Die Träume von ungebrochenem Aufstieg, Eigenständigkeit und Sicherheit erfüllen sich nicht mehr zwangsläufig ... Zuvor garantierte ihnen ihre Qualifikation so etwas wie einen ständischen und privilegierten Status, nun nimmt die Zahl qualifizierterer Arbeitskräfte unablässig zu ..." (S. 151). Breite Teile der Mittelschicht (statusbesorgte Mitte) gerieten in Angst und Panik: "Über den Vergleich mit den «sozialen Nachbarn« kriecht die Abstiegsangst die Bürotürme hinauf und in die Häuser der gepflegten Vorstädte hinein." (S. 153) Höhere Bildung garantiere heute nicht mehr automatisch einen gesicherten und gehobenen Status. Auch in einzelnen Berufsgruppen (u.a. Lehrer, Journalisten, Anwälte) gebe es fragmentierte Abstiegsprozesse: Beschäftigte mit unterschiedlichen Niveaus an sozialer Sicherung und wirtschaftlichen Bürgerrechten (befristet, untertariflich): "Vor allem die kommenden Generationen werden schlechtere Beschäftigungsbedingungen vorfinden und sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam auf das Niveau ihrer Vorgängergenerationen hocharbeiten können." (S. 156) Die Statusängste der Mitte führten zum Aufkündigen ihrer Solidarität mit den Schwächeren: "Wo vorher noch eine gewisse Liberalität herrschte, weicht sie nun rigoroseren Vorstellungen über Moral-, Kultur- und Lebensführung. Angesichts der gestiegenen Ängste vor «Kontaminierung« und «Ansteckung« sucht man den größtmöglichen Abstand und die scharfe Abschottung zur Kultur der «Parallelgesellschaften« in der Unterschicht." (S. 167/168) Die vom Abstieg Bedrohten und die real Abgestiegenen klammerten sich nach wie vor an ihren vergangenen oder imaginierten Status als Teil der Mittelschicht und hielten rituell und mental an der Aufstiegsorientierung fest, auch wenn sie ihre Hoffnungen längst aufgegeben hätten, da sie dies als persönliches - nicht gesellschaftliches - Scheitern empfänden. Für die Menschen, die sozial abgestiegen oder in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes tätig sind, bliebe heute kaum Hoffnung; sie fühlten sich ausgegrenzt, diskriminiert, deklassiert, phlegmatisch und fatalistisch. Insgesamt führe die Abstiegsgesellschaft in eine neue Klassengesellschaft: "Die Oberklasse lebt in einer ständischen Welt, in der man sozial abgeschottet ist. Die Mittelklasse koproduziert sich durch die zunehmende Praxis sozialer Schließungen und kultureller Distinktionen. Die Melange aus sozialstaatlicher Kontrolle und Disziplinierung, prekären Jobs oder Sozialleistungen konstruiert eine neue Unterklasse. Diese wird in einer sozialen Lage fixiert, aus der es nur wenige Aus- und Aufsteiger gibt." (S. 169/170) Diese neue Klassengesellschaft unterscheide sich von der des 19. Jahrhunderts vor allem dadurch, dass weder ein homogenes Klassenbewusstsein noch ein Handlungspotenzial existiere; es sei vielmehr eine "Klassengesellschaft ohne Klassenspannung" (Bude) entstanden, die aber dennoch zu Akten des Aufbegehrens führen könne. Seit der Jahrtausendwende gebe es eine "regelrechte Renaissance des Aufbegehrens"; während es in Deutschland relativ ruhig geblieben sei, hätten Massenproteste große Teile West- und Südeuropas erschüttert: "Das Gesamtbild dieses Aufbegehrens ist allerdings unübersichtlich und mitunter in sich äußerst widersprüchlich. Viele Proteste flammten nur vorübergehend auf und blieben episodisch." (S. 181) Dennoch hält es der Autor für nicht unwahrscheinlich, dass wir in den nächsten Jahren eine Zunahme sozialer Konflikte erleben werden.

Nachtwey liefert mit seinem Band eine kompakte, scharfsinnig und schonungslos reflektierte Gesellschaftsanalyse; sie ist klar gegliedert und sprachlich verständlich geschrieben, so dass auch soziologische Laien die eingeflochtenen Fachdiskurse um Beck, Bourdieu, Bude, Dahrendorf, Habermas, Hartmann und Marx nachvollziehen können. Es ist ihm gelungen, nicht nur die Ursachen und Auswirkungen der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse seit den 50er Jahren multidimensional zu erfassen, sondern auch die politische DNA des europaweiten Aufbegehrens in seinen widersprüchlichen Facetten zu beleuchten und auch zu markieren. Die Abstiegsgesellschaft entwickele - so die These Nachtweys - ernst zu nehmende politische Gefahren: "... dass regressive Modernisierung und postdemokratische Politik zu einer autoritären Strömung führen, die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigt. Diese Gefahr ist der böse Zwilling des demokratischen Aufbegehrens, genährt von einer Mixtur aus antidemokratischen und religiös-identitären Ressentiments." (S. 233) Davon profitierten die extreme politische Rechte in Europa wie der NLF oder die AfD; der traditionellen politischen Linken sei der optimistische Blick in die Zukunft verloren gegangen.

Oliver Nachtwey
Die Abstiegsgesellschaft.
Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
264 S., br.
18 EUR

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2017

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