Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/080: "Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus" von J. Lohl, A. Moré, Hg. (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Jan Lohl, Angela Moré (Hg.):
"Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien"

von Klaus Ludwig Helf, April 2015


Vor 70 Jahren, am 8. Mai, wurden die Deutschen von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit. Als die Waffen endlich schwiegen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot. Gefallen an der Front, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in Bombennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der großen Flucht. Mehr als sechs Millionen europäische Juden wurden ermordet. Tausende Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, politisch Andersdenkende und Homosexuelle wurden verfolgt und getötet. 17 Millionen Menschen waren verschollen. Weite Teile Europas waren zerstört.

70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz stand jetzt ein ehemaliger SS-Mann vor Gericht in einem Prozess, der schon vor Jahrzehnten hätte geführt werden müssen und der wohl aus biologischen Gründen einer der letzten Auschwitz-Prozesse war. Das Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Buchhalter Oskar Gröning wegen Beihilfe zur Ermordung von 300.000 ungarischen Juden machte einmal das skandalöse Verhalten der Staatsanwaltschaften aus früheren Zeiten deutlich (die unheilvolle Verstrickung der Nachkriegsdeutschen- mit der NS-Justiz wurde erst seit einigen Jahren aufgearbeitet); auch, dass die sozialgeschichtlichen und sozialpsychologischen Folgewirkungen des Nationalsozialismus auf der Täterseite noch immer nicht ausreichend erforscht und publiziert sind.

Hier leistet der vorliegende Band vorbildliche, aufklärende und erhellende Dienste; er geht zurück auf die Ergebnisse einer Tagungsreihe der Evangelischen Akademie Hofgeismar zum Thema Erbe des Nationalsozialismus (2004 bis 2012); mehrheitlich hatten die Autorinnen und Autoren der Beiträge auf den Tagungen referiert; einige Artikel wurden ergänzend aufgenommen. In einem einleitenden Aufsatz referiert die damals zuständige Tagungsleiterin, Heike Radeck, Kontext und Prozess der Tagungen und skizziert die einzelnen Beiträge: "Ich hoffe, dass die Tagungsreihe ... revolutionäre Anstöße geben konnte und zu einer Erinnerungskultur beigetragen hat, die seelischen Reichtum und geistige Würde befördert" (S.24). Wenn man sich durch den Band durchgearbeitet hat, so kann man dieser Hoffnung nur absolut positive Rückmeldung geben; die psychoanalytischen, sozialpsychologischen und historischen Beiträge machen in vielfältiger und einleuchtender Weise deutlich, wie die von der Tätergeneration abgelehnte Verantwortung für ihre schuldhafte Mitwirkung an und/oder Verstrickung in die Verbrechen und Grausamkeiten des NS-Regimes sich unbewusst in die Psyche ihrer Nachkommen eingefressen hat und deren Ursache diese nicht erkennen können: Identitätsstörungen, diffuse Schuld- und Trauergefühle, Wünsche nach Wiedergutmachung und Schamgefühle. Wissenschaftliche Forschungen belegen auch, dass die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Konflikte die Entstehung von rechtsextremen Orientierungen, Identifikationen und Handlungen begünstigen kann.

Die beiden Herausgeber des Bandes sind wissenschaftlich ausgewiesene Forscher zum Thema Nationalsozialismus und transgenerative Prozesse: Angela Moré ist als Sozialpsychologin Professorin an der Leibniz Universität Hannover, Mitbegründerin des gruppenanalytischen Instituts GIGOS und hat u.a. zu transgenerationalen Prozessen aus einer psychoanalytischen Perspektive publiziert. Jan Lohl ist promovierter Sozialwissenschaftler und Coach, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M. mit den Arbeitsschwerpunkten Psychoanalytische Sozialpsychologie, Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung, generationenübergreifende Nachwirkungen des Nationalsozialismus; Veröffentlichungen zu diesen Themen.

Nach dem bereits erwähnten Beitrag von Heike Radek folgen weitere neun Aufsätze, die sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und Methoden mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus auseinandersetzen: empirisch, theoretisch, historisch, sozialwissenschaftlich, basierend auf der gruppenanalytischen und therapeutischen Praxis oder aufgrund der eigenen Biografie. Folgende Themen werden im Einzelnen bearbeitet: Deutsche Geschichtsdebatten als Generationengespräch (Hannes Heer) / Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik (Wolfgang Benz) / Transgenerationalität und Rechtsextremismus (Jan Lohl) / Zum Szenischen Erinnern der Shoah (Kurt Grünberg & Friedrich Markert) / NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen (Angela Moré) / Über Kriegserlebnisse der Väter und ihre Schatten auf die Nachkriegsgeneration (Ruth Waldeck) / Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog (Elke Horn) / Folgen der Verleugnung der NS-Geschichte für die Nachkommen und über deren Aufarbeitung (Ute Althaus) / Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus und Geschlecht (Katharina Rothe & Oliver Decker). Am Ende der jeweiligen Beiträge ist ein Literaturverzeichnis angefügt; die Vita der Autorinnen und Autoren wird am Ende des Bandes skizziert.

