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FRANZÖSISCH/093: Skizzen... Sprachgefühl - Gewöhnung an Vorgaben (SB)


Skizzen


Was ist eigentlich Sprachgefühl?

Nichts weiter als eine Gewöhnung an Vorgaben



Sprachgefühl ist ein Phänomen, das man bei sich eher im nebenherein registriert und bei anderen, wenn es einem selbst fehlt, bewundernd als Begnadung erlebt. Im Fortgeschrittenenstadium eines Sprachstudiums ist es unerläßlich, aber in der Regel unreflektiert, eine Reaktion auf die Sprachumgebung. Dabei ist es ist recht einfach zu erklären und zu entmystifizieren, fern einer Begabung, die einem zufällt oder nicht. Zunächst ganz oberflächlich erklärt ist es ein Gefühl dafür, was in einer Fremdsprache oder auch in der eigenen richtig ist und was nicht. Es ist das Gefühl für das, was paßt, das Gefühl für das, was üblich ist. Sprachgefühl bedeutet, sich sicher in einem Sprachgefüge zu bewegen, man erschließt Bedeutungen, Regeln, Redewendungen und braucht sie kaum nachzuschlagen. Es geht jedoch jeweils nur soweit wie man sich mit einer Sprache beschäftigt hat. Man hat möglicherweise ein Gefühl für das konventionelle Französisch, aber keines für die Umgangssprache oder für den Ton französischer Jugendlicher.

So entspricht Sprachgefühl einem bestimmten Stand im Erlernen einer Sprache als feststehender Struktur bzw. auch als Gebilde, das gemäß mehr oder weniger fester Regeln auch Wandlungen unterworfen ist. Als Anfänger überträgt man zumeist das Gefühl für die eigene Sprache auf die fremde. Daraus rühren u.U. recht hartnäckige Fehler. Oder, wenn man Englisch und Französisch lernt, fängt man an, auch diese zu verwechseln. Irreführend können Gleichklänge in der fremden Sprache sein, ähnliche Redewendungen, die nicht das gleiche bedeuten wie in der eigenen Sprache, auf die man sich meist bezieht. Ein sehr oft bemühtes plakatives Beispiel ist das sogenannte Lübke-Englisch, die direkte Übertragung von Begriffen und Redewendungen aus dem Deutschen in die andere Sprache. Besonders gravierend können Fehler in der Umgangssprache sein. Selbst ein am klassischen Französisch entwickeltes Sprachgefühl versagt hier. Was in so gebildeten Ohren recht negativ klingt, muß es zum Beispiel gar nicht sein und umgekehrt. Ideal zum Lernen einer Fremdsprache und zum Erwerb des entsprechenden Sprachgefühls ist nach wie vor, keinen Bezug mehr zur eigenen Sprache herzustellen. Damit sollte man so früh wie möglich beginnen und Rückübersetzungen möglichst vermeiden.

Es werden immer das Gefühl und die Sicherheit für die Sprache überwiegen, mit der man an es meisten zu tun hatte bzw. der man Priorität einräumt. In der Regel ist das die Sprache, die man am meisten hört, spricht, liest oder jene, mit der man ursprünglich aufgewachsen ist, die Sprache, an die man gewöhnt ist. Das Erlernen einer Sprache besteht aus aktiver und passiver Aufnahme von Begriffen und Verknüpfungsregeln, der Sprachgebrauch aus einer Anpassung an vorherrschende Vorgaben. Was sich am auffallendsten oder hartnäckigsten präsentiert, prägt sich, ein wenig modifiziert durch Vorlieben und weitere Bedingungen auf seiten des Lernenden, am besten ein. Letztlich ist Sprachgefühl, je treffender es ist, die Möglichkeit aus einer größtmöglichen Fülle von Informationen zu wählen, die man sich angeeignet hat und die man in der Lage ist, zu verwerten und zu neuen Informationen zu verknüpfen. Wer sich am besten in das vorgegebene Sprachgebilde einzufügen vermag, hat im üblichen Sinne das beste Sprachgefühl.

Will man also in einer Fremdsprache Sprachgefühl entwickeln, setzt man sich ihr am besten soviel wie möglich auf unterschiedlichste Weise aus. So bekommt man beim intensiven Studium einer Sprache oder dem dafür förderlichen Aufenthalt im entsprechenden Land auch Kultur und Denkweise von Engländern, Franzosen, Chinesen, ... vermittelt, die einen wichtigen Hintergrund bilden. Begleitend empfiehlt sich für die Entwicklung eines tieferen Sprachgefühls auch die Beschäftigung mit klassischer Literatur, Philosophie, Religion usw., eigentlich allen weiteren Belangen des jeweiligen Landes. In begrenztem Maße bietet das ja schon der Fremdsprachenunterricht.

Auch die neueren sprachlichen Entwicklungen, besonders in der Umgangssprache, sollte man nicht vernachlässigen. Neben allgemeinen, überall zu beobachtenden Tendenzen zur Verflachung und Vereinfachung von Ausdruck und Inhalt interessieren die landesspezifischen Begriffe, Redewendungen und Idiome neuerer Art sowie Bemühungen um den Erhalt tradierter Formen. Natürlich bleibt letztlich die Frage, ob es möglich ist, für eine fremde Sprache ein genauso starkes Gefühl zu entwickeln wie für die eigene. Man müßte schon im entsprechenden Kulturkreis leben und völlig in ihm aufgehen, sich also so einfügen, wie man es in Deutschland zeitlebens getan hat.


Erstveröffentlichung am 24. März 1999


2. November 2007