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BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)


SHIFT - Schichtwechsel


Die israelische Künstlerin Aya Ben Ron widmet sich in ihrer filmischen Dokumentation SHIFT dem Thema Wachkoma in einer vielschichtigen Bilderwelt. Bei ihrer Videodokumentation des Tagesablaufs zweier Krankenstationen mit Wachkoma-Patienten stellt sie ihr fragendes, ja beinahe forschendes Interesse an dem zerbrechlichen Zustand zwischen Leben und Tod, dem auch ihre Exponate in der zur Zeit aktuellen, gleichnamigen Ausstellung in Berlin, einer Kombination aus Film, Bildkunst und Skulptur, gewidmet sind, zur Disposition. Gerade der künstlerische Ansatz hat die Chance, affinitiv distanzlose Perspektiven zu nutzen, die sich von einer bloßen Patientenverwahrung mit allen ökonomisch motivierten Scheindeutigkeiten nicht aufhalten lassen muß und birgt genügend Freiraum, einer eher ahnenden und somit menschlich weit ursprünglicheren Sicht nachzugehen. Die Situation von Wachkomapatienten gewinnt mit der Annäherung an die Monströsität technischer Vermischung aus Maschine und Mensch, die über ein- und ausgehende Schläuche eine ungewöhnlich konkrete Verbindung offenlegt, Plastizität und mit Glück Verständnis.

Hanging (Detail) von Aya Ben Ron, 2001-2003 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Hanging (Detail) von Aya Ben Ron, 2001-2003
Foto: Foto: © 2011 by Schattenblick

Diese Verbindung ist es allerdings nicht allein, die den Menschen im Wachkoma lebend erhält, sondern im vorderen Rang der menschliche Kontakt, der überwacht, pflegt und betreut. Dieser kann nicht von üblichen Kommunikationswünschen und -vorstellungen getragen werden, sondern fordert auf andere Weise heraus. Das Zusammenspiel von konstanter Pflegetätigkeit und medizinischer Betreuung läßt dabei jeden moralischen Streifzug durch ethische Grundfeste menschlichen Daseins umschweifig erscheinen.

Mit dem Filmtitel SHIFT dokumentiert die Künstlerin im wörtlichen Sinn die Schicht, in der das medizinische Personal des Reut Medical Center in Tel Aviv den alltäglichen Pflegebedarf bewältigt und deutet gleichzeitig im erweiterten Wortsinn auf den unwägbaren Zwischenzustand, in dem sich Patienten mit schweren, neurologischen Hirnschädigungen aufhalten. Wechselschicht meint auch den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wachkomapatienten und ihren Pflegekräften, denn Schichtende heißt für diese, aus dem Kreis der Betteintönigkeit zu entkommen - bis zur nächsten Schicht. Der Patient jedoch bleibt perspektivisch lebenslang in der Ödnis eingeschränkter Abläufe. Auf diese Weise wird nach gängiger Sicht die Daseinsform von Wachkomapatienten klassifiziert. Vertraute Perspektiven, die unsere überlebensdynamisierten Bewertungsgrundlagen nahelegen, veranlassen den Betrachter, seine so unangefochten privilegierte Außensicht beizubehalten, wenn er einen Menschen vor sich hat, der für ihn nur noch eine auf das Vegetative beschränkte Individuation darstellt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Wachkoma - wie lebenswert kann ein solcher Zustand sein? -, wird tendenziell vermieden, effektive Fragestellungen nach Fragilität und Kontrollmangel der eigenen Körperlichkeit ins Augenmaß zu nehmen.

Wachkomapatient im Bett liegend - In einer eigenen Welt? - Foto: © 2011 by Schattenblick

In einer eigenen Welt?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Aya Ben Ron erzählt vor der Filmvorstellung von den Berührungsängsten der Angehörigen mit der Kamera. Die Gesichter der Menschen im Wachkoma sollten nicht zum Filmen freigegeben werden, was bei der Kamerainstallation jeweils berücksichtigt werden mußte. Im Verlauf des 18-monatigen Drehs wurden sie jedoch mit Aya Ben Ron und der Situation so vertraut, daß sich die anfängliche Scheu vor einer Zurschaustellung umkehrte und das Filmen der Gesichter der Patienten von den Angehörigen ausdrücklich gewünscht wurde. Die Künstlerin berichtet in dem Zusammenhang auch von der erforderlichen Beharrlichkeit, um überhaupt eine Drehgenehmigung zu bekommen. Drei Monate habe sie darum gerungen, interne Interaktionen zwischen Ärzten, Krankenpflegern, Physiotherapeuten, Tier- und Musiktherapeuten mit ihren Patienten im Medical Center filmen zu dürfen.

Der Film vermittelt etwas von der Intimität zwischen Pflegepersonal und Patienten, von ihren Bemühungen um Kontakt und Wohlbefinden der ihnen Anvertrauten bei ihren täglichen Hebe-, Umbettungs- und bewegungsanimierenden Handgriffen. Es wird gezeigt, wie mit passiver Gymnastik Gelenke und Gliedmaßen bewegt werden, wie ein Hund oder Kaninchen, deren Fell von den Patienten angefaßt und gestreichelt wird, taktile Nähe zu lebendigen Wesen vermitteln, deren Ansprüche nicht auf einer verbalbasierenden Begegnung zwischen Menschen beruhen. Die Pfleger zeigen beim Heben und Wenden (SHIFT!) der Patienten ein beherztes Zupacken, was eher den Eindruck von Sicherheit, ja sogar Leichtgängigkeit vermittelt, als daß es grob wirken würde. Zwischendrin hört man den munteren Plauderton eines Pflegers, der sich auf einseitiges Sprechen eingestellt hat, ja sogar Lachen, als würde er mit sich selbst scherzen. Eine gewisse atmosphärische Heiterkeit verbreitet sich, und der medizinische Apparat in seiner allgegenwärtigen Präsenz tritt dabei sogar ein wenig in den Hintergrund. Auditiv werden Patienten durch Geräusche und Laute animiert, indem man ihnen Armbänder mit Schellen und kleinen Glocken um ihr Handgelenk legt und sie bewegt.

Die Filmemacherin Aya Ben Ron - Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Filmemacherin Aya Ben Ron
Foto: © 2011 by Schattenblick
Im Zuge der Dreharbeiten entstand für Aya Ben Ron und ihr Filmteam ein differenziertes Verhältnis zu Patienten und Pflegern. Im täglichen Umgang verwandelte sich eine zu Anfang bestehende Scheu der Pfleger, während der Betreuung gefilmt zu werden, unter dem beobachtenden Interesse des Filmteams in den Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung für die eigene Arbeit. Die Filmemacherin achtete darauf, daß das Kamerateam szenisch immer im Hintergrund blieb. Es war wichtig, resumiert Aya Ben Ron vor kleinem, sichtbar interessiertem Publikum, während der Dokumentationsarbeit beharrlich und aufmerksam zu bleiben, da im Gegensatz zu gewöhnlichen Dreharbeiten an diesem Ort keine Ereignisse stattfinden, denen es gälte "hinterherzujagen". Obwohl es keine Kommunikation im üblichen Sinne gab, konnte man nach einer Weile eine ganz spezifische Form zu antworten erkennen, an der abzulesen war, wie es den Patienten ging, ob sie sich wohlfühlten oder nicht.

Die Priorität lag nicht darauf, berichtet Aya Ben Ron, nach den persönlichen Geschichten der Patienten zu fragen - was passiert ist, warum sie da sind -, es sei denn, die Angehörigen wollten es erzählen. Ihr Anliegen war es, die Menschen in ihrer besonderen Situation zu zeigen und keine Fallbeispiele zu dokumentieren, obwohl es das Drehen leichter gemacht hätte angesichts der ungebrochen monotonen Szenerie.

Den Ton habe sie manipuliert, erklärt die Filmemacherin, weil es im Krankenhaus wirklich sehr laut sei bei all den Monitoren und Maschinen. Auch gäben die Patienten Geräusche von sich, die sehr mühevoll und mißlich seien, was das Zuschauen unmöglich mache. So hätte sie sich entschieden, die Geräusche auf ein Minimum zu reduzieren mit dem Ergebnis, eher eine Art von Interpretation und Reflexion über die Patienten wiederzugeben und nicht die Realität.

Mit dieser Anpassung der Geräuschkulisse weist die Arbeit von Aya Ben Ron allerdings auf einen wunden Punkt. Die Intimität der ansonsten ungeschützten Menschen nicht zu verletzen, könnte man als selbstverständliches Ansinnen der Filmemacherin nachvollziehen. Der Auftrag an den Sounddesigner, unkontrollierte Geräusche, die bei Hirngeschädigten als einzige Lebenslautäußerung übrig bleiben, zu beschneiden, bedeutet aber auch eine Auslassung, mit der die Künstlerin ihre Vision von Wachkomarealität auf eine Distanz bringt, die eine allgemeine Verträglichkeit zum Maßstab macht. Zu wessen Vorteil die Künstlerin so entschieden hat, bleibt der Spekulation überlassen.


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)

20. Mai 2011