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PROFIL/081: Vor 50 Jahren starb Ernest Hemingway (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011

Wahrheit und Legende
Vor 50 Jahren starb Ernest Hemingway

Von Hanjo Kesting


Zu Lebzeiten genoss er den größtmöglichen Schriftstellerruhm (und es gab trotz Joyce, Pasternak und Thomas Mann keinen größeren). Dieser Ruhm war nicht auf die Kreise von Literaten und Literaturliebhabern beschränkt. Man kannte Hemingway in allen Ländern, in allen Schichten, und allerorten wusste man, dass sein größtes Kunstwerk sein Leben war. Zuletzt konnte er sein prägnantes Konterfei für eine Whiskyreklame verleihen: "Bildnis eines Trinkfesten mit graumeliertem Haar". Doch vor 50 Jahren, am 2. Juli 1961, setzte er seinem Leben selber ein Ende.


Ernest Hemingway hat die shortstory, die spezifisch amerikanische Gattung der Kurzgeschichte, so nachhaltig geprägt wie kein anderer Autor. Größeren Ruhm erwarb er sich zwar durch seine Romane, aber es sind vor allem die Kurzgeschichten, die ihm für immer einen hervorragenden Platz in der Literaturgeschichte sichern. "Diese Geschichten sind exemplarisch", schrieb Alfred Andersch, "und sie erklären den magischen Einfluss, den der Mann ausgeübt hat, und den man höchstens mit der Wirkung Hamsuns vergleichen kann."

Hemingway wurde 1899 in Oak Park im Staate Illinois geboren; er war der Sohn eines Arztes, mit dem er oft zur Jagd und auf Fischfang ging - Motive, die in seinem Werk bis zuletzt ihre Spuren hinterlassen haben. Nach Abschluss der High School wurde er Reporter beim Kansas City Star, zog bald darauf in den Ersten Weltkrieg, in dem er 1918 als Ambulanzfahrer an der italienischen Front schwer verletzt wurde. Nach Ende des Krieges arbeitete er wieder als Zeitungskorrespondent und verbrachte die meiste Zeit in Paris im Kreis um die Schriftstellerin Gertrude Stein. Die frühen Fotos zeigen einen hageren Soldaten in italienischer Uniform, über dem Kragenbund ein großes, glatt rasiertes, etwas weiches Gesicht. In den 20er Jahren verschwindet der Uniformkragen, und ein dichter und dunkler Schnurrbart beginnt das weiche Gesicht zu verdecken. Damals entstanden seine ersten literarischen Versuche - meist Kurzgeschichten, die unter dem Titel In Our Time zwischen 1923 und 1925 erschienen.


Die hoffnungslose Generation

Berühmt wurde Hemingway ein Jahr später mit dem Roman The Sun Also Rises (deutsch: Fiesta): sein größter Schritt auf der Stufenleiter des Erfolgs. Das Buch löste eine Welle der Begeisterung und Nachahmung aus, wie anderthalb Jahrhunderte zuvor Goethes Werther. In der amerikanischen Zeitschrift Harper's nannte es Richmond Barrett "eine neue Bibel" gerade für junge Leser: "Sie verlassen ihre Familien und laufen aus der Schule weg ... Sie schiffen sich nach Paris ein und wollen unter den Markisen des Dôme und der Rotonde und der anderen Straßencafés Jünger des neuen Glaubens werden." Tatsächlich wurde Fiesta an den Universitäten und Colleges zum Kultbuch. Aus New Haven in Connecticut berichtete Thornton Wilder, dass die Studenten von Yale überaus von dem Roman eingenommen seien, und in New York, so Malcom Cowley, "versuchten die jungen Frauen, Lady Brett nachzueifern". Auch die literarische Kritik war überwiegend positiv. Die Herald Tribune schrieb: "Wenn man sich die Reizlosigkeit, um nicht zu sagen Unerquicklichkeit der Szenerie und die Ruchlosigkeit der Leute vor Augen hält, erstaunt man um so mehr darüber, eine welch bewegende Geschichte Mr. Hemingway daraus gemacht hat. Diese Leute existieren wirklich, punktum. Und wenn ihre Geschichte unerquicklich ist, so ist sie doch auch, kraft der Würde des Autors und seiner distanzierten Erzählweise, von erschütternder Tragik."