Den umfangreichsten und gesellschaftspolitisch brisantesten Beitrag hat Hannes Heer (Kurator der kontrovers und hochemotional diskutierten "Wehrmachtsausstellung") beigesteuert; bei der Analyse der NS-Geschichtsdebatten und -Skandale (u.a. Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung, Jenninger, Grass, Walser) kommt er zu folgendem Fazit:

Es waren geplante und bewusste Aktionen, die in der Absicht erfolgten, gegen ein herrschendes Geschichtsbild und dessen Sprachregelungen Front zu machen und beides zu verändern oder eine neue, kritische Aneignung der Geschichte zu verhindern. Ein Skandal wurde daraus, wenn solche Vorstöße von großen Teilen der Gesellschaft oder in deren Vertretung: von Experten als grobe Regelverstöße angesehen und mit öffentlichem Protest beantwortet wurden ... In Skandalen überprüft eine Gesellschaft die Gültigkeit ihrer moralischen und politischen Normen. Das kann zur Bestätigung dieser Normen und einem neu bekräftigten Konsens führen oder aber die Öffnung zu veränderten Haltungen und entsprechend anderen Grenzziehungen ermöglichen. Im letzteren Fall wirken Skandale als vorlaute Boten des Neuen. [S. 78/79]

Freud stellte bereits in "Totem und Tabu" fest, dass keine Generation imstande sei, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen; auch bei den Versuchen der Entstellung und Vertuschung ihres Erlebens spürten die Jüngeren diese unbewusst übermittelte "Gefühls-Erbschaft" und würden dadurch beeinflusst oder gar geprägt werden. Für die Nachkommen bedeutet dies, dass sie Gefühle in sich aufnehmen und wahrnehmen, die nicht durch eigene Erfahrungen erworben wurden, sondern durch Bezugspersonen vermittelt wurden. Die Eltern selbst kämen zwar über das Erlebte und das Verschuldete mit den Kindern und Enkeln nicht ins Gespräch darüber, hofften aber unbewusst darauf, bei denen Entlastung oder sogar Verständnis zu finden. Angela Moré verweist darauf, dass die Vermittlung dessen, was unsagbar ist und verborgen werden soll, in Metaphern und Bildern, Gesten, Andeutungen, Inszenierungen oder in neurotisch induzierten emotionalen Reaktionen und Verhaltensweisen geschehe (S. 240). So stellte Moré bei NS-Tätern folgendes fest: "Von ihren Kindern wollten sie als Opfer gesehen und bedauert werden ... Auf direkte Fragen der Kinder hin reagierten sie entweder mit eisigem Schweigen und Gefühlskälte, wenn nicht gar mit Ärger und zornigen Zurückweisungen, als werde ihnen Unrecht getan" (S.209).

Über die Formen und Wege, über die sich die Verstrickungen der NS-Zeit indirekt an die Nachkommen übertragen und sich "als rätselhafte und widersprüchlichen Eindrücke" in der Gefühlswelt der Nachkommen abgelagert haben, wurde in den letzten Jahren viel geforscht:

Es sind primär körpersprachliche Botschaften mit hohem affektivem Gehalt, die den Kindern signalisieren, wo sie Tabus berühren und die Identität ihrer Eltern bedrohen. Die Antworten der Eltern darauf waren entweder Abwendung und Rückzug, die von Emotionen wie Ärger oder Trauer begleitet wurden oder aber Vorwürfe, undankbar zu sein. Sie reagierten mit trotziger Abwehr oder der Androhung von Strafen und Liebesentzug bis hin zur Verstoßung der eigenen Kinder. [S.210]

Die aktuellen Ereignisse um die skandalösen Verstrickungen und Vertuschungen bei der NSU-Affäre, um die Aufmärsche von "Pegida", um die Ausschreitungen und Morddrohungen wegen der Flüchtlinge und Asylbewerber und um die antisemitischen Anschläge in Paris lassen die Probleme und Fragen nach den unbewussten und nicht bearbeiteten Erbschaften des Nationalsozialismus wieder aufleben; die jeweils unterschiedlichen Beiträge dieses Bandes weisen eindrücklich und nachdrücklich darauf hin, dass die NS-Täterschaft und das transgenerationale Erbe noch nicht erschöpfend erforscht sind - wie auch Ute Althaus in ihrem Beitrag feststellt:

Loyalität mit den Tätern geht mit einer Empathieverweigerung mit den Opfern einher. Eine Täterforschung, die die Menschen des Widerstands und das Leiden der Opfer nicht mit einbezieht, führt eher zu entschuldigenden und den Tätern gegenüber loyalen Ergebnissen. Ich bezweifle, ob eine Forschung ohne Bearbeitung der eigenen Ausblendungen und blinden Flecken, die wir Kinder der Nazis uns in unserem Aufwachsen in diesen NS-Familien als Überlebensstrategien aneignen mussten, überhaupt möglich sei. [S.283]

Der Band ist eine hervorragende Basis für eine vertiefende wissenschaftliche und politische Reflexion der "Gefühlserbschaften" des Nationalsozialismus; er ist trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs wegen seiner klaren, gut verständlichen Sprache, der praxisnahen und beispielhaften Komposition auch für ein breiteres interessiertes Publikum zugänglich. Das ist auch gut so - damit möglichst viele sich mit dem verheerenden, nachhaltigen Wirken des NS-Erbes grundsätzlich auseinandersetzten können, auch in selbst-reflexiver Absicht.

Jan Lohl, Angela Moré (Hg.)
Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus
Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien
Buchreihe: Psyche und Gesellschaft
Psychosozial-Verlag, Gießen 2014
Broschur
315 Seiten
29.90 EURO
(auch als E-Book verfügbar)

*

Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang