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FRANZÖSISCH/034: Standard, Umgangssprache und ihre Schattierungen (SB)


Standard, Umgangssprache und ihre Schattierungen




Was ist noch korrekt, was ist "verboten", was bedeuten eigentlich Sprachkategorien wie: gehoben, Schrift, Standard oder klassische Norm, umgangssprachlich, familiär, populär, Jargon, Argot, vulgär etc.?

Zunächst einmal sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Übergänge zwischen den einzelnen Kategorien fließend sind. Die Einteilung in verschiedene Stufen ist ein möglicherweise etwas hilfloser Versuch, soziale Bezüge und Gewohnheiten, die sich in der Wahl des Ausdrucks manifestieren, deutlich zu machen.

Was der eine schon als zu salopp gesagt empfinden mag, findet der nächste ganz normal. Ob ein Ausdruck paßt, ist sehr personen- und umstandsgebunden.

Die Reihenfolge der obigen Aufzählung zeigt schon eine ungefähre "Rangfolge" von Ausdrucksweisen an. Was jeweils angemessen ist, entscheidet im Französischen wie im Deutschen die Situation. Einen Geschäftsbrief wird man im gehobenen oder im Schrift- und Standard- Französisch abfassen, einen Privatbrief je nach Ansprechpartner über alle Schattierungen hinweg. Als Ausländer bedient man sich in Frankreich am besten der sogenannten korrekten Ausdrucksweise, der "klassischen Norm", die wir in der Schule lernen. Eine vorsichtige Tendenz hin zum umgangssprachlichen (familiär-populären) Ausdruck schadet jedoch nicht unbedingt.

Nicht zuletzt aufgrund des Einflusses durch das Argot sind die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener bzw. korrekter Sprache im Französischen erheblich größer als im Deutschen.

"Argot [argo:, frz.], Sondersprache eines ständisch, beruflich oder örtlich begrenzten Personenkreises, dem engl. Slang, dem deutschen Rotwelsch entsprechend. Seit dem M.A. ist der A. der Gauner und Diebe bezeugt, später haben Studenten, Soldaten u.a. einen eigenen A. entwickelt. L'Argot parisien, die Pariser Vorstadtsprache." (aus: dtv- Lexikon)

Auch in der geschriebenen Sprache nehmen in Frankreich
umgangssprachliche Ausdrucksformen zunehmend Raum ein.

Zum Beispiel:

die Auslassung des "ne"-Teils der französischen Verneinung "ne ... pas" (nicht)/"ne ... rien" (nichts):

"Je sais pas." statt "Je ne sais pas."
"T'a rien vu?" statt "Est-ce que tu n'a rien vu?"

oder die Formulierung einer Frage allein durch den gehobenen Tonfall am Ende eines Satzes:

"Vous avez déjà vu ce filme?"

statt durch Inversion: "Avez-vous déjà vu ce filme?"

oder mit Hilfe der Einleitung "est-ce que": "Est-ce que vous avez déjà vu ce filme?"


Sehr gebräuchlich sind auch die folgenden Wendungen mit Fragewörtern:

"Il viendra quand?" statt "Quand viendra-t-il?" oder "Quand est-ce qu'il viendra?"

"Tu as vu quoi?" statt "Qu'est-ce que tu as vu?"

"Ça sert a quoi?" oder "A quoi ça sert?" statt "A quoi cela sert-il?" oder "A quoi est-ce que ça sert?"


Da es sich um eine Fremdsprache handelt, hat man gewöhnlich nicht den Überblick und das Vermögen, bestimmte Wendungen richtig einzuschätzen. Man ist zudem noch wenig flexibel in der Wahl des Ausdrucks, spricht also vielleicht richtig, dafür aber eintönig. Am besten hilft hier zunächst zuhören, zuhören, zuhören ... und Vorsicht. Man hat durchaus wie im Deutschen gewisse Kriterien, eine Situation einzuschätzen und sich entsprechend auszudrücken.

Im Französischen wird eher mehr gesiezt als im Deutschen. Innerhalb einer bestimmten Gruppe mit einem Innen- und Außenverhältnis auch zum Beispiel an der Arbeitsstelle duzt man unter Umständen eher als im Deutschen. Auf jeden Fall jedoch: Vorsichtshalber erst einmal siezen oder gucken, was der andere sagt. Eine Distanz, die man wahren möchte, sollte man ruhig so auszudrücken. Die größere Nähe eines "tu" kann man nicht ungeklärt bevorzugen.

Begriffe, die man einmal gehört hat und über deren Bedeutung und Anwendungsspektrum man nicht genau informiert ist, sollte man besser gar nicht erst benutzen. Wendungen wie "Gagner son boeuf" - den Lebensunterhalt verdienen, "(se) (les) cailler" - sich (etwas) abfrieren, "cracher qc." - etwas widerwillig herausrücken, "ausspucken", "becter/becqueter/béqueter" - mampfen, futtern, fressen beläßt man lieber im passiven Wortschatz.

In diesem Zusammenhang ist das Buch:

"Découverte du français familier et argotique - Umgangsfranzösisch verstehen lernen", von Pierre Maurice Richard unter Mitarbeit von Heinz-Otto Hohmann, Reihe Forum Sprache, Max Hueber Verlag, München, 1987, ISBN 3-19-006979-4

sehr zu empfehlen und enthält eine Liste weiterer interessanter Werke.

Raute

Der DUDEN unterscheidet folgende Gruppen des Wortgebrauchs:

dichterisch (z.B. Antlitz): feierliche, poetische, oft altertümliche Ausdrucksweise;

bildungssprachlich (z.B. interpretieren): gebildete, mehr in Fachkreisen übliche, meist fremdsprachliche Ausdrucksweise, aber trotzdem kein Fachwort;

gehoben (z.B. erbleichen): nicht alltägliche Ausdrucksweise; kann - besonders in mündlicher Alltagssprache - gespreizt klingen;

umgangssprachlich (z.B. knipsen = fotografieren): zwanglose, alltagssprachliche Ausdrucksweise; meist in der gesprochenen Sprache;

familiär (z.B. Daddy);

Jargon (z.B. Kapo): in einer bestimmten sozialen oder Berufsgruppe übliche umgangssprachliche Ausdrucksweise;

salopp (z.B. jmdn. aufs Kreuz legen): nachlässig-burschikose Ausdrucksweise; überwiegend in der gesprochenen Sprache;

derb (z.B. Fresse): als grob geltende Ausdrucksweise;

vulgär (z.B. scheißen): als anstößig, unanständig geltende Ausdrucksweise;

Ferner:
abwertend (z.B. Liederjan): enthält Kritik, emotionale Ablehnung des Sprechers/Schreibers;

scherzhaft (z.B. Benzinesel): lustig-bildhafte Ausdrucksweise;

emotional (z.B. Unsumme): nicht sachlich-neutrale Ausdrucksweise, die die gefühlsbetonte - positive oder negative - Wertung durch den Sprecher widerspiegelt;

landschaftlich (z.B. schnaukig): regional begrenzte Ausdrucksweise;

verhüllend (z.B. Vorneverteidigung): Ausdrucksweise, die etwas harmloser erscheinen lassen oder mit der etwas schonender, weniger direkt gesagt werden soll.

aus: DUDEN, "Die sinn- und sachverwandten Wörter", S. 7-8


Das Problem der "angemessenen" Wortwahl ist nicht auf die Fremdsprache beschränkt. Auch im Deutschen, in der Heimatsprache, stellt sich - wenn auch vermindert - dieses Problem. Im allgemeinen entscheidet man gefühlsmäßig über die angemessene Wortwahl. Das heißt, man weiß aus Erfahrung, das paßt jetzt und das paßt nicht. Was man wie sagt hängt von vielen Faktoren, den eigenen Interessen und der jeweiligen Stimmung ab.

Viele Wörter der deutschen Sprache sind mir jedoch relativ unbekannt, so daß ich entweder eine "falsche" beziehungsweise eine mit dem DUDEN nicht übereinstimmende Einschätzung dieser Worte habe. Während z.B. Knete als Jargon gilt, werden die Pimperlinge, von denen ich noch nie etwas gehört habe, als umgangssprachlich bezeichnet. Die "Kohle" nun, die tagaus tagein in meiner Umgebung ohne Zögern benutzt wird, soll salopp sein, während die Emmchen, von denen ich gerade noch meine, ich könnte das Wort eventuell einmal gehört haben, als umgangssprachlich bezeichnet werden. Viele der Ausdrücke, die ich kenne und als familiär/populär bezeichnen würde, gelten hier als salopp. Dem könnte ich zustimmen. Vielleicht entspräche "P" (P = populär) salopp, aber was ist dann wiederum umgangssprachlich? Nicht ganz so salopp?

Man sieht, daß die Grenzen und Übergänge zwischen den unterschiedlichen Sprachniveaus nicht eindeutig zu ziehen sind. Sie entsprechen eher dem Versuch einer annähernden Orientierung und sind künstlich gesetzt. Daraus erklären sich scheinbare Widersprüche und Unstimmigkeiten bei der Einordnung in die Kategorien familiär und populär und die Verwendung des Begriffs umgangssprachlich, den man eigentlich als eher übergeordneten Begriff für familiär, populär, salopp, mundartlich oder Jargon etc. empfindet.

Beispiel:
Während »gueuler« (herumschreien, -brüllen, schreien, das Maul aufreißen etc.) im Pons-Globalwörterbuch von Klett als pop = populär bezeichnet wird, ist die Kennzeichnung im Großen Schulwörterbuch von Langenscheidt F = familiär, im Larousse Élémentaire wiederum Pop. = populär. »Filer« im Sinne von geben ist bei Langenscheidt P = populär bei Klett arg = Argot.

Generell ist umgangssprachlich:
Eine verkürzte Ausdrucksweise, Ausdrucksweise mit leichter Ironie, mit noch vorhandenem oder verlorengegangenem bildhaften Ausdruck beziehungsweise eine Übertragung aus einem anderen Sinnzusammenhang. Noch einmal dazu das Beispiel Kohlen oder Kohle, in dem sich der wusprüngliche Sinn des Wortes über die Brücke: "wer Kohle hat und bei wem die Schornsteine rauchen, der hat auch Geld" auf Geld allgemein übertragen hat.

Will man sich nun weiter mit Hilfe der deutschen Sprachgewohnheiten in der französischen Sprache orientieren, muß man feststellen: Die Regel je vertrauter, desto salopper gilt nicht unbedingt. Gruppeninterne Ausdrucksweisen können sehr förmlich sein. Eine saloppere Wortwahl wird möglicherweise als aggressiv interpretiert.

Was stört mich zum Beispiel daran, wenn jemand, den ich kaum kenne, zu mir sagt: "Kannst du mal mit 20 Eiern rüberkommen"?

Im Französischen vielleicht so etwas wie: "Tu peux me filer 20 balles?"

- Zunächst einmal habe ich unter Umständen schon Schwierigkeiten mit dem Wort Eier, weil ich es nicht genau einordnen kann oder vielleicht wirklich an Eier dabei denke.

- Zum zweiten ist die Sprachebene recht dicht und direkt, kennzeichnet eine Vertrautheit, die nicht vorliegt.

- Möglicherweise unterstelle ich Mißachtung. Ich fühle mich nicht richtig gewürdigt.

- Für den anderen ist diese Ausdrucksweise dagegen wahrscheinlich ganz normal, gewohnt und würde im vertrauten Kreis keinen Anstoß erregen.

Ähnliches Befremden wäre der Fall, wenn jemand mich fragt: Dürfte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß...

Je nach Situation könnte man Ironie oder Bissigkeit vermuten. Möglicherweise kenne ich denjenigen und weiß, er will einfach nur höflich sein.

Kurzum:
Schon in der eigenen, eigentlich vertrauten Sprache gibt es diese Probleme. Um so mehr bewegt man sich in einer Fremdsprache auf Glatteis. Je nachdem, in welchem Umfeld man sich schließlich in Frankreich bewegt - unter Freunden, Geschäftspartnern, an einer wie auch immer gearteten Institution - ist ein unterschiedliches Maß an Vorsicht geboten. Als Leitschnur sollte gelten: Standardfranzösisch ist immer die Ebene der Wahl, wenn man eine Situation nicht einschätzen kann und man sich nicht unter Freunden bewegt. Selbst im letzteren Fall gibt es unterschiedliche Stufen der Vertrautheit. Ich hatte immer das Glück, daß mir, in welcher Fremdsprache auch immer, meine Fehler nachgesehen wurden. Als Ausländer hat man, wenn man ein wenig vorsichtig ist, einen weiten Spielraum. Auch wenn jemand dann vielleicht sagt: "But this is digusting, you should better say ..." Und, ich hatte wirklich ziemlich danebengehauen.

Schlußsatz:
Nachdem nun vielleicht die Sprachverwirrung weiter gestiegen, aber zumindest ein wenig erklärt ist, gebe ich den Schwarzen Peter wieder an den Leser zurück...

Raute

Literatur:

Pierre Maurice Richard unter Mitarbeit von Heinz-Otto Hohmann: "Découverte du français familier et argotique - Umgangsfranzösisch verstehen lernen", Reihe Forum Sprache, Max Hueber Verlag, München, 1987, ISBN 3-19-006979-4

DUDEN Band 8, "Die sinn- und sachverwandten Wörter - Wörterbuch für den treffenden Ausdruck", DUDENVERLAG, Mannheim/Wien/Zürich, 2. Aufl. 1986, ISBN 3-411-20908-9

"Langenscheidts Großes Schulwörterbuch, Französisch-Deutsch", LANGENSCHEIDT Berlin/München/Wien/Zürich/New York, 21. Aufl. 1995, ISBN 3-468-07151-5

"Langenscheidts Großes Schulwörterbuch, Deutsch-Französisch", LANGENSCHEIDT Berlin/München/Wien/Zürich/New York, 14. Aufl. 1995, ISBN 3-468-07157-4

Erich Weis/Heinrich Mattutat: "Pons-Globalwörterbuch, Teil 1 Französisch-deutsch", Ernst Klett Verlag Stuttgart, 1. Aufl., Nachdruck 1983, ISBN 3-12-517230-6

Erich Weis/Heinrich Mattutat: "Pons-Globalwörterbuch, Teil 2 Deutsch- französisch", Ernst Klett Verlag Stuttgart , 1. Aufl., Nachdruck 1983, ISBN 3-12-517240-3

Dr. Heinz Küpper: "PONS Wörterbuch der deutschen Umgangssprache", Ernst Klett Verlage GmbH u. Co. KG, Stuttgart, 1987, ISBN 3-12-570600-9

Larousse Élémentaire a l'usage des Allemands - Ein Schulwörterbuch mit französischen Definitionen, Larousse/Langenscheidt, Berlin, München, Wien, Zürich

dtv-Lexikon, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München



Erstveröffentlichung am 12. Juni 1996


11. Mai 2007