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BIBLIOTHEK/523: Die digitale Reise hat gerade erst begonnen (dbv)


Deutscher Bibliotheksverband e.V. - Themenservice vom 27. November 2012

Die digitale Reise hat gerade erst begonnen

Am 28. November 2012 startet die Deutsche Digitale Bibliothek für die Öffentlichkeit. Sie bietet Zugriff auf Millionen digitalisierter Kulturschätze in Bibliotheken, Museen und Archiven. Das Projekt ist ein wichtiger Meilenstein bei der Digitalisierung der Medienbestände hierzulande. Denn es zeigt die vielen Möglichkeiten der neuen Technik, aber zugleich auch die Probleme, die sie mit sich bringt.



Symphonien von Robert Schumann, Protokolle aus Verhandlungen des deutschen Reichstags und eine Handschrift des Nibelungenlieds haben die Verwandlung schon hinter sich. So wie Millionen anderer Werke wurden sie auf große Scanner gelegt. Wenige Augenblicke später gab es eine digitale Kopie von ihnen. Schon seit Jahren bleibt in den Bibliotheken kein Buch auf dem anderen: Dicke ledergebundene Bücher, kostbare Handschriften oder Fotosammlungen werden in immer größerer Zahl in computerlesbare Dateien umgewandelt. Das Zeitalter der Digitalisierung hat in den Öffentlichen und Wissenschaftlichen Einrichtungen mit großen Schritten Einzug gehalten. Ihre Schätze bieten sie Bibliotheksbesuchern heute nicht mehr nur auf gedrucktem Papier. Mittlerweile ist es selbstverständlich, dass viele Angebote auf Computern oder Tablet-PCs, auf dem Smartphone oder E-Book-Reader genutzt werden können.

Ein wichtiger Meilenstein in diesem Prozess ist die Eröffnung der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) für die Öffentlichkeit. Nach fünf Jahren Aufbauzeit wird die Beta-Version am 28. November 2012 gestartet und bietet eine zentrale Internet-Plattform für den Zugriff auf zunächst rund 5,5 Millionen Datensätze. Sie stammen vorerst aus rund 80 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen wie Museen, Archiven oder Bibliotheken. Später einmal könnten sich insgesamt bis zu 30.000 Einrichtungen an dem Netzwerk beteiligen. All diese Dateien sind für Nutzer überall auf der Welt und zu jeder Zeit komfortabel zugänglich. Sie lassen sich so einfach nutzen wie moderne E-Books oder E-Journals, die mittlerweile zum festen Bestand vieler Bibliotheken gehören.


Die digitale Revolution erfasst die Bibliotheken auf ganzer Linie

"Seit Jahren werden Inhalte digital, weil es die entsprechenden Lesegeräte gibt", sagt Dr. Achim Bonte, der Stellvertretende Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) in Dresden. "Unsere Nutzer erwarten einfach, dass unsere Angebote zu ihren mobilen Geräten passen." Die Bibliothek erlebt diese Nachfrage aus erster Hand, denn sie versorgt auch die Universität Dresden. "Bei uns nehmen Jahr für Jahr junge Menschen das Studium auf, die jeweils auf dem neuesten Stand der Technik sind", sagt Bonte. Diesem rasanten Wandel könnten sich Bibliotheken nicht verschließen. "Die Zahl der digitalen Zugriffe bei uns steigt jährlich gewaltig", sagt Bonte.

© Foto: Leo Pompinon

Dr. Achim Bonte, Stellvertretender Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB)
© Foto: Leo Pompinon

Das Digitalisierungszentrum der SLUB zählt bundesweit zu den größten. "50.000 Drucke und Handschriften sind mittlerweile bei uns verfügbar, daneben über eine Million Fotos, Karten und Zeichnungen", sagt Bonte. Sie werden aus dem Bibliotheksetat und aus Drittmitteln finanziert. Vor allem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Projekte. Derzeit laufen 15 von ihnen in Dresden. "Damit ermöglichen Bibliotheken eine moderne Forschungs- und Bildungsarbeit", meint Bonte.

Dieser Einschätzung kann Dr. Klaus Ceynowa nur zustimmen. "Die zunehmende Digitalisierung unserer Bestände und die Entwicklung von Geräten, auf denen diese Inhalte genutzt werden, gehören zusammen", sagt der Stellvertretende Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB). "Bei unseren Besuchern ändert sich dadurch das Medienverhalten." In München hat man schon vor Jahren darauf reagiert. Die Bayerische Staatsbibliothek ist mit der Digitalisierung in Deutschland am weitesten vorangeschritten. Knapp 860.000 Werke stehen dort mittlerweile digital zur Verfügung. Anfang 2014 sollen es eine Million Werke sein.

"Obwohl wir bereits einen rasanten Wandel erfahren, dürfte das alles erst der Anfang sein", sagt Klaus Ceynowa. Mit der Weiterentwicklung von Smartphones, Tablets und mobilen Computern würden sich auch die Anwendungsmöglichkeiten für Digitalisate künftig vervielfältigen. Wohin die Reise gehen wird, ist bei der BSB bereits zu sehen. Sie bietet ihren Nutzern beispielsweise kostenlose Applikationen, so genannte Apps, an. Für die App mit dem Titel "Famous-Books" wurden 52 digitalisierte Spitzenstücke ihrer Bestände zusammengestellt: die Gutenberg-Bibel etwa, der Babylonische Talmud oder das Geheime Ehrenbuch der Fugger. "Seit dem Sommer 2010 haben wir im App-Store von Apple Downloadzahlen im sechsstelligen Bereich erzielt", sagt Klaus Ceynowa. Eine andere App mit dem Titel "Ludwig II." bietet eine Vielfalt multimedialer Informationen zum Märchenkönig. Neben Bildergalerien und Zeitzeugen-Zitaten nutzt sie unter anderem die so genannte Augmented Reality. Dabei kann ein Nutzer sein Smartphone als Kamera einsetzen. Richtet er sein Objektiv auf einen von 140 Orten mit Ludwig II.-Bezug, wird das Bild durch weitere Infos ergänzt.

"Wir sind mit diesen Angeboten sehr erfolgreich, und wir haben in der Kategorie 'Bücher' im iPad-App-Store Spitzenplätze erreicht", sagt Ceynowa. Jetzt sind weitere Apps geplant. "Wir werden Spitzen-Inhalte als E-Books aufbereiten", sagt der stellvertretende Generaldirektor. "Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir beispielsweise 100 Klassiker in Erstausgaben digital zusammenstellen." Auch eine weitere Location-Based-Service App "Historisches Bayern" soll bereits Anfang 2013 gestartet werden.

Dabei seien die Apps erst der Anfang für die vielfältige Nutzung der Digitalisate. "Die kontinuierliche technische Weiterentwicklung wird auch für uns neue Möglichkeiten der Nutzung schaffen", meint Ceynowa. So wie die Touchscreens zunehmend die Maus und Tastatur ersetzen, werden künftig 3-D-Techniken und Gesten basiertes Computing neue Chancen ermöglichen. "In unserer aktuellen Ausstellung 'Pracht auf Pergament', die wir gemeinsam mit der Hypo-Kunsthalle München präsentieren, kann man rein Gesten gesteuert und ohne 3D-Brille in einer dreidimensional digitalisierten Prachthandschrift blättern", sagt Ceynowa. "Das kommt der Aura des Originals schon ziemlich nahe." Der "3D-BSB-Explorer", bei dem die virtuelle Handschrift circa 20 Zentimeter vor dem Bildschirm zu schweben scheint und frei im Raum vom Betrachter durchblättert werden kann, wurde vom Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut zusammen mit der Bayerischen Staatsbibliothek entwickelt.


Kooperation mit dem Internet-Giganten

So unabwendbar und verlockend diese Entwicklung derzeit ist, so schwierig ist sie für viele Bibliotheken aber auch umzusetzen. Denn das Erstellen der Digitalisate ist aufwändig und teuer. "Die Bibliotheken müssen Finanzierungsmöglichkeiten finden, um die entsprechenden Geräte anzuschaffen, um das nötige Personal einzustellen, um die Infrastrukturen zu schaffen", sagt Dr. Frank Simon-Ritz, der Direktor der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar und Vorstandsmitglied des Deutschen Bibliotheksverbands e.V. (dbv). Die Digitalisierung der Bestände wird seit 1995 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Es gibt auch Programme auf Länderebene oder private Unterstützer. "Doch wir brauchen dringend eine solide Grundfinanzierung", meint Simon-Ritz. "Aus Sicht des dbv wären in den kommenden fünf Jahren weitere zehn Millionen Euro aus Bundesmitteln jährlich nötig, um die Bibliotheksbestände angemessen zu digitalisieren."

Lange Regalreihen behergen Bücher, Drucke, Handschriften, Fotosammlungen, Karten und Zeichnungen - © Foto: Leo Pompinon

Blick in das Archiv der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB)
© Foto: Leo Pompinon

Auch bei der Bayerischen Staatsbibliothek kommen finanzielle Mittel für die Digitalisierung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der EU sowie anderen Kooperationspartnern. "Die Bestände bis zum 16. Jahrhundert und die Sondersammlungen zum Beispiel werden überwiegend in unserem eigenen Scan- Zentrum auch durch DFG-finanzierte Projekte digitalisiert", sagt Klaus Kempf, der Leiter der Digitalisierungsabteilung der BSB. Als erste und bislang einzige Bibliothek in Deutschland nutzt sie für die Mammutaufgabe aber zudem eine Kooperation mit dem Internet-Unternehmen Google Books. In dieser Zusammenarbeit stellt die BSB die Inhalte zur Verfügung. Das Privatunternehmen Google Books übernimmt das Einscannen. "Die Digitalisate nutzen anschließend beide Seiten", sagt Kempf. "Alles aus dieser Kooperation stellen wir in die Deutsche Digitale Bibliothek ein." Hier ist die BSB der mit Abstand größte Lieferant digitaler Texte.

Die DDB wird aus Mitteln von Bund und Ländern finanziert. Für den Aufbau der Infrastruktur hat der Bund acht Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Für fünf Jahre ab 2011 haben Bund und Länder 2,6 Millionen Euro jährlich für den Betrieb zugesichert. Sie ist zugleich der deutsche Beitrag zur Europeana. In diese europäische digitale Bibliothek stellen Bibliotheken, Museen und Archive aus mittlerweile 35 europäischen Staaten ihre Schätze ein. Ziel der 2008 gegründeten Europeana ist es, das Wissen des Kontinents überall auf der Welt per Mausklick zugänglich zu machen. "Mittlerweile sind in ihr mehr als 20 Millionen digitale Objekte versammelt", sagt Kempf. "Mit seinem Beitrag von knapp 3,5 Millionen Objekten ist Deutschland derzeit Spitzenreiter bei diesem europäischen Projekt."

"Neben der Finanzierung sind die Urheberrechte ein weiteres Problem beim Thema Digitalisierung", sagt Frank Simon-Ritz aus Weimar. Bislang können fast nur Werke eingescannt werden, bei denen der Autor vor mehr als 70 Jahren verstorben ist. Denn diese sind urheberrechtsfrei. Schwierig ist die Klärung der Rechte, wenn ein Sterbedatum noch nicht so lange zurückliegt oder sich nicht ohne weiteres ermitteln lässt.

Anders ist das etwa bei den jüngeren so genannten vergriffenen und verwaisten Werken. An den vergriffenen Werken besteht in der Regel kein Verwertungsinteresse mehr. Deshalb sind sie im Buchhandel nicht mehr erhältlich. Bei den verwaisten Werken sind die Rechteinhaber unbekannt. "Hunderttausende von ihnen lagern derzeit in Bibliotheken und konnten bislang nicht digitalisiert werden", sagt Simon-Ritz. Um diese Werke nutzbar zu machen, sei im Einvernehmen mit den Verlagen dringend eine Urheberrechtsnovellierung nötig. Dann könne man die Digitalisierung der Bestände bis ins 20. Jahrhundert ausweiten. "Ein entsprechender Vorschlag der Deutschen Literaturkonferenz e.V. liegt vor", sagt Simon-Ritz. "Vertreter der Autoren, Verlage, Verwertungsgesellschaften und Bibliotheken haben ihn gemeinsam erarbeitet."

Immerhin zeichnet sich bei den verwaisten Werken auf europäischer Ebene mittlerweile eine Lösung ab. Nach einem Beschluss des Europaparlaments Mitte September sollen sie künftig für nicht-kommerzielle Zwecke im Internet verwendet werden dürfen. Die Richtlinie muss noch vom Ministerrat beschlossen werden. Dann kann sie in Kraft treten. Laut Literaturkonferenz könnte eine Regelung für vergriffene Werke auf nationaler Ebene ebenfalls schon jetzt geschaffen werden. Dazu müsse man nicht abwarten, welchen Ausgang das Richtlinienverfahren für die verwaisten Werke auf europäischer Ebene nehme. "Einen solchen Schritt würden wir ausdrücklich begrüßen", sagt Simon-Ritz.

Ambitioniert setzen sich die Bibliothekare auch beim Thema E-Books ein. Denn immer mehr Medien werden heute elektronisch publiziert. "Auch in diesem Bereich brauchen wir eine dauerhafte urheberrechtliche Regelung, die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Verlage und denen der Bibliotheken schafft", sagt Simon-Ritz. Trotz der großen Fortschritte stecke der digitale Wandel noch in den Kinderschuhen. Wenn Bibliotheken auch in Zukunft einen uneingeschränkten öffentlichen Zugang zum kulturellen Angebot schaffen sollten, müssten jetzt nachhaltige Grundlagen dafür geschaffen werden.

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Kasten:

Die Digitalisierung ist auch eine Maßnahme, um wertvolle, oft historische, Bestände zu erhalten. Sie ersetzt zwar nicht die Wiederherstellung eines Originals. Doch die digitalen Kopien machen den Bibliotheksnutzern die kostbaren Werke auf eine neue Weise zugänglich. Das ermöglicht einen offeneren Zugang als bisher und es dient dem Schutz der Originale, die dadurch seltener in ihrer Papierform genutzt werden müssen.
Ein besonderes Problem der Digitalisierung ist jedoch die elektronische Langzeitarchivierung. Denn mit dem rasanten technologischen Wandel werden die heutigen Speichermedien und Programme in wenigen Jahren technisch veraltet sein. So wie heute Floppy Disks aus den 90er Jahren nicht mehr verwendet werden, dürften aller Wahrscheinlichkeit nach auch heutige CDs, DVDs oder USB-Sticks in wenigen Jahren veraltet sein. Digitale Ressourcen haben eine geringe "Halbwertszeit", sie benötigen deshalb kontinuierliche Pflege. (dbv)

Informationen im Internet:
www.deutsche-digitale-bibliothek.de
www.europeana.eu


Die bundesweite Aktionswoche "Treffpunkt Bibliothek" wurde in diesem Jahr bereits zum fünften Mal vom Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) koordiniert. Vom 24. bis 31. Oktober 2012 präsentierten sich Bibliotheken in ganz Deutschland als Partner für Medien- und Informationskompetenz sowie für Bildung und Weiterbildung. Sie veranstalteten Lesungen, Ausstellungen, Workshops, Events, Bibliotheksnächte und viele weitere Aktionen, die im gemeinsamen Terminkalender zu finden sind: www.treffpunkt-bibliothek.de.

Der Deutsche Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Im Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) sind ca. 2.000 Bibliotheken aller Sparten und Größenklassen Deutschlands zusammengeschlossen. Der gemeinnützige Verein dient seit mehr als 60 Jahren der Förderung des Bibliothekswesens und der Kooperation aller Bibliotheken. Sein Anliegen ist es, die Wirkung der Bibliotheken in Kultur und Bildung sichtbar zu machen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken. Zu den Aufgaben des dbv gehört auch die Förderung des Buches und des Lesens als unentbehrliche Grundlage für Wissenschaft und Information, sowie die Förderung des Einsatzes zeitgemäßer Informationstechnologien.

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Quelle:
Deutscher Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Bundesgeschäftsstelle
Brigitta Wühr, Projektkoordination
Fritschestr. 27-28, 10585 Berlin
Telefon: 030/6449899-10, Fax: 030/6449899-29
E-Mail: dbv@bibliotheksverband.de
Internet: www.bibliotheksverband.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2012