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BUCHBESPRECHUNG/057: Hilal Sezgin "Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere ..." (Ingolf Bossenz)


Moral ohne Keule

Hilal Sezgin denkt nach über »neue Formen eines besseren Miteinanders von Menschen und Tieren«

Von Ingolf Bossenz, 31. Mai 2014



Wenn es darum geht, den politischen Gegner zu treffen, ist selbst Kleinvieh, das bekanntlich auch Mist macht, willkommen. Jedenfalls wetterte Bernd Riexinger, Vorsitzender der LINKEN, jüngst auf dem Parteitag in Berlin: »Die Hauptsorge der Grünen scheint sowieso der Hühnerhaltung zu gelten.« Ein Satz, der jene Herablassung zeigt, die man nach langjährigen tierethischen Debatten bei linken Politikern eigentlich überwunden glaubte.

Hilal Sezgin, die mit »Artgerecht ist nur die Freiheit« ihr neuestes und zweifellos bislang wichtigstes Buch vorlegte, gibt sich dennoch optimistisch: »Die allermeisten Mitglieder unserer Gesellschaft meinen heute, dass man das Wohl von Tieren mitbedenken muss.« Sicher hat dieses »Mitbedenken« schmale Änderungen bei der trostlosen und leidvollen Haltung, beim elenden Leben und erbärmlichen Sterben von Hühnern, Schweinen, Rindern sowie anderen sogenannten Nutztieren bewirkt. Dies »Verbesserungen« zu nennen, würde indes jeglicher Semantik Gewalt antun, die »besser« als Komparation von »gut« betrachtet.

Mit solcher Rechtfertigungsideologie macht Sezgin Schluss, indem sie Tierquälerei und -ausbeutung auf den moralischen Grund geht. Und sie schafft es im Zuge ihrer stringenten wie erfrischenden Argumentation, diesen Grund als ausgesprochen schlüpfrig und schlammig, als veritablen Abgrund zu entlarven.

Die 1970 geborene Philosophin und Schriftstellerin fragt, was für ein Bild sich ergäbe, wenn der Mensch »die Interessen der Tiere im Verhältnis zu seinen eigenen fairer, mitfühlender oder angemessener gewichten würde«. »Dieses Gewichten«, so Sezgin, »ist das Geschäft der Moral, das gründliche Nachdenken darüber nennt sich Moralphilosophie.« Eben diese durchzieht das Buch bis zur letzten Seite. Was es so besonders macht. Und zugleich gewagt: Denn wo von Moral die Rede ist, ist die Keule nicht weit. Doch Hilal Sezgin packt sie gar nicht erst aus. Wie viel von dem ausgerollten Moralteppich als begehbar akzeptiert wird, muss der Einzelne selbst entscheiden.

Um es noch einmal zu prononcieren: In dieser Streitschrift, die auf jeden rechthaberischen Habitus verzichtet, geht es nicht um mehr oder weniger große Ställe, nicht um mehr oder weniger Betäubung vor dem Totschlag, nicht um Konsequenzen für das Klima durch die Viehzucht, nicht um Folgen des Fleischkonsums für die Gesundheit, nicht um Auswirkungen der Tier-»Produktion« auf die Dritte Welt. Es geht einzig darum, ob wir als Menschen das moralische Recht besitzen, andere empfindungs- und leidensfähige Wesen zu quälen, zu töten, auszubeuten. Und zwar einzig aus dem Grund, weil uns dieses Quälen, Töten, Ausbeuten tatsächlichen oder vermeintlichen Nutzen bringt, weil es unser Leben angenehmer, genussvoller, bequemer macht, weil es angeblich »natürlich« ist, weil es »schon immer« so war ...

Dass diese Frage mit einem ebenso klaren wie folgerichtigen Nein beantwortet wird, sei an dieser Stelle vorweggenommen, ohne die Spannung (Und das Buch ist ausgesprochen spannend!) zu schmälern. Hilal Sezgin platziert die Argumente wie Schachfiguren, wobei sie mögliche (Denk-)Züge des Lesers, nahe wie auch fernere Einwände einkalkuliert und Skeptiker eloquent, elegant und zugleich umgänglich mit dem Unumgänglichen schachmatt setzt. Ohne sie zu Verlierern zu machen.

Denn: Wer den ethischen Erkenntnissen folgt, sie akzeptiert und einkalkuliert, kann nur gewinnen. Nämlich im Ausbau seines Potenzials, eine Mitwelt zu verändern, die in unserer abendländischen Schlachthauskultur durch strukturelle wie exemplarische Gewalt geprägt ist. Von dieser Gewalt zeugen Millionen Tiere, die für leidvolle, oft grausame Tierversuche gezüchtet, gefangen gehalten und schließlich »verbraucht« werden. Davon zeugen Milliarden Tiere, die in kürzester Zeit möglichst viel Fleisch auf ihre dafür oft gar nicht ausgebildeten Skelette bekommen müssen, um am Ende zerstückelt in den Fleischtheken zu landen. Davon zeugen die Kolonnen trauriger Kreaturen, die auf grauen Steinböden oder gedrängt in Käfigen Milch und Eier »produzieren«. Und das alles für den »Konsumenten« am Ende einer Handlungskette, die dermaßen klein- und arbeitsteilig ist, dass, wie Hilal Sezgin schreibt, »der eigene Beitrag zu dem Unrecht, das damit insgesamt angerichtet oder institutionalisiert wird, nicht abzusehen ist«.

Sicher, ein solcher Konsument nicht mehr sein zu wollen, hat Konsequenzen - eine vegetarische, besser: vegane Lebensweise, deren Impetus nicht hypermoderner Lifestyle, sondern altmodische Moral ist. Und dabei geht es längst nicht nur ums Essen. »Es geht darum«, so Hilal Sezgin, »ein neues Zusammenleben mit den anderen Spezies zu ermöglichen. Und die Hoffnung lautet, dass da, wo man alte Formen des Unrechttuns weglässt, neue Formen eines besseren Miteinanders von Menschen und Tieren entstehen.«

Utopisch? Aber gewiss. Doch muss man nicht Unmögliches verlangen, um das Mögliche zu erreichen? Bismarck war davon überzeugt. Und nach dem Mann ist immerhin eine Tierart benannt.


Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen. Verlag C.H. Beck. 304 S., br., 16.95 EUR. Die Autorin ist am 14. Juni Gast beim nd-Pressefest, 13.30 Uhr im Lesekeller.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2014
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 31.05.2014
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/934558.moral-ohne-keule.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2014