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BIBLIOTHEK/477: Schmökern in Büchern aus dem 18. Jahrhundert (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 15 vom 4. Oktober 2011

Kein Problem: Schmökern in Büchern aus dem 18. Jahrhundert
Dresdner Digitalisierungszentrum an der SLUB arbeitet an deren Digitaler Sammlung

Von Tomas Petzold


Das Dresdner Digitalisierungszentrum an der SLUB hat allein 15.000 Titel aus dieser Zeit bearbeitet - täglich kommen etwa 10.000 Seiten hinzu. Rund 34.657 Bände an Druckschriften hat das Dresdner Digitalisierungszentrum (DDZ) 2011 unter dem Dach der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek bis Mitte September für deren Digitale Sammlungen aufbereitet. Etwa fünf Jahre hat das gedauert, wobei sich der Output in den drei zurückliegenden Jahren verzehnfacht hat: auf 2.332.757 Druckseiten bzw. Images im Jahr 2010. Damit liegt das DDZ nach den Worten des stellvertretenden SLUB-Generaldirektors Dr. Achim Bonte deutschlandweit an zweiter Stelle unter den Medienwerkstätten dieser Art - mit großem Abstand hinter der Universitätsbibliothek München, die allerdings bei ihrem Digitalisierungsprogramm mit dem Internetriesen Google kooperiere. Open access, die allgemeine Zugänglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, ist das Schlagwort, für das auch in München offensiv geworben wird. Die Kehrseite besteht in der Herausforderung, dabei wirklich alle Regionen und Ressourcen zu erschließen, um auch das dort vorhandene gleichberechtigt wahrnehmbar in das neu entstehende Universum des Wissens einzubringen. Folgerichtig arbeitet das DDZ heute nicht nur an den SLUB-eigenen Beständen, sondern zunehmend auch als Dienstleister für viele kleinere Einrichtungen im Freistaat, die sich den erforderlichen technischen und personellen Aufwand allein nicht leisten könnten.

Die Voraussetzungen für ein solches zentrales Angebot waren indes in Sachsen noch vor kurzer Zeit wenig günstig. Wenn man so will, war es ein historischer Glücksumstand, dass die technische Entwicklung so lange "gewartet" hat, bis in Dresden nach langen und heißen Diskussionen die Weichen für die Vereinigung von Landes- und Unibibliothek gestellt wurden. Die kam 1996, 2002 wurde der Neubau am Zelleschen Weg eröffnet, in den auch die Deutsche Fotothek einzog. 2003 wurde hier mit der Digitalisierung der Bestände begonnen, sodass derzeit etwa ein Drittel davon von jedermann in bildschirmüblichen Auflösungen betrachtet werden kann. Von besonders wertvollen Fotografien wurden auch digitale Faksimiles hergestellt, die gewissermaßen alle Informationen der Originale enthalten, sodass die wertvollen Filme und Glasplatten nun grundsätzlich nicht mehr angerührt werden müssen und ständig optimal gelagert werden können. Darüber hinaus ermöglichen die digitalen "Abdrücke" eine langfristige Archivierung auch über die Lebensdauer der Vorlagen hinaus.

Ein deutlich früherer Beginn der Aufarbeitung hätte allerdings einen nach heutigem Maßstab völlig unvertretbaren Aufwand bedeutet, weil insbesondere die damaligen Speichermedien kurz nach der Jahrtausendwende bei vielfach geringerer Kapazität einfach noch erheblich zu teuer waren.

Als 2006 mit der Digitalisierung der Drucke und Handschriften an der SLUB begonnen wurde, hatte sich die Lage bereits deutlich entspannt. Heute kostet ein Gigabyte Festplattenkapazität nur noch wenige Cent, und selbst eine digitale Profikamera erweist sich, was die Kosten je Aufnahme angeht, im Vergleich zur analogen Vergangenheit geradezu als Super-Schnäppchen. Auf 800.000 Aufnahmen habe es einmal eine der Kameras gebracht, bis der erste Verschlussklemmer eintrat, sagt DDZ-Leiter Henrik Ahlers. Aber nicht nur deshalb verrichten Kameras den Löwenanteil der Digitalisierungsarbeit. Wer schon einmal Seiten eines Buches mit dem Flachscanner kopiert hat, weiß, welche Strapazen man ihm damit auferlegt - für wertvolle Altbestände vollkommen undenkbar. Beim Arbeiten mit der Kamera macht sich dagegen unangenehm bemerkbar, dass sich Buchseiten beim Aufschlagen wölben und die Rücken beansprucht werden. Damit ist klar, dass man Kompromisse eingehen und nach technischen Lösungen suchen muss, um konservatorische Vorgaben bei möglichst hoher Geschwindigkeit der Verarbeitung zu erfüllen. Das DDZ verfügt deshalb, wie Ahlers erklärt, über einen ganzen Gerätepark, um den unterschiedlichen Anforderungen gerecht zu werden. Nicht nur nebenbei wird damit auch für Abwechslung in der Tätigkeit der derzeit etwa 20 Mitarbeiter gesorgt, die nach dem Einrichten der Vorlagen und der meist manuellen Bedienung der Geräte die Ergebnisse am Bildschirm kontrollieren müssen, ehe die Daten zur Einarbeitung in die Digitale Bibliothek bzw. zur Archivierung auf Magnetband weitergeleitet werden. Für Einzelblätter reicht der relativ handliche Auflichtscanner, aber auch ein Großformat-Reprogestell mit austauschbaren Vorlagenträgern steht zur Verfügung, mit dem man bis zum A-0-Format mit einem einzigen Image aufnehmen kann. Für besonders empfindliche Bücher gibt es Geräte, die mittels Unterdruck ein fast berührungloses Bearbeiten der empfindlichsten Seiten ermöglichen, was aber besonders mühselig ist. Andere kommen dank eines Spiegels schon mit 45 Grad Öffnungswinkel der Deckel zurecht, aber da sind zwei Durchläufe und ein anschließendes Sortieren der Seiten notwendig. Nur die robusteren Exemplare kommen in einen der beiden Roboter, in denen die jeweils gegenüberliegenden Seiten gleichzeitig fotografiert werden, was dank Shift-Objektiven auch bei einem Öffnungswinkel von nur 70 Grad verzerrungsfrei möglich ist. Dass auf das automatische Umblättern der Seiten oftmals verzichtet wird, hat weniger mit Misstrauen gegen die Technik zu tun als mit dem Umstand, dass bei bis zu 400 Seiten pro Stunde der immerhin schon auf vier Festplatten verteilte Abfluss der Bilddaten im TIFF- und RAW-Format derzeit noch einen Engpass darstellt und beobachtet werden muss. Wie man sich leicht vorstellen kann, eine Tätigkeit, die man nur wenige Stunden ununterbrochen ausführen kann, die aber dank regelmäßiger Ablösung eine Gesamtleistung von bis zu 350 Bänden im Monat ermöglicht.

Bis die hier erst einmal auf den Tisch kommen, ist allerdings schon eine beträchtliche logistische Vorarbeit nötig. Nicht nur, um Geräte und Mitarbeiter optimal auszulasten, sondern vor allem, um zur rechten Zeit die wichtigsten Aufgaben abzuarbeiten. Dass der Sachsenspiegel oder die Mayahandschrift als wohl berühmteste Exponate der Schatzkammer der SLUB mittlerweile zu jeder Zeit an jedem Ort zur Gänze und sogar in Vergrößerung betrachtet werden können, erscheint aus diesem Blickwinkel absolut selbstverständlich. Ebenso plausibel ist es jedoch, dass auch bei dem vorgesehenen weiteren Ausbau des DDZ die Digitalisierung des Gesamtbestandes der SLUB von fast 5 Millionen Bänden auf Grund des unvermeidbar hohen Anteils manueller Arbeit eine Aufgabe von Generationen bliebe.

Nicht nur im Hinblick auf die technische Entwicklung erklärt Dr. Bonte, dass es selbstverständlich Ziel sei, "die Dinge immer nur einmal zu machen", also auch nichts, was woanders vorliegt oder in Angriff genommen werden soll. Zu einer solchen Arbeitsteilung gibt es keine Alternative, und daraus folgt einerseits ein beträchtlicher Aufwand an Consulting auf nationaler wie internationaler Ebene, andererseits die Konzentration auf ureigene Schwerpunkte, also beispielsweise speziell die Saxonica, letztlich mit dem Ziel, sie auch in die einschlägigen internationalen Datenbanken einzubringen. (Sogar wenn die schnellste Recherche über Google führt und sich so die Struktur der Archive für den Benutzer womöglich leichter erschließt). "Etwa eine Viertelmillion Bände könnte bei uns bearbeitet werden", schätzt Dr. Bonte in Anbetracht aller Nebenbedingungen. Dazu gehört, dass der Freistaat allein nicht zur Gesamtfinanzierung in der Lage ist und folglich ständig Drittmittel, in erster Linie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, akquiriert werden müssen, die an einzelne Projekte und generell an das open-access-Prinzip gebunden sind. Will heißen, den freien Zugriff zu ermöglichen, also das Ansehen, Herunterladen und private Benutzen, jedoch keine kommerzielle Verwertung. Man sei natürlich nicht interessiert, dass eines Tages über ebay Nachdrucke wertvoller Erstausgaben angeboten werden wie etwa Schillers "Fiesko", der ebenfalls zu den Paradestücken der SLUB gehört und den Bonte zur Demonstration auf einen der Bildschirme im Lesesaal holt. Der Schiller ist insofern typisch, als dass Drucke des 18. Jahrhunderts den weitaus größten Anteil am bisher digitalisierten Material ausmachen. Der Anblick des Schriftbilds erinnert aber auch daran, dass es sich hier nur um die erste Stufe der Digitalisierung handelt, also erst einmal nur ein Bild in einer Auflösung von 300 dpi, aber damit noch kein digitaler Text vorliegt.

Insbesondere das Auslesen der in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert weit verbreiteten Frakturschriften sei dabei noch immer ein Problem, gesteht Dr. Bonte. Das habe unter anderem damit zu tun, dass man im englischen Sprachraum nicht zur Entwicklung entsprechender Software motiviert ist. Die derzeit verfügbare erreiche Treffergenauigkeiten von bis zu 96 Prozent, was immer noch viel Nacharbeit erfordert, aber eines Tages auch eine Massenbearbeitung mit vertretbarem Aufwand ermöglichen sollte. Während das bis Ende des 19. Jahrhunderts erschienene und heute im allgemeinen gemeinfreie Schrifttum vor allem von historischem Interesse ist, liege im Erscheinungszeitraum von 1900 bis 1990 der höchste Wert für die Forschung, zumal zu viele dieser Quellen noch nicht voll erschlossen bzw. Bestandteil des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses sind. Allerdings ist die Rechte-Lage oft kompliziert, so dass man sich mit den Verwertungsgesellschaften für Wort und Bildkunst auf Regelungen geeinigt hat, um die Leistungsschutzrechte vorsorglich zu gewährleisten, eine Art Versicherung für den Fall, dass bislang unbekannte Urheber Forderungen anmelden.

Während hier noch ein riesiges Feld an Arbeit liegt, werden bereits die nächsten für die Digitalisierung erschlossen: Filme, Audioaufnahmen und originale VHS-Videos. Im DDZ wird zur Zeit ein Kopierer für Mikrofilme getestet, um auch die Zugriffe auf diese Archive auf den Stand der Technik zu bringen. Die Digitale Mediathek enthält bereits Ernst Hirschs Videodokumentation, mit der er den Wiederaufbau der Frauenkirche begleitete, eine "Filmografie Dresden" mit 3700 Datensätzen sowie die Singstimmen-Sammlung des Radebeul-Dresdner Malers Paul Wilhelm, die historische Aufnahmen von Sängerinnen und Sängern, Schauspielern und Kabarettisten auf Schelllackplatten vereint. Das sind zwar erst Anfänge, aber mit derartigen Bemühungen sei man sogar führend, erklärt Dr. Bonte mit einiger Genugtuung. Schließlich will man alles andere, als sich im Wettbewerb um die Erschließung von Wissen selbst überflüssig zu machen.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 22. Jg., Nr. 15 vom 04.10.2011, S. 7
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2011