"Ihr gehört alle einer hoffnungslosen Generation an": Dieser Satz von Gertrude Stein steht als Motto über dem Buch. Es zeigt, obwohl niemals direkt davon die Rede ist, eine durch den Ersten Weltkrieg bis in den Grund erschütterte, ja zerstörte Welt. Ihre sozialen Bindungen sind zerbrochen, ihre Ideen nicht mehr tragfähig, sie bieten keinen Schutz, geben keine Orientierung, auch wenn äußerlich alles normal weiterzugehen scheint. In Menschen wie Jake Barnes - so heißt der Ich-Erzähler des Romans Fiesta - ist eine Störung eingetreten, die die Rückkehr in die alte Ordnung unmöglich macht. Sie mögen, wie der Autor, gesellige Naturen sein, viele Bekannte und Freunde haben, im Grunde sind sie allein und einsam, wie alle Hemingwayschen Helden, die sich nur geborgen fühlen, wenn die Welt hinter ihnen liegt und sie in der Einsamkeit angeln können, wie Nick Adams, der Held von Hemingways Geschichte "Großer doppelherziger Strom".

Sie erschien 1925 in der Sammlung In unserer Zeit, die 15 shortstories enthielt - in acht von ihnen ist der junge Nick Adams die unverkennbar autobiografisch geprägte Hauptfigur: wie Hemingway Sohn eines Arztes, aufgewachsen im Wald- und Seengebiet von Michigan, im Krieg an der italienischen Front verwundet. "Großer doppelherziger Strom" ist berühmt geworden als Beschreibung der Landschaft am Lake Superior und als Schilderung der beinahe rituellen Gebräuche des Fischfangs. Hemingway hat sich noch 25 Jahre später darüber beklagt, dass niemand die Geschichte verstanden habe: die Studie über einen jungen Mann, "der im Krieg verletzt wurde, der ganz allein zum Fischen geht, der vor allen flieht. Er leidet an etwas, das man 'Schock durch Trommelfeuer' zu nennen pflegte; er versucht verzweifelt, den Verstand nicht zu verlieren." Das alles wird beschrieben in einer strengen, nüchternen Prosa von kunstvoller Einfachheit, unter Verzicht auf jegliche Ornamentik und ambitionierten Stil, bemüht um harte Gegenständlichkeit.


Der weltweite Alleinunterhalter

Bei Hemingway geht es fast immer darum, den Schock der Kriegserlebnisse durch gewalttätige Ersatzhandlungen zu bannen. Dazu gehören auch Jagd und Stierkampf, die er in späteren Büchern verherrlicht hat: etwa in Tod am Nachmittag oder Die grünen Hügel Afrikas. 1940 erschien Wem die Stunde schlägt, ein Roman aus dem Spanischen Bürgerkrieg, an dem Hemingway auf republikanischer Seite teilnahm. Der junge Wolfgang Koeppen, der Hemingway zu dieser Zeit in Paris kennenlernte, hat ihn so beschrieben: "Er trug damals noch den Schnurrbart des Berufscharmeurs, die Lippenfliege eines melancholischen Heiratsschwindlers, er wirkte etwas schwer, wie ein Mann, der täglich eine halbe Stunde am Sandsack arbeitet, um etwas Fett loszuwerden, er fühlte sich als der ausgenützte Alleinunterhalter eines weltweiten stumpfsinnigen Barauditoriums." Damals kannte bereits jeder Hemingways Namen und sein Bild. Die meisten Bilder zeigen ihn lächelnd, das Porträt eines modernen Schriftstellers, verdächtig ungenial. Hemingway versieht sein Porträt in der Zeit, in der sein Ruhm zu wachsen beginnt, mit Versatzