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INTERVIEW/016: Gebührenboykott - Erst kommt das Fressen ... Ray Juster und Valentin Gagarin im Gespräch (SB)


... dann die Moral - Für eine streitbare Kunst

Interview am 3. April 2014 im Hamburger Schanzenviertel



Ray Juster und Valentin Gagarin studieren an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg. Im Gespräch mit dem Schattenblick gehen sie auf die Gründe für den Boykott der Studiengebühren, den Verlauf der Proteste und die künstlerischen Aktionen zur Unterstützung der Kampagne ein. Darüber hinaus kommen die gravierenden Veränderungen für Lehrende und Lernende im Zuge des Bologna-Prozesses wie auch ein grundsätzliches Verständnis von Kunst und deren Bedeutung als ein politisches Medium zur Sprache.

Nächtliche Aufnahme im S-Bahnhof Sternschanze - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ray Juster, Valentin Gagarin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Ray, wie wirken sich die Forderungen zur Nachzahlung der Studiengebühren auf deine persönliche Situation aus?

Ray Juster: Ich boykottiere die Studiengebühren seit 2007, also seit dem zweiten Semester ihrer Einführung. Damals betrugen die Gebühren für Studierende noch 500 Euro. Seit sieben Jahren schickt die Kasse Hamburg mindestens einmal, manchmal auch zweimal im Jahr jeweils zu Semesterbeginn eine Mahnung an mich heraus, in der ich aufgefordert werde, meine Gebühren endlich zu zahlen oder zu stunden, inklusive der Mahngebühren, die ich zusätzlich zu zahlen hätte. Der Wortlaut der Mahnschreiben ist meistens: Das ist jetzt wirklich die letzte Mahnung. Sie haben noch einmalig die Chance zu stunden. Wenn Sie es nicht tun, werden wir Vollstreckungsmaßnahmen einleiten, das heißt, Ihr Konto pfänden und einen Gerichtsvollzieher beauftragen. Vor zwei Jahren war tatsächlich ein Gerichtsvollzieher bei mir zu Hause, aber es hatte keine Folgen. Er ist auch nie wiedergekommen. Dennoch muß ich bei jedem Mahnschreiben Angst haben, daß mein Konto gepfändet wird. Aber das ist bis jetzt, vermutlich weil ich noch Student bin, nicht passiert. Bei den zahlreichen mir bekannten Fällen erfolgte die Pfändung erst nach Abschluß des Studiums. Da ich bislang immatrikulierter Studierender bin, hat man es bei mir noch nicht getan.

SB: Hast du deinen Boykott, die Studiengebühren nicht zu zahlen, von Anfang an als politische Aktion verstanden?

RJ: Ja. Als ich mit dem Studium anfing, wußte ich noch nicht, daß einmal Studiengebühren erhoben werden. Ich habe vier Geschwister, die alle studiert haben, und von daher waren mir die Bedingungen, unter denen man in den 80er und 90er Jahren studieren konnte, bekannt. Als ich von der Einführung der Studiengebühr erfuhr, war ich ziemlich erschlagen. Hätte ich das vorher gewußt, hätte ich mich gegen ein Studium entschieden. An einer Hochschule, die von 600 Bewerbern nur 40 aufnimmt, war ich in einer glücklichen Position. Deswegen habe ich das Studium auch nicht abgebrochen, als Studiengebühren fällig wurden. Die Idee, mich in dieser Sache politisch zu engagieren, kam nicht von mir, sondern ich bin direkt in einen aktiven Boykott eingestiegen, der sich zu der Zeit gebildet hatte.

Abhänginstallation Ray Juster 'Mein Studium an der HfbK' - Foto: © 2012 by Ray Juster Abhänginstallation Ray Juster 'Mein Studium an der HfbK' - Foto: © 2012 by Ray Juster

Resümee eines Kunststudiums - Mahnschreiben und Zahlungsaufforderungen aus 12 Semestern
Fotos: © 2012 by Ray Juster

SB: Wie wurde der Boykott damals organisiert?

RJ: An dem Boykott waren damals noch mehrere Hochschulen in Hamburg beteiligt. Die Universität hat ihren Protest relativ lange durchgehalten, während die HAW recht früh gescheitert ist. Die kleinen Schulen wie die Hochschule für Musik und Theater (HfMT) und die HafenCity Universität Hamburg (HCU), die zu der Zeit noch ganz neu war und die ausgegliederten Architekten der HfbK aufgenommen hatte, sind nach dem ersten Semester zumeist wegen Exmatrikulationsdrohungen eingeknickt. Bei uns hat der AStA den Boykott in erster Linie durch Pressearbeit organisiert. Zu der Zeit gab es sehr viele Aktionen, wie zum Beispiel die Malaktion, die 2008 durch die Presse gegangen ist, weil sie sehr gut kommuniziert war.

SB: Wie groß war die Beteiligung am Boykott an der HfbK?

RJ: 2007 hatten wir 450 immatrikulierte Studierende, von denen knapp 300 die Zahlung der Studiengebühren verweigert haben. Damals war es sehr schwer, offizielle Zahlen zu kriegen, weil der AStA nicht von der Hochschulleitung, die uns die Daten und Fakten lange vorenthalten hat, unterstützt wurde. Die Hochschulleitung war zwar verpflichtet, alle Informationen über den Boykott an die Bürgerschaft, nicht aber an uns, weiterzuleiten.

SB: Wie war seinerzeit die Stimmung unter den Studierenden?

RJ: Sehr solidarisch. Den Studierenden in den Jahren 2006 bis 2008 war natürlich bewußt, daß sie einer aussterbenden Generation, nämlich der der Diplomstudenten, angehörten. Ursprünglich ging es beim Boykott nicht nur gegen die Studiengebühren, sondern auch gegen die Einführung des Bachelor-Master-Systems im allgemeinen und der Credit points an einer Kunsthochschule im speziellen. Das ist inzwischen alles passé und vergessen. Jetzt geht es nur noch ums Geld, was zwar auch wichtig ist, aber am anfänglichen politischen Protest nur einen kleinen Anteil hatte.

SB: Wie hat sich aus heutiger Sicht die Straffung des Studiensystems im Kunstbereich ausgewirkt; ist der Konkurrenzdruck vielleicht stärker geworden?

Valentin Gagarin: Ich habe 2009 mit meinem Studium angefangen und mußte feststellen, daß die Solidarität und politische Aktivität zu dieser Zeit schon deutlich nachgelassen hatten, weil die Leute sich aufgrund der neuen Studienbedingungen mehr mit sich selbst beschäftigten, als miteinander eine streitbare Linie im Boykott zu verfolgen.

RJ: Ich habe das Glück gehabt, noch zwei Semester unter den alten Professoren studieren zu können, die sich aktiv für die Boykottziele des AStA engagiert und mit uns in den Seminaren viel über Hochschulpolitik diskutiert haben. Nachdem sie pensioniert oder in Frührente geschickt wurden, mußten wir erleben, daß die Professoren, die an ihre Stelle traten, eine ganz andere Einstellung zum neuen Studiensystem besaßen, weil sie das alte zwar noch erlebt, aber nicht praktiziert hatten. Die alten Professoren, vor allem Michael Haller und Gerd Roscher, hatten uns prophezeit, was kommen wird.

Das Studium als solches hat sich natürlich nicht verändert, aber gerade beim Kunststudium sind es eben nicht die Seminare, die morgens um neun Uhr anfangen und um 16 Uhr vorbei sind, die das eigentliche Studium ausmachen. Früher war es nicht unüblich, daß man von 16 Uhr bis 21 Uhr an der Schule blieb und sich inspirieren ließ. Anders als beim Maschinenbau gibt es beim Kunststudium keinen Plan, aber gerade diese Planlosigkeit hat die Qualität des Kunststudiums ausgemacht. Das neue System mit der durchsystematisierten Anwesenheitspflicht hat mit diesen kreativen Freiräumen völlig aufgeräumt.

Polizisten und Studierende vor Rathaus - Foto: © 2009 by Ray Juster

Bildungsstreikdemo auf dem Hamburger Rathausmarkt am 17. Juni 2009
Foto: © 2009 by Ray Juster

SB: Läßt sich die Evaluierung von Kunst überhaupt mit dem Selbstverständnis der Kunststudenten vereinbaren? Ist es nicht an sich schon widersprüchlich, Leistungsparameter zu konstruieren, um Kunst nach welchen Kriterien auch immer zu bemessen?

RJ: Diese Bewertungsfrage wird an der HfbK ganz geschickt umschifft. Denn im Prinzip muß man bei uns schon ganz schön faul sein, um tatsächlich eine schlechte Note zu erhalten. Das wird sehr tolerant gesehen. Insofern kann man von einer Bewertung der Kunst nicht wirklich sprechen. Auf diese Weise wird das Studium jedoch enorm beeinflußt. Im Prinzip ist es nämlich völlig egal, was die Leute machen oder von ihrer Arbeit selber halten. Eigentlich ist es nur wichtig, daß sie eine Checkliste abhaken, unabhängig davon, ob eine persönliche Erfahrung positiv oder negativ ausfällt. Wichtig ist nur der Haken, der zeigt, daß man irgend etwas gemacht hat. Ich studiere zum Beispiel visuelle Kommunikation. Im Studienplan steht das nur noch unter Film. Früher hat man sich in der visuellen Kommunikation noch philosophisch mit dem Prozeß des Sehens und Verarbeitens auseinandergesetzt. So etwas ist jetzt nicht mehr nötig, weil man im Filmstudium lernt, was ein guter Werbespot ist. Die Idee geht in dieselbe Richtung, aber der Ansatzpunkt ist viel oberflächlicher.

SB: Vielleicht dadurch auch stärker anwendungsorientiert?

VG: Die Belegschaft hat sich in den vergangenen Jahren auch aufgrund des Präsidiums in die Richtung entwickelt, das Studium stärker anwendungsbezogen auszurichten und in größerem Ausmaß zu kommerzialisieren. Natürlich ist der Grad dessen sehr vom einzelnen Professor abhängig. An dieser Stelle möchte ich noch etwas zur Bewertung der Kunst anführen: Viele der älteren Professoren halten es mit dem Credit-System und der Anwesenheitspflicht relativ locker, aber dennoch beeinflußt es das Studium insofern stark, als die Leute eher den Plan abarbeiten, so grob dieser auch erstellt sein mag, als sich tatsächlich mit den Umständen ihrer Arbeit und ihres Lebens an der Hochschule auseinanderzusetzen. Gerade die selbstbezogene Art unter den neueren Semestern hat die frühere Form der Gemeinschaft, die ich zum Teil noch kennengelernt habe, fast vollständig zerstört.

RJ: Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit im AStA. Ich war von Anfang an dort gewesen, aber wenn inzwischen alle Studierenden bereits um neun Uhr anwesenheitspflichtige Seminare haben - früher betraf das nur die Kunstpädagogen -, dann wird es schwierig, die Freizeit aufzuopfern, um sich von 18 bis mindestens 20 Uhr im AStA Gedanken darüber zu machen, was man an der Hochschulpolitik verändern könnte. Für das eigene Studium ist dieses Weltverbesserische überhaupt nicht relevant. Sie haben nichts davon außer Lebenserfahrung, die natürlich in den Noten nicht angerechnet wird.

SB: Seht ihr in der strukturellen Veränderung an den Hochschulen und Universitäten einen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Prozessen oder zur herrschenden Marktideologie?

RJ: An der HfbK lassen sich in diesem Ausmaß keine Zusammenhänge zur Gesellschaft herstellen, aber in den geisteswissenschaftlichen Studiengängen müssen ganz konkrete Voraussetzungen erfüllt sein, um später ins Berufsleben einsteigen zu können. An der HfbK geht es mehr um Selbstbildung und das Erlangen geistiger Reife und weniger um das Erlernen bestimmter Fertigkeiten. Aus diesem Grund ist die Kunstbewertung eigentlich auch nicht so wichtig. Jedenfalls sollte es nicht darum gehen.

SB: Als Kunststudenten seid ihr mit einer Struktur konfrontiert, die ganz offensichtlich darauf ausgerichtet ist, Menschen effizient für die Arbeitswelt zu konditionieren. Das scheint in Widerspruch zur generellen Auffassung von Kunst zu stehen. Die von euch angesprochenen Qualitäten ästhetischer, menschlicher oder auch philosophischer Art tauchen im Leistungsparameter gar nicht auf. Inwieweit setzt ihr euch mit der Frage auseinander, in was für einer Gesellschaft Kunst eigentlich stattfindet?

VG: Man muß dazu sagen, daß die Kunstwelt ein Paralleluniversum darstellt, das mit dem Markt meistens wenig zu tun hat, und so sollte es auch sein. In der Realität gibt es natürlich Schnittmengen, die an der HfbK auch personell vertreten sind. Insofern sind wir auch ein Spiegel der Bildungslandschaft, der relativ deutlich zeigt, wie sehr die Ansprüche einer persönlichen Bildung und Entwicklung, die eigentlich ein freiheitlich gestaltetes Studium ausmachen sollten, inzwischen zurückgegangen sind. An der HfbK sind sie höchstwahrscheinlich noch am meisten erhalten geblieben. Je stärker diese Freiheit eingeschränkt wird, desto schwieriger wird die eigene Entfaltung. Man merkt schon, daß sich in diesem Punkt vieles verändert hat.

SB: Steht die Unnachgiebigkeit, mit der die Rückzahlungsforderungen jetzt erhoben werden, aus eurer Sicht in einem Zusammenhang mit dem systemischen Charakter dieser Veränderung?

RJ: Ja, es gibt einen ganz konkreten und höchst bezeichnenden Zusammenhang, der das gut dokumentiert. Nun war es so, daß die Studiengebühren vom parteilosen Jörg Dräger unter der damaligen CDU-Regierung quasi auf den letzten Drücker eingeführt wurden. Dadurch mußte bei uns in der Schule sehr schnell eine Person aus der Verwaltung gefunden werden, die diese Gebühren erhebt, Zahlungsaufforderungen verschickt und Stundungen im besten Fall annimmt. Weil das sehr kurzfristig geschah, war diese Person mit der Aufgabe hoffnungslos überfordert. Schließlich gab es anfangs weder eine Reglementierung noch entsprechende Vordrucke. Um hinterherzukommen, hat diese Person Excel-Tabellen erstellt. In der Zeit, als die Studiengebühren von 500 auf 375 Euro heruntergestaffelt wurden, war der Arbeitsaufwand so intensiv, daß dieser Mensch tatsächlich seine Haare verloren hat und immer einen erschöpften Eindruck machte. Jedenfalls mochte ihn kein Student mehr. Vorher war er eine Art Vertrauenslehrer, zu dem man gegangen ist, wenn einem das Bafög-Amt Sorgen bereitete. Weil er Gebühren erheben mußte, verlor er unter den Studierenden jedes Ansehen. Die Hochschulleitung hat schließlich eingesehen, wie problematisch es ist, wenn dieser Mensch Tag für Tag in der Mensa bei den Leuten sitzt, an die er die Briefe verschickt.

Daraufhin hat die Wissenschaftsbehörde den Administrativen Hochschuldienst (AdHoch) gegründet, der die Gebühren in den kleineren Hochschulen HfMT, HCU und HfbK eingefordert hat. Das hatte aus Sicht der Behörde den Vorteil, daß die Studierenden den Sachbearbeiter nicht kannten. Später wurde die Aufgabe an die Kasse Hamburg übergeben, die sich dann um die Zahlungsverweigerer kümmerte. Die Kasse Hamburg hat mit der Hochschule nichts zu tun und konnte deswegen auch Pfändungsbeamte schicken, was eine Hochschule nicht darf. Inzwischen werden die Pfändungsschreiben der Kasse Hamburg nicht mehr von einem Menschen bearbeitet, sondern von einem Computerprogramm. Auf dem Brief steht unten, daß dieses Schreiben auch ohne Unterschrift gültig ist, da es automatisiert erstellt wurde. Die Studierenden haben so keine Ansprechperson, und weil der Vorgang automatisiert ist, erhalten sie die Pfändungsmahnung zu verschiedenen Terminen. Das heißt, ich erhielt das Schreiben zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber andere Studierende erst zwei Monate später. Das läuft wie beim Russischen Roulette und irgendwann schießt es einen heraus.

SB: Welche Aktion gegen die Studiengebühren hat dir persönlich am meisten gebracht?

RJ: Mir persönlich hat es relativ wenig gebracht, Tatsächlich habe ich fast mein komplettes Studium darauf verwendet. Ich bin an die Kunsthochschule mit der Absicht gekommen, Visuelle Kommunikation und Film zu lernen, aber letztendlich habe ich viel über Hochschulpolitik und die Mechanismen der Hamburger Bürgerschaft gelernt, was sicherlich auch interessant ist, mir aber in meinem künstlerischen Dasein wenig bringt. Wegen der Aktionen habe ich nur wenige Filmseminare besuchen und mich nie ganz meinem Kunststudium widmen können.

Rosa gekleidete Studierende mit rosa Kunstobjekt - Foto: © 2008 by Ray Juster

"Malen nach Zahlen" - Aktion PINK in der Mönckebergstraße am 16. Februar 2008
Foto: © 2008 by Ray Juster

SB: Welche dieser Aktionen hat die größte Resonanz hervorgerufen?

RJ: Der größte Erfolg war natürlich, daß die Gebühren letztendlich abgeschafft wurden. Im Vorwege hatten wir eine kleine Aktion durchgeführt, bei der jemand ein kleines Gedicht in der Bürgerschaft vorgetragen hat. Das war für mich jedoch keine große Kunstaktion, da wir nur gefilmt haben. Die in meinen Augen größere und relevantere Kunstaktion fand vom zweiten auf das dritte Boykott-Semester in der Mönckebergstraße statt. Bei dieser "Aktion Pink" trugen 20 pink gekleidete Personen Skulpturen, Transparente und Schilder ohne Aufschrift, die komplett pink waren. Das Ganze lief damals unter dem Motto "der Boykott wird pink". Wir sind kurz vor der Wahl dort einfach herumgelaufen und haben versucht, die Passanten auf unsere Problematik aufmerksam zu machen.

Damals haben wir mit Heinrich Hanke zusammengearbeitet, der uns Gesetzestexte und -auszüge, die er recherchiert hatte, zur Verfügung stellte, darunter auch das UN-Sozialgesetz, nach dem Studiengebühren generell gegen die Menschenrechte verstoßen. Für mich ist Hanke ein Menschenrechtler, obwohl er sich selbst als Rentner im Unruhestand bezeichnet. An dieser Aktion haben seinerzeit sehr viele HfbK-Studenten teilgenommen. Wir haben auch ein Video dazu gedreht und tolle Fotos gemacht und sie online gestellt. In der Mönckebergstraße hatten wir auch einen Flyer verteilt, auf dem die Paragraphen standen, die unser politisches Statement belegten. Diese Aktion fand ich künstlerisch am gelungensten, weil sie visuelle und aktionistische Elemente mit handfesten Paragraphen kombiniert hat. Zwei Jahre später haben wir sogar einen Werbespot gedreht - "Sie nehmen dir das letzte Hemd" -, aber das war plakativ und zielte auf die Emotionen ab.

Installation mit Transparent 'Das letzte Hemd nimmt uns die Studiengebühr' - Foto: © 2010 by Ray Juster

Präsentation des Boykottvideos [1] zur Jahresausstellung 2010
Foto: © 2010 by Ray Juster

SB: Habt ihr in dem Protest verwirklicht, was ihr im Grunde genommen auch mit der Kunst beabsichtigt?

RJ: Einen guten Künstler zeichnet die Fähigkeit aus, Zeitgenössisches und Spontanes in seiner Kunst zu verarbeiten. Ich hoffe, das ist uns ein bißchen gelungen. Aber wir haben nicht versucht, unsere Kunst in eine politische Richtung einzugliedern. Vielmehr hat die Notwendigkeit der Situation es erfordert, daß wir unsere Kunst auf etwas spezialisieren, das für uns alle von Interesse ist.

SB: Inwiefern ist Kunst für euch überhaupt als politisches Medium bedeutsam?

VG: Die Kunst ist das erste politische Medium, weil es die schnellste und deutlichste Reaktion hervorrufen kann. Damit treffen die Künstler immer den Nerv der Zeit. Bis sich etwas richtig in den Medien ausbreitet oder in die Politik Einzug hält, hat die HfbK das schon längst verarbeitet.

RJ: Die HfbK rühmte sich, politische Kunst zu machen. Wer das nicht macht, ist vielleicht falsch an der Schule, hieß es damals. Inzwischen hat dieser Geist ausgedient. Heute würde man niemanden mehr vorwerfen, daß seine Kunst unpolitisch sei und er besser an die Illustratorenschule gehen sollte. Politik interessiert hier niemanden mehr.

SB: Seht ihr darin einen Zusammenhang mit dem Bologna-Prozeß?

RJ: Definitiv. Es hat sich ganz schnell gezeigt, daß die erste Generation des Bachelor-Master-Systems ein ganz anderer Schlag Mensch war. Im Jahr darauf kam auch der doppelte Abiturjahrgang. Sie waren vorher weder in der Ausbildung gewesen noch hatten sie Zivildienst absolviert, sondern kamen direkt aus dem Abitur. Sie waren daher sehr jung.

VG: Das kann ich bestätigen. Ich war im zweiten Bachelor-Jahrgang, und die Tendenz ging dahin, sich an die Hand nehmen und etwas beibringen zu lassen. Auch ich mußte erst lernen, daß man selbst lernen muß und einem keiner zeigt, wie es geht.

RJ: Die Leute sind mit einer Erwartungshaltung hierhergekommen. Wenn sie schon Studiengebühren zahlen, können sie auch etwas für ihr Geld erwarten. Dabei ist gerade die HfbK eine Hochschule, an der die Maxime "Take it or leave it" - mach das Beste daraus - immer schon Gültigkeit hatte. Deswegen fühlten sich einige Leute ganz schön betrogen und haben die Schule wieder verlassen, weil sie viel Geld zahlen, ohne dafür mehr zu lernen, und sind dann lieber an eine berufsbildende Schule gegangen.

VG: Zur Ehrenrettung der HfbK möchte ich nochmals betonen, daß wir trotz aller schwerwiegenden Veränderungen, die in den letzten fünf, sechs Jahren eingetreten sind, immer noch am nächsten an einem Studium generale dran sind, nur eben unter erschwerten Bedingungen. Es ist ein geschützter Raum, in dem man sich relativ frei entfalten kann, aber die Tendenz geht leider dahin, daß die Umsetzung immer schwieriger wird.

SB: Glaubt ihr, daß die nachfolgende Generation von Studierenden noch in der Lage sein wird, die Qualität eines solchen geschützten Raumes oder die Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung wahrzunehmen?

RJ: Die neueren Generationen betreiben durchaus Aktionismus, wenngleich zu anderen Themen als Bachelor-Master, Bologna und Studiengebühren wie unsere Generation. So haben die jetzigen Drittsemestler, im Grunde relativ junge HfbK-Studenten, vor einem Jahr die Haupthalle für einige Monate besetzt gehalten, um gegen interne Strukturierungen in der Hochschule zu protestieren. Die jungen Semester wurden nämlich aus dem Hauptgebäude ausgelagert und damit der Möglichkeit zur Integration beraubt. Der Wille zur Veränderung ist durchaus vorhanden.

VG: Ein Bewußtsein dafür ist vorhanden, aber ich glaube, die Ansprüche sind bescheidener geworden.

RJ: Es stimmt schon, daß die neue Generation viel mehr akzeptiert, als es die alte je gemacht hätte. Ein Beispiel dazu:

Der Nachtdienst bei uns wurde jetzt gegen einen Security-Service ausgetauscht. Dadurch wurden interessante Charaktere und Menschen, die ihren Beruf mit Verantwortungsgefühl ausübten, durch etwas Professionalisiertes, Kühles, Distanziertes ausgewechselt, das teilweise auch die Studienqualität beeinflußt. So besteht die HfbK im Moment aus drei Hauptgebäuden, die voneinander getrennt sind. Zwei dieser Gebäude sind mit einem Chipkartensystem versehen worden. Dagegen gab es leichte Widerstände, aber nichts Erfolgreiches. Die Einführung war schon vor acht Jahren einmal unter der gleichen Verwaltung und dem gleichen Präsidenten angedacht gewesen. Kurz nach Antritt seines Amtes wollte er damals das neue Chipkartensystem bei uns einführen, kam damit jedoch nicht durch, weil sich die Studierenden massiv zur Wehr gesetzt hatten. Jetzt haben wir das System in zwei Häusern, und die Leute lassen es mit sich machen. Das ist ein typisches Vorgehen: Wenn es das erste Mal nicht geklappt hat, wird es ein paar Jahre später nochmals versucht, nur eben etwas schleichender, und schon hat man Erfolg.

Grafitti 'Nur zur Erinnerung' an der Wand des HfbK-Präsidentenbüros - Foto: © 2013 by Ray Juster

Gegen jedes Vergessen - Kritik als zentrale Aufgabe der Kunst an geeignetem Ort geübt
Foto: © 2013 by Ray Juster

SB: In Berlin gibt es im Museum für Kommunikation die Ausstellung "Außer Kontrolle", die Sicherheitstechniken thematisiert, während im Haus der Kulturen die Ausstellung "Forensis" zu sehen ist, bei der es um Kontroll-Architekturen geht. Während im Kulturbetrieb eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema erfolgt, wird hier an der HfbK reale Sicherheitstechnik eingesetzt. Wäre das nicht ein hervorragender Anlaß, das auch als Künstler zu reflektieren?

RJ: Das wird mit Sicherheit auch passieren, so viel Hoffnung setze ich noch in die aktuelle Generation der Studierenden. So wurde der Sicherheitsdienst, der im Moment im anderen Gebäude aktiv ist, schon des öfteren von den neueren Semestlern thematisiert, weil er sich als Angriffsfläche geradezu anbietet. Aber mit der politischen Arbeit verhält es sich dann doch anders, weil immer jüngere Leute in den AStA der HfbK kommen, die keine Vorkenntnisse mitbringen und früher bestenfalls einmal Klassensprecher waren. Sie fühlen sich im AStA schnell überfordert. Zwar hatten auch wir Älteren nicht viel mehr Vorbildung, aber doch etwas mehr Lebenserfahrung. Hinzu kommt, daß die Termine es den neuen Studierenden schwermachen, sich hochschulpolitisch zu engagieren. So gesehen liegt die Hemmschwelle ein bißchen höher. Es hat den Anschein, daß das gesamte Studiumsprinzip darauf angelegt ist, die Leute aus dieser Gremientätigkeit wegzuholen. So gab es vom Hochschulpräsidenten den Vorschlag, das Büro des AStA aus dem Hauptgebäude in eines der Nebengebäude zu verlegen. Der neue Raum wäre viel größer, aber auch weiter weg vom Bewußtsein der Leute. Daß solche Angebote überhaupt im Raum standen, ist schon ziemlich bezeichnend.

SB: Habt ihr den Eindruck, daß es noch zu einer Welle der Proteste kommen wird, um sich gegen diese Bedingungen auflehnen?

VG: Nein, ich habe eher den umgekehrten Eindruck, daß die Leute angesichts der Entwicklungen, die sich anbahnen, resignieren und nur noch studieren wollen.

RJ: Das ist der augenblickliche Zustand, aber ich bin überzeugt, daß es wieder zu Empörungswellen kommen wird, so wie es in den letzten Jahren des öfteren der Fall war.

VG: Das ist zu hoffen, aber dazu müßte sich die Lage noch weiter verschärfen.

RJ: Dazu wird es definitiv kommen. Ein Beispiel dazu: Ich hatte einmal eine Dokumentarserie über die Besetzung des Hamburger Audimax 2009/10 gemacht, die über zwei Monate durchgetragen wurde. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich mir Filmmaterial von 1969 angesehen, als dasselbe Gebäude zum ersten Mal besetzt war unter dem Motto "Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren". Wenn man sich diese alten Dokumentaraufnahmen anschaut, wird man feststellen, daß die Inhalte und Reden und sogar die Charaktere, die aufgetreten sind, identisch mit denen von 2009 sind. Da hat sich in 40 Jahren nicht viel verändert, obwohl die gesellschaftliche Entwicklung in Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß das Audimax 2039 unter den gleichen Kritikpunkten wieder besetzt wird.

SB: In den Studentenprotesten 1969 ging es allerdings auch gegen den Vietnamkrieg.

VG: Die Schärfe der Auseinandersetzung war sicherlich eine andere, und deswegen halte ich die jetzige Lage auch für desolat. Nachdem die Studiengebühren abgeschafft worden waren, sind die Probleme, mit denen sich die Leute herumschlagen, wesentlich abgeflacht. Die Motivation, sich aufzulehnen, ist relativ gering. Jeder ist zum Eigenbrötler geworden und versucht, sein Studium über die Runden zu bringen.

SB: Ray, Valentin, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Ray Juster, Valentin Gagarin - Foto: © 2014 by Schattenblick

Produktiv streiten, um gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Boykottvideo "NACKT ins Leben - Sie nehmen Dir das letzte Hemd"
http://www.youtube.com/watch?v=0Ip1PVNHfJ8

Bisherige Beiträge zum Thema Boykott der Studiengebühren im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → TICKER:

CAMPUS/001: Offener Brief - versprochen, gebrochen ... 1 (AStA HfbK, GEW Hamburg, Kanzlei 49)
CAMPUS/002: Offener Brief - versprochen, gebrochen ... 2 (AStA HfbK)

sowie unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT:

BERICHT/032: Gebührenboykott - Strafen und Exempel (SB)
INTERVIEW/013: Gebührenboykott - parteiverdrossen, kampfentschlossen ... Marion Meyer und Martin Klingner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Gebührenboykott - Bildungswert hat keine Münzen, Dora Heyenn im Gespräch (SB)
INTERVIEW/015: Gebührenboykott - am gleichen Strang ..., Maximilian Bierbaum im Gespräch (SB)


13. April 2014