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FRANZÖSISCH/170: Gelesen (5) André Gide - L'école des femmes (SB)


Lesen! Lesen! Lesen!


André Gide: L'école des femmes

suivi de
Robert
et de
Geneviève


L'école des femmes ist ein Prosastück des französischen Literaturnobelpreisträgers (1947) André Gide, das trotz seines tagebuchartigen Charakters im allgemeinen als Erzählung gehandelt wird. Es wurde 1929 erstmals in der Éditions Gallimard, Paris, veröffentlicht; der 1869 geborene Autor war zu dem Zeitpunkt bereits 60 Jahre alt. 1930 beziehungsweise 1936 erschienen in der gleichen Edition zusätzlich zum Ursprungstext die Erwiderung "Robert" sowie das Bekenntnis "Geneviève", die seitdem das Werk zu einer Trilogie ergänzen.

In seiner Eigenschaft als Schriftsteller und als Mitbegründer eines Verlagshauses erhält André Gide in diesem Buch den - fiktiven - Brief einer Geneviève D., die ihm das Tagebuch ihrer Mutter anbietet. Für den Fall der Veröffentlichung bittet sie ihn ohne weitere Erklärung, dem Buch, angelehnt an Molière, den Titel "Die Schule der Frauen" zu geben. In Molières Komödie wird ein Hagestolz, der sich die Treue seiner Zukünftigen zu sichern sucht, indem er sie bereits im Alter von vier Jahren erwählt, in einem Kloster aufziehen läßt und dann in einem Haus unter Aufsicht einer dümmlichen Dienerschaft vom gesellschaftlichen Leben separiert hält, nach allen Regeln komödiantischer Kunst vorgeführt. Daß Molière hier weniger einen skurrilen Einzelfall männlicher Verirrung sezierte als eine gesellschaftliche Verfassung der Lächerlichkeit preisgab, blieb nicht verborgen, und das Stück erntete bei der Erstaufführung einen Skandal. Wüßte man dieses nicht, könnte angesichts des von Gide gewählten Titels, der eine Art "Der Widerspenstigen Zähmung" erwarten ließe, so manche Befürchtung hinsichtlich des Inhaltes und des vertretenen Standpunktes aufkommen. Gide nimmt jedoch, ähnlich wie Molière, die Borniertheit eines Mannes aufs Korn, der sich ein Weibchen im besten Sinne zulegt - naiv und anschmiegsam - und schließlich auf dem Boden der Tatsachen hätte landen sollen. Allein die Erkenntnis läßt bei ihm nicht einmal auf sich warten. Ziemlich schnell bei den Tatsachen landet allerdings, sich dieses Faktums schmerzlich bewußt, Éveline, die nur der Kinder wegen bei ihrem Mann ausharrt.

Gides Buch und Auseinandersetzung, die man heute in ihrer Bedeutung unterschätzen mag, spiegelt auf recht persönliche Weise den Kampf von Frauen aus seiner Klasse um Gleichberechtigung in der französischen Gesellschaft in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg wider. Gide stellt sich auf die Seite der Frauen und scheint insbesondere im Falle der Tochter in seinem Werk durchaus die eigene Konfliktlage zwischen streng protestantischem Elternhaus mit aller damit verbundenen Moral und seiner (späteren) homosexuellen Orientierung mit zu reflektieren. "L'école des femmes" gilt gemeinhin als Emanzipationsgeschichte, denn hier werden Probleme offengelegt, die zu jener Zeit üblicherweise unter dem Mantel der bürgerlichen Konvention versteckt bleiben sollten. Allerdings werden weder die Entwicklung der Paarbeziehung, noch die Offenheit der Schilderung den heutigen Leser überraschen können. Was seinerzeit als ein, wenn auch durchaus unerhörtes, Plädoyer für die Befreiung der Frau gewertet worden sein mag, scheint uns in unseren Breiten heute selbstverständlich zu sein. Darüber hinaus bemerkt ging und geht diese Auseinandersetzung keinesfalls so weit, daß damit etwas anderes erreicht worden wäre, als eine weitere Variante angepaßter Beteiligung. Darum wird diese Frage an dieser Stelle, abgesehen von diesen kurzen Anmerkungen, auch nicht zum Thema gemacht. Was dieses Buch für den Französisch- und Frankreichinteressierten dennoch höchst lesens- und studierenswert macht, soll im folgenden angerissen werden.

