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BUCHBESPRECHUNG/090: "Denk mal! 2015" von R. Willemsen, C. Emcke, N. Pauer (Anthologie) (Klaus Ludwig Helf)


"Denk mal! 2015"
Anregungen von Roger Willemsen, Carolin Emcke, Nina Pauer, Harald Welzer, Stefan Klein, u.a.

Vorstellung der Anthologie von Klaus Ludwig Helf, Januar 2016


Unter dem Motto "Ein guter Text kann uns die Augen öffnen und unsere Art, die Welt wahrzunehmen, für immer auf den Kopf stellen ..." hat der Fischer Verlag dreizehn seiner Autorinnen und Autoren in einem schmalen Band zu Wort kommen lassen; sie gehören zu unseren wichtigsten, produktivsten, originellsten und kreativsten zeitgenössischen Vor- und Nachdenkern. Die ausgewählten Texte blättern wie in einem Kaleidoskop brennende, aktuelle Fragen und Probleme unserer Gegenwart auf und bieten anregende und bedenkenswerte Ideen und Impulse an. Der Band eignet sich hervorragend als inspirierendes und aufmunterndes Vademecum in schwierigen Zeiten wie diesen.

Roger Willemsen reflektiert über den Ernst des Lebens anhand seiner Kindheits- und Jugendjahre, der lebenslang prägenden Kraft seiner Mutter und seines Kampfes gegen deren atemberaubende, erdrückende Stärke und Fürsorge:

Diese Mütter ahnen ja nicht, wie sie uns mit ihrer Güte ruinieren. Und wie lange litt ich an diesem Mutter-Prinzip ... Das schlimmste an meiner Mutter aber, das waren ihre Blicke. So indigniert, so vorwurfsvoll und missbilligend ... Manchmal schaute ich sie mir einfach an. Da sitzt sie, dachte ich, meine Mutter, ein Massiv, eine Institution, eine Behörde. Ja, meine Mutter ist eine Behörde.   (S. 28/29).

Nina Pauer, Jahrgang 82, schreibt über die Liebe und die Angst ihrer Generation; sie blickt zurück auf ein lebensfrohes, unbeschwertes, unkompliziertes, weithin selbstbestimmtes Studentenleben, in dem "wir alle noch komplett anders drauf" waren. Heute sei es ein verkopftes, sorgenvolles, kompliziertes, mit Ansprüchen überladenes Erwachsenendasein: "Wir haben unsere Erwartungen immer höher gesteckt. An den anderen, ans Zusammensein. Und an uns selbst ... Es geht um nichts Geringeres als unseren eigenen, riesigen, erdrückenden Anspruch herauszufinden, was und wer genau zu uns passt" (S. 33). Es müsse nun Schluss sein mit der anstrengenden, eigenen Kompliziertheit, mit dem Gehemmtsein und mit dem verzweifelten, einsamen Warten und mit der Furcht vor Bindungen, mit der schnellen Bereitschaft abzuspringen, mit der ewigen Unzufriedenheit: "All das hängt uns zum Halse raus. Und deshalb wollen wir es jetzt endlich einmal anders machen. Wir wollen am Ball bleiben. Wir wollen uns wagen" (S. 43).

Carolin Emcke räsoniert über den latenten Rassismus in unserer Gesellschaft:

Die Gefahr für das Erbe der Aufklärung sind nicht Andersgläubige, sondern Ideologen, die politische oder soziale Fragen in religiöse oder ethnische umdeuten. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind ebenso Feinde der europäischen Idee wie Glaubensfuror und Terrorismus.  
(S. 228/229)

Bei den Debatten um Migration, Flucht und Terrorismus sieht sie in Europa mit Recht den Rationalismus der Aufklärung und den liberalen Individualismus in Gefahr: "Nicht Kirche, nicht soziale Klasse, nicht Herkunft sollen über das moderne Subjekt bestimmen dürfen, sondern die autonome, freie Wahl des Einzelnen muss vom Staat geschützt und verteidigt werden" (S. 226).

Harald Welzer analysiert gewohnt scharfsinnig die Probleme des Klimawandels und wehrt sich zu Recht gegen ausschließlich technisch und naturwissenschaftlich orientierte Lösungsstrategien:

Die Erde plant so wenig wie das Meer, und auch wenn die Menschen verschwunden sind, wird die Biosphäre weiterexistieren. Deshalb sind alle ökologischen Fragen nie etwas anderes als soziale und kulturelle Fragen: Sie betreffen immer die Existenzbedingungen menschlicher Überlebensgemeinschaften.   (S. 210).

Außer dem Klimawandel gebe es mindestens genauso gravierende ökologische Probleme wie Bodenzerstörung, Trinkwassermangel und Überfischung, die alle auf den völlig übermäßigen Ressourcenverbrauch und -handel, den "Extraktivismus", zurückzuführen seien. Diesem könne man nicht allein durch internationale Abkommen oder Schaffung neuer Märkte beikommen, sondern unbedingt auch durch die Umstellung der persönlichen Ernährungs-, Mobilitäts- und Konsumgewohnheiten: "Er [der Extraktivismus] lässt sich nur durch Reduktion von Verbrauch bekämpfen. Da er eine soziale Praxis ist, kann er durch nicht nichts ersetzt werden als durch eine andere soziale Praxis. Genau an diesem Punkt wird es politisch" (S. 219).

Robert Pfaller lästert über die grassierende zeitgenössische Lustfeindlichkeit in unserer Gesellschaft; neoliberale Ökonomie und postmoderne Ideologien hätten die Menschen um den Genuss elementarer Lebensqualitäten gebracht; Mäßigung, Sicherheit, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Kosteneffizienz seien prioritäre Maßstäbe unserer Lebensgestaltung geworden, statt danach zu fragen, wofür wir leben. Wir hätten kein vernünftiges Verhältnis mehr zum Genuss, die Lust werde in neurotische Unlust verkehrt: "Auch die Mäßigung, die unser profanes Leben reguliert, kann zur Maßlosigkeit werden. Genau in dieser Situation leben wir gegenwärtig. Wir mäßigen uns maßlos" (S. 177). In seinen materialistisch und psychoanalytisch inspirierten philosophischen Betrachtungen animiert er uns zu mehr Genuss und Lebensfreude.


Denk mal! 2015
Anregungen von Roger Willemsen, Carolin Emcke, Nina Pauer, Harald Welzer, Stefan Klein u.a.
Anthologie
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Taschenbuch
237 Seiten
EUR 8.00

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2016

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