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BERICHT/002: Fest der Poesie - Zur Eröffnung von "Poesie in die Stadt 2009" in Hamburg (SB)


Fest der Poesie - Zur Eröffnung von "Poesie in die Stadt 2009" am 07.07.2009 in Hamburg


Das Netzwerk literaturhaus.net hatte zu einem Abend, der im Zeichen zeitgenössischer Kultur Chinas stehen sollte, ins Levantehaus in der Hamburger Mönckebergstraße eingeladen. Neben einer Lyrik-Lesung mit dem Schauspieler Marek Harloff und einem Gespräch des chinesischen Lyrikers Xi Chuan mit seinem Übersetzer, dem Sinologen Marc Hermann, standen die musikalische Begleitung durch George Lindt, Kenner der chinesischen Musikszene und selbst Autor, Filmemacher und Labelbetreiber, alias DJ Fly Fast, sowie ein bunter Rahmen mit Darbietung asiatischer Köstlichkeiten durch das Levantehaus auf dem Programm.

Foto: © 2009 by Schattenblick

Foto: © 2009 by Schattenblick

Der Lyriker Xi Chuan, geboren 1963 in Xuzhou (Provinz Jiangsu), lebt in Beijing. Nach dem Englisch-Studium arbeitete er zunächst als Redakteur und war Gastprofessor in den USA, heute unterrichtet er Klassische Chinesische Literatur an der Zentralakademie der Schönen Künste in Beijing. Xi Chuan hat mehrere Literaturmagazine gegründet, die mit der Zensur konfrontiert waren. Nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 und dem Selbstmord seines Dichterfreundes Hai Zi wandte er sich von seiner ursprünglich klassizistischen Kunstauffassung ab. Er ist bekannt für seine langen Prosa-Dichtungen, in denen er sich dem Absurden der Existenz zuwendet.

Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte ein Sprecher erst einmal das Publikum und stellte das in den Sommermonaten Juli und August durch die mittlerweile 11 Literaturhäuser in Berlin, Frankfurt, Graz, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Rostock, Salzburg, Stuttgart und Zürich betriebene Projekt "Literaturhaus bringt Poesie in die Stadt" vor. Während dieser zwei Monate werden auf öffentlichen Werbeflächen Plakatmotive mit chinesischen Gedichten mit deutscher Übersetzung zu sehen sein. Das Projekt startete 1999 in Hamburg und wurde später von weiteren Literaturhäusern aufgegriffen. Seit einigen Jahren finden in Hamburg die Veranstaltungen im Levantehaus statt. Ein Dankeschön richtete der Sprecher an die Robert Bosch Stiftung, den Medienpartner ARTE und das Levantehaus. Im Folgenden begrüßte er und stellte gleichzeitig mit kurzen Informationen dem Publikum vor:

Xi Chuan, der für das Projekt eingeladen wurde, um für die Plakatmotive Gedichte bedeutender Gegenwartsautoren Chinas auszuwählen und diese neben einer Auswahl seiner eigenen nun vorzustellen.
Rebecca Chan, Übersetzerin des Gesprächs zwischen Xi Chuan und Marc Hermann.
Marc Hermann, der auch ein bißchen moderieren würde. Kurz eingefügt wurde der Hinweis, daß eine Auswahl der chinesischen Gedichte unter der Regie von Torsten Feuerstein im Berliner Label Fly Fast von bekannten deutschen Schauspielern eingesprochen wurde und als Hörbuch mit dem Titel "Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe" auf der Frankfurter Buchmesse, deren Ehrengast China in diesem Jahr ist, erscheinen wird.
Marek Harloff, als Schauspieler und Synchronsprecher bekannt, der auch zu oben genanntem Hörbuch beigetragen hat.
George Lindt, alias DJ Fly Fast.

Mit dem weiteren Hinweis auf die Verfügbarkeit aller Plakatmotive als e-Cards auf der Website von ARTE und einem Dank fürs Kommen auch an das Publikum wurde die Lesung eröffnet.

v.l.n.r.: Rebecca Chan, Xi Chuan, Marc Hermann und Marek Harloff

v.l.n.r.: Rebecca Chan, Xi Chuan, Marc Hermann und Marek Harloff

Foto: © 2009 by Schattenblick

Xi Chuan las nun sein Gedicht "Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe" im chinesischen Original vor. In der direkten deutschen Übersetzung vorgetragen von Marek Harloff traf es mit diesen Worten auf ein neugieriges Publikum:

Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe

Kaum auf die Autobahn gefahren, begehe ich ein Massaker an den Schmetterlingen; oder diese stürzen sich, kaum sehen sie mich kommen, aus freien Stücken in den Tod. Sie zerschmettern an der Windschutzscheibe. Ausgerechnet an meiner Windschutzscheibe. Einer nach dem andern sterben sie, verwandeln sich in Tropfen, in gelbe Kleckse, die der Scheibenwischer nicht entfernt. Notgedrungen halte ich an, teils um ihnen mein Beileid zu bezeugen, teils um den Moment, an dem ich meine Schuld begleiche, hinauszuzögern. Aber sofort kommt die Polizei, kontrolliert meine Papiere, erteilt mir einen Strafzettel und befiehlt mir, unverzüglich meine Fahrt fortzusetzen, da das Anhalten auf der Autobahn verboten sei. Unverzüglich zerschmettern so noch mehr Schmetterlinge an meiner Windschutzscheibe.


Darüber hinaus trug Marek Harloff noch ein weiteres Gedicht aus dem Repertoire von Xi Chuan vor:

Zweierlei Vergehen

Ein dringendes Bedürfnis treibt mich aufs erstbeste stille Örtchen. Erst danach, als mich ein wohliger Schauer der Erleichterung durchrieselt, blicke ich mich um - ich stehe in einer öffentlichen Toilette ohne Trennwände - und finde - aber wie ist das möglich? - zu meiner Rechten und zu meiner Linken je ein Mädchen, das im Stehen pinkelt. Der Anblick dieser Amazonen versetzt mich in Erstaunen: Was für ein unerhört kühner Widerstand gegen die Pinkeltradition ihres Geschlechts! Gerade will ich ihren Mut loben, da kehren sie eilig ihre gute Kinderstube hervor. Von nebenan rufen sie ein paar Männer herbei, die mich aufs Polizeirevier bringen. Mit der Majestät des Schurken überquere ich die Straße. Ich frage den Polizisten, welches Vergehen das größere sei: mein versehentliches Betreten der Damentoilette oder das Urinieren der Frauen im Stehen. Unfähig, diese scharfsinnige Frage zu beantworten, lässt der Polizist mich gehen.


Nach dieser beispielhaften Einstimmung gab Marc Hermann den Zuhörern eine kurze Einführung in die chinesische Lyrik. Unter zeitgenössischer chinesischer Lyrik versteht man im Westen meist die hermetische Lyrik, welche nun aber nicht mehr zeitgenössisch ist. Xi Chuans Auswahl der Gedichte sollte die Weiterentwicklung der Lyrik zeigen. Hermann veranschaulichte, wie zur Zeit der Kulturrevolution eine regelrechte Kulturwüste herrschte und durch den folgenden Hunger auf Kultur viele Leute begannen selbst zu schreiben und sich dann Mitte der 80er Jahre die sogenannte Posthermetik entwickelte, in der auch, im Gegensatz zur Hermetik, Ironie und Witz zu finden waren.

Im Gespräch nannte Xi Chuan die 80er Jahre das Jahrzehnt der Aufklärung und betonte auch den Einfluß westlicher Kultur auf China nach der Kulturrevolution. Mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 fand dieses aufklärende Jahrzehnt sein Ende. Dieses Jahr bedeutete durch den Verlust von zwei Freunden für Xi Chuan ebenfalls eine Zäsur. (Werke von einem dieser Freunde, Hai Zi, werden auf dem bereits erwähnten Hörbuch erscheinen.) Dann zu Zeiten der Reformpolitik in den 90er Jahren, noch unter Deng Xiaoping, mussten Dichter weitere Einschränkungen hinnehmen. Xi Chuan sagte, das Ziel in den 80er Jahren war, ein guter Dichter zu sein. In den 90er Jahren wäre er ganz gerne einfach ein Dichter oder ein schlechter Dichter gewesen.

Marc Hermann stellte nun zwei Dichter vor, die damals ihre eigene Literaturzeitschrift gegründet hatten und der umgangssprachlichen Richtung zuzuordnen sind. Die Werke von Han Dong und Yu Jian (geb. 1954, wohnhaft in Yunnan) wurden von Marek Harloff vorgetragen.

Bei der Aussage einiger Gedichte liegt die Frage der Zensur auf der Hand. Marc Hermann stellte Xi Chuan die Frage danach. Xi Chuan erklärte, daß China ein großes Land sei und wenn man in Peking ein Buch nicht veröffentlichen dürfe, vielleicht in Kanton oder Chengdu die Möglichkeit dazu bekäme. Früher gab es eine zeitlang die Tradition Untergrundpublikationen in Form von Kleinmagazinen, die per Post versandt wurden, herauszubringen. Heutzutage tendieren viele jüngere Leute dazu ihre Werke durch das Internet zu veröffentlichen. Noch einmal sprach Hermann den Hunger nach Kultur Ende der 70er und in den 80er Jahren an und fragte nach der Wichtigkeit der westlichen Lyrik in China heute. Xi Chuan machte anhand von Beispielen klar, daß in China das Interesse an ausländischer Literatur groß ist. Dieses Interesse besteht schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts. In einer Buchhandlung in Peking oder Shanghai könne man fast alle bedeutenden westlichen Werke finden. Umgekehrt verhält es sich anders. Wenn jährlich circa 100 Werke aus dem Amerikanischen ins Chinesische übersetzt werden, sind es gerade mal zwei, die aus dem Chinesischen ins Amerikanische, beziehungsweise Englische übersetzt werden.

Als nächstes wurden die zwei jüngsten Künstler aus Xi Chuans Auswahl vorgestellt, Yin Lichuan, die ihre Texte zuerst im Internet veröffentlicht, heute Filme dreht und Yan Jun, der gerne multimedial arbeitet, beide Jahrgang 1973. Gelesen wurden die Gedichte wieder engagiert von Marek Harloff.

Abschließend wies Marc Hermann auf den Sinn für das Absurde, Paradoxe und Ironische in Xi Chuans Werken hin. Ein Kritiker hatte einmal gesagt, man hätte das Gefühl, Xi Chuan gibt einem den Schlüssel zum Verständnis des Textes an die Hand, aber im nächsten Moment findet man das Schloß schon wieder ausgetauscht. Drei Gedichte trug Marek Harloff vor, das letzte zusammen mit Xi Chuan im deutsch-chinesischen Wechselspiel. Marc Hermann bedankte sich beim Publikum für die Aufmerksamkeit und noch einmal bei den Mitwirkenden Marek Harloff, Rebecca Chan (die alle Fragen an und Antworten von Xi Chuan bestens übersetzte) und Xi Chuan, der sich wiederum bei Marc Hermann bedankte.

Foto: © 2009 by Schattenblick

Foto: © 2009 by Schattenblick

Im Anschluß spielte George Lindt (alias DJ Fly Fast) unter anderem Musik seines eigenen Labels wie zum Beispiel vom Soundtrack zum Dokumentarfilm "Beijing Bubbles - Punk and Rock in China's Capital".
Kleine Köstlichkeiten in Griffhöhe servierte den Zuhörern das freundliche Personal des Hauses, so daß ein interessanter und lehrreicher Abend wohlschmeckend abgerundet wurde.

Die Aktion "Literaturhaus bringt Poesie in die Stadt" 2009
mit chinesischer Lyrik ist eine Initiative des Netzwerks der
Literaturhäuser literaturhaus.net und der Robert Bosch Stiftung.

Weitere Informationen zum Projekt:
http://www.literaturhaus.net/projekte/poesie/2009/index.htm

13. Juli 2009