In drei voneinander unabhängigen Teilen entsteht im vorliegenden Werk das Bild einer Beziehung beziehungsweise einer bürgerlichen Ehe und wohlsituierten Familie, die jeweils aus der Sicht der drei Beteiligten - Éveline, Robert und Tochter Geneviève - erzählt wird. Und Gide scheint die Geschehnisse mit zu durchleben, präsentiert er sie doch in einer Form, die an Lebendigkeit, Einfühlungsvermögen und Plausibilität nichts zu wünschen übrig läßt. Wie hier wohl nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal deutlich gemacht wird, unterscheiden sich die Sichtweisen, Interpretationen und Lebenshaltungen unvereinbar voneinander; ein und dasselbe Geschehen erscheint durch die Augen der einzelnen Beteiligten jeweils in einem anderen Licht. Allerdings schaltet sich der Autor, der alle Fäden in der Hand hält und seine Aussage schon längst getroffen und seine Sympathien längst vergeben hat, dazwischen, bevor man jeden der drei wirklich aus dem persönlichem Blickwinkel oder über seine Selbstreflexionen erlebt. Dieses Buch ist weder objektiv, noch erhebt es einen solchen Anspruch.

Im ersten Teil, in "L'école des femmes", lernen wir die junge Éveline, die Robert, einen schon gestandenen Anwalt kennen- und lieben gelernt hat, durch ihre Tagebuchaufzeichnungen kennen. Durch diesen Kunstgriff der Tagebuchaufzeichnung gelingt es Gide, die Schilderungen ausgesprochen authentisch erscheinen zu lassen: Die junge Frau rückt ganz nah an den Leser heran, und ihr gehört auch im weiteren Verlauf seine Sympathie. Die Beziehung der beiden Hauptpersonen hat sich noch nicht entwickelt, der Leser kann Éveline in ihren Bemühungen und ihrem Werdegang, den sie aus eigener Sicht schildert, begleiten und mitvollziehen.

Depuis que je te connais, c'est-à-dire depuis que je t'aime, la vie me paraît si belle, si utile, si précieuse que je n'en veux rien laisser perdre; je sauverai dans ce cahier toutes les miettes de mon bonheur. Et que ferais-je chaque jour, après que tu m'as quittée, sinon revivre des instants écoulés trop vite, évoquer sa présence? Avant de t'avoir rencontré je souffrais, je te l'ai dit, de sentir ma vie sans emploi. Rien ne me semblait plus vain que ces occupations mondaines où m'entrainaient mes parents et où je vois mes amies prendre tout leur plaisir. Une vie sans dévouement, sans but, ne pouvait me satisfaire, Tu sais que j'ai sérieusement songé à me faire garde-malade ou petite-soeur des pauvres. (S. 12) 

Hier spricht eine junge, unerfahrene Frau aus bürgerlichem Hause, die sich unbeobachtet wähnt, unprätentiös, schwärmerisch, naiv, voller Hoffnung und Vertrauen und in ihrer kleinen Welt verfangen. Gide spart hier nicht und läßt den Gefühlen seiner Protagonistin freien Lauf, um sie in der weiteren Entwicklung umso sicherer auf dem Boden seiner Tatsachen landen zu lassen. Er erzählt die sattsam bekannte Entwicklung einer Beziehung, die nach liebevoller Zuwendung im Kampf der Geschlechter endet. Gide beläßt diese Auseinandersetzung im persönlichen Bereich und offenbart sich als genuiner Vertreter der bürgerlichen Klasse, indem er auf Fragen abstellt wie persönliche Integrität, zwischenmenschliche Psychologie, gesellschaftlicher Stand und die damit verbundenen Zwänge, Gefühle und Kalkulationen.

Mais après qu'il s'est étonné de me voir seule et enquis très poliment de la santé de papa, nous n'avons causé que de peinture. J'étais presque heureuse de mon ignorance car c'était une occasion pour lui de tout m'expliquer. Il avait avec lui un gros livre, mais n'a pas eu besoin de l'ouvrir car il sait par coeur le nom de tous ces vieux peintres. (S. 23) 

Über die Zeit schildert Éveline die Entwicklung eines Paares, das sich im Verlaufe seiner Beziehung nicht annähert, sondern nichts als voneinander entfernt, so schonungslos offen und deutlich, wie es eigentlich nur in den Augen ihres Autors stattfinden kann. Die Sicht Gides wird auch im Standpunkt des Vaters deutlich, der Robert von Beginn an durchschaut zu haben meint. Évelines Erklärung ist eine übliche: ihr Scheitern an dem anderen führt sie darauf zurück, daß sie sich zu Beginn in ihm getäuscht hat, recht bald seinen wahren Charakter erkannt und ihn dann in den langen Jahren des Zusammenlebens ertragen hat. Denn ihr Vater, der sich zunächst so vehement gegen die Verbindung gestellt hatte, wendet sich in dem Moment, als sie sich trennen will, im Namen der Konvention gegen die Tochter und legt ihr nahe, sich in die Gegebenheiten zu fügen, damit sie ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft behalten kann.

Alors il a repris disant qu'il ne fallait pas chercher à s'en échapper mais "à établir un modus vivendi et à "chercher un tempérament". Il use volontiers des mots qui lui imposent un peu, comme pour se prouver à lui-même qu'ils ne lui font pas peur. Puis, sans doute dans l'espoir de me consoler, il s'est mis à me parler de ma mère et à me raconter comment lui non plus n'avait pas trouvé dans le mariage tout ce qu'il en avait attendu. (S. 86-87) 

Erst viel später, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, gelingt es ihr, den Mann, den sie inzwischen von Herzen verachtet, zu verlassen. Gegen die gesellschaftlichen Vorgaben, die das Einverständnis des Ehemannes zu jener Zeit noch zur Voraussetzung machten, wendet sie sich der Pflege Kranker und Verwundeter zu und stirbt drei Monate später. Dieser Tod stellt eine Wendung dar, die in der zeitgenössischen Darstellung von Frauen, die sich von den Konventionen zu lösen wagen - quasi als Zugeständnis an die gesellschaftliche Norm -, wohl nicht unüblich war und einen (vielleicht so nicht beabsichtigten) Tribut Gides an dieselben darstellen könnte.

Zwar gibt es zahlreiche Werke mit eindrucksvollen, durchaus "starken" Frauenfiguren; aufschlußreich ist jedoch, daß diesen Frauen auffallend häufig ein Ende im Tod oder Wahnsinn beschieden ist, und zwar besonders solchen Gestalten, die eine Absage an herkömmliche Frauengestalten symbolisieren. [1]

Ihr Mann, der sich dem Kriegsgeschehen zu entziehen wußte, überlebt hingegen. Bei Gide verfaßt er eine arrogant-paternalistische Replik, die man als Leser schon aufgrund seiner Sprachwahl sogleich durchschaut. Hier kommentiert er die "Dreistigkeit" seiner Tochter, mit der sie das Tagebuch seiner verschiedenen Frau - ohne seine Zustimmung - zur Veröffentlichung weitergegeben habe:

Dans l'audace éhontée dont ma fille fit preuve, je vois le triste résultat de l'éducation « libérale » qu'il plaisait à ma femme de donner à nos deux enfants. Mon grand tort fut de lui céder, selon mon habitude, par crainte du despotisme et par horreur des discussions. Celle que nous eûmes à ce sujet furent des plus graves, et je m'étonne de n'en trouver point de traces dans son journal. (S. 107) 

Dies, wie die weiteren Ausführungen Roberts, genauer gesagt, der Standpunkt, den er bezieht, dient - auch wenn Gide ihn als besonders hypokritisches Exemplar darstellt, als Hintergrund für eine Positionierung des Autors im Streit mit Konvention und Religion.

Mais le cerveau d'Éveline est ainsi fait qu'elle sut tirer argument de cette vérité même pour persévérer dans l'erreur. Elle avait écouté X... avec l'attention la plus vive et je pouvais lire‹sur son visage la profonde impression qu'elle en ressentait. Mais le lendemain même, elle me dit:
- Si ma raison m'est donnée par Dieu, elle n'a que faire d'écouter d'autres lois que celles que Dieu lui impose.
Un rationaliste n'eût pas raisonné autrement.
- Et dans ce cas, il n'est même plus besoin de parler de Dieu, - lui dis-je.
- Peut-être bien peut-on s'en passer, - répondit-elle; et, en effet, à partir de ce jour elle affecta de ne plus se servir de ce mot, qui, pour elle, semblait avoir perdu tout sens.

Pauvre Éveline! Je cessai pourtant pas de l'aimer. (S. 135) 


Auch den dritten Teil dieses Werks, den Gide mit "Geneviève ou la confidence inachevée" überschreibt, kann man als Spiegel seiner Auseinandersetzung mit dem für seine Klasse gesellschaftlich Üblichen, Gewünschten und Erlaubten sehen. Sei es die Frage der Ehe oder nicht Ehe, der unehelichen Mutterschaft oder des Verkehrs des guten Bürgertums mit jüdischen Mitbürgern, denen zudem der Ruch des allzu freizügigen Künstlerlotterlebens in nichtehelicher Gemeinschaft mit dann auch noch als Nacktmodell posierender Tochter anhaftet. Geneviève scheint - auch in ihren Zweifeln und ihrer kritischen Selbstreflexion - dem Autor am nächsten zu sein.

Wenn auch alle drei Teile des Werks im literarisch gehobenen Stil, also u.a. unter Verwendung des zu Gides Zeiten zwingenden passé simple, abgefaßt sind, unterscheiden sie sich doch erheblich und portraitieren den jeweiligen Erzähler mit. Éveline schüttet in ihrem Tagebuch ihr Herz aus, als erzählte sie alles ihrer besten Freundin. So gewinnt sie mit keinem Wort, mit keiner Wendung Distanz vom Leser. Immer ist sie zugewandt und erzählt in offenen, klar verständlichen Sätzen.

Je remercie Dieu plus encore de m'avoir épargné ces déboires, et Robert de m'avoir choisie. Mais de songer que tant de femmes, qui n'ont pas mon bonheur, se voient refuser le droit de prendre part à la vie, que leur raison d'être sur terre et de mettre en valeur les vertus et les dons qu'elles ont en elles, que tout cela soit subordonné au plus ou moins bon vouloir d'un Monsieur, cela m'indigne. Et je prends ici l'engagement, si j'ai une fille, de ne lui apprendre aucun de ces petits arts d'agrément dont parlait avec tant d'ironique mépris le docteur Marchant, mais de lui faire donner une instruction sérieuse qui lui permette de se passer des acquiescements arbitraires, des complaisances et des faveurs. (S. 47) 

Roberts Brief an den Herausgeber ist naturgemäß förmlicher als ein Tagebucheintrag, zumal er den Adressaten ganz sicher nicht schätzt, nachdem dieser die ihn entblößenden Bekenntnisse seiner verstorbenen Frau veröffentlicht hat. Seine Überheblichkeit vermag er kaum zu verbergen, auch wenn seine Auffassung dem damals Üblichen entspricht:

Ce n'est point un journal que j'écris. Les événements que je groupe ici s'échelonnent sur un grand nombre d'années. Je ne puis dire exactement à quand remontent les premières manifestations de cet esprit d'insoumission que je commençai des remarquer chez Éveline et que, malgré tout mon amour pour elle, force m'était de blâmer. L'insoumission est toujours blâmable, mais je la tiens pour particulièrement blâmable chez la femme. (S. 117) 

Geneviève nun wiederum, die dank der relativ freisinnigen Erziehung ihrer Mutter etwas weiter zu denken vermag, als bis zum eigenen Herd und Kochtopf, und dann - im Gymnasium auch noch - in "schlechte" Gesellschaft gerät, erlaubt sich in ihrem Bekenntnis dem Herausgeber und dem Leser gegenüber eine Freizügigkeit, die heute noch als solche gelten mag, wenn sie auch eine ziemlich übliche geworden ist. Unmißverständlich legt sie dar, wie sehr sie sich von ihrer Mitschülerin Sara, der schönen und sinnenfreudigen Tochter des berühmten Malers Keller angezogen fühlt.

Dès les premiers jours, je m'épris pour elle d'un sentiment confus que je n'avait jamais encore éprouvé pour personne et qui me paraissait si neuf, si étrange, que je doutais si c'était bien moi, Geneviève, qui l'éprouvais, et si ne m'envahissait pas une personnalité étrangère qui me dépossédait de ma volonté et de mon corps. (S. 161) 


Mit den drei - eigentlich vier, zählt man den wichtigen Freund der Familie, Doktor Marchand hinzu - Protagonisten dieses Werks meint man als Leser eigentlich den Autor selbst kennenzulernen. Und so bildet das Buch eine Facette des gesellschaftlichen Milieus vor und nach dem Ersten Weltkrieg ab, in dem sich André Gide bewegt hat, und verrät zudem - wenn man beim Lesen zuzuhören versteht - einiges mehr über den Autor als man beim ersten Hinsehen erwartet. Darüber hinaus bietet es sprachlich eine Vielfalt, die man bei manchem zeitgenössischen Autoren vergeblich suchen mag. Nicht allein wechselt André Gide von der wörtlichen Rede über das intime Bekenntnis in einfachen Worten zu philosophischen Betrachtungen, Fragen und Positionierungen, die ihn auch noch zum Zeitpunkt der Niederschrift persönlich umgetrieben haben mögen und vom Leser mehr verlangen, als das Interesse an einer Ehemisere mit dem dazugehörigen Vokabular. Die Herausforderung dieses Buches ist - wenn man denn überhaupt diese Unterscheidung treffen will - eine an die (fremd)sprachliche und an die Denkleistung. Gides Ausführungen haben darüber hinaus auch noch einen hohen interpretatorischen Gehalt, der der heutigen Sprachentwicklung in Richtung einer immer reduzierteren bzw. inhaltlich verarmten Verständigung etwas entgegenzusetzen vermag - Raum für Debatte und Nachdenklichkeit.

Je ne suis pas très sensible à la poésie, je l'avoue, et sans doute serais-je restée indifférente devant ces vers, si je les avais lus moi-même. Ainsi récités par Sara, ils pénétrèrent jusqu'à mon coeur. Les mots perdaient leur sens précis, que je ne cherchais qu'à peine à comprendre; chacun d'eux se faisait musique, subtilement évocateur d'un paradis dormant; et j'eus la soudaine révélation d'un autre monde dont le monde extérieur ne serait que le pale et morne reflet.
- Sara, - lui disais-je plus tard - ce n'est pas dans ce monde poétique, si beau qu'il soit, que nous habitons et pouvons agir. Pourquoi nous en donner la nostalgie?
- Mais il ne tient qu'à nous d'y vivre, me répondait-elle.
J'appris ce même soir, que Sara se destinait au théatre. Je raconterai comment je la vis, par la suite, lentement se laisser habiter, posséder, par des personnalités d'emprunt, jusqu'à perdre tout caractère individuel. Je pense aujourd'hui qu'il n'est pas bon (J'allais dire: honnête) de déshabiter ainsi les misères de notre terre, comme certains mystiques font dans un rêve de vie future, et cet échappement au réel m'apparaît une sorte de désertion. (S. 177-178) 

Ein Beispiel zur Frage des Verhältnisses von Poesie und Wirklichkeit, dem man sicher noch einiges hinzufügen könnte...

Von Interesse sei hier kurz zum einen die Positionierung Gides zur Verantwortung gegenüber der Realität, zum anderen die sprachliche Seite. Wer in dieser Hinsicht wenig Probleme hat, stolpert möglicherweise noch über den Begriff déshabiter, der nicht in jedem Wörterbuch zu finden, inzwischen eher veraltet und ohnehin wenig gebräuchlich ist. Dazu findet sich u.a. folgender Eintrag (gekürzt) aus dem Wörterbuch der Académie Française, der zudem Gide auch gleich heranzieht:

DÉSHABITER, verbe trans. Rare A. Cesser d'habiter. [...] B. Au fig. Abstraire son esprit (de): Je pense aujourd'hui qu'il n'est pas bon (j'allais dire: honnête) de déshabiter ainsi les misères de notre terre, comme certains mystiques font dans un rêve de vie future, et cet échappement au réel m'apparaît une sorte de désertion. GIDE, Geneviève, 1936, p. 1365. [...] Prononc. et Orth.: [dezabite], (je) déshabite [dezabit]. N'est plus en usage d'apr. Ac. 1718-1878 qui le traite, s.v. déshabité (adj.). Étymol. et Hist. Ca 1165 adj. (B. DE STE-MAURE, Troie, 12380 ds T.-L.); 1395 deshabiter (un lieu) « rendre inhabitable » (Voyage de Jérusalem du S. d'Anglure, 24, ibid.). Dér. de habité, habiter*; préf. dé(s)-*. Fréq. abs. littér.: 1. Bbg. ARVEILLER (R.). R. Ling. rom. 1971, t. 35, p. 219. [2]


Über den Autor:

Aufgrund seines familiären Hintergrundes war André Gide nie gezwungen, für den täglichen Broterwerb zu arbeiten und zu schreiben. Daß sich Not für ihn persönlich als eine Not des Gewissens und der Moral und kaum als Not im materiellen Sinne definiert, ist seinem Werk abzulesen. Man könnte sogar mutmaßen, daß der Literat vor allem zur Bewältigung seiner eigenen Lebensfragen zur Schreibfeder gegriffen hat. Nach anfänglichen symbolistischen Tendenzen wandte er sich in seinem Werk der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie sie sich ihm darstellten, zu - was im wesentlichen hieß, daß er sich darin auf vielfältige Weise, wie auch im hier kurz angerissenen Buch, mit der Frage der individuellen Freiheit und des Strebens nach Glück im Konflikt mit den gesellschaftlichen Konventionen und Anforderungen auf der einen Seite und der persönlichen, gesellschaftlichen Verantwortung auf der anderen Seite befaßt hat.

Neben seinem umfassenden literarischen und auch kommunalpolitischen Engagement bereiste er in den Jahren 1925 bis 1926 als Sonderbeauftragter des französischen Kolonialministeriums die Kolonien Kongo (Brazzaville) und Tschad. Seine kritischen Berichte "Voyage au Congo" und "Le Retour du Tchad", die er in der Folge veröffentlichte, sowie zahlreiche Vorträge und Artikel hatten maßgeblichen Anteil an einer Reform des Kolonialrechts, brachten ihm aber auch eine Menge Ärger. In den Zwanziger und Dreißiger Jahren trat er - wenn auch vorübergehend - mit kommunistischen Positionen an die Öffentlichkeit und wurde in wachsendem Maße in Zusammenhang mit der PCF und mit antifaschistischen Organisationen aktiv,

Im Gegensatz zu anderen französischen Schriftstellern (auf bürgerlicher Seite z.B. Romain Rolland und auf sozialistischer Louis Aragon) setzte sich Gide auch als Kommunist für verfolgte Oppositionelle ein. Sein Ansehen als weltberühmter Schriftsteller machte seine Bemühungen von Zeit zu Zeit sogar erfolgreich, so auch im Falle Serge. [3]

fand sich jedoch am Ende im Umfeld von de Gaulle ein. 1947 erhielt er den Literaturnobelpreis.


18. Februar 2010


Quellen:
- André Gide: L'école des femmes suivi de Robert et de Geneviève Éditions Gallimard, Paris, 1929, 1930 et 1936, in der Ausgabe von 1985
- "Französische Literaturgeschichte", hrsg. von Jürgen Grimm, Verlag J. B. Metzler


Anmerkungen:

[1] Darstellung von Themen und Tendenzen der französischen Literatur
der 30er Jahre in der Abhandlung "Literatur und Gesellschaft im Wandel
der III. Republik", von Jürgen Grimm und Margarete Zimmermann,
veröffentlicht in "Französische Literaturgeschichte", hrsg. von
Jürgen Grimm, Verlag J. B. Metzler, 1989, S. 309.

[2]
http://atilf.atilf.fr/dendien/scripts/tlfiv5/search.exe?23;s=3910580550;cat=0;m=d%82shabiter;
- letzter Zugriff: 17.0.2010


[3] Victor Serge: Brief an André Gide (Mai 1936). Aus Victor Serge,
Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag
Association, Hamburg 1975, S.128-31.

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/serge/1936/05/brief-gide.htm
- letzter Zugriff: 02.01.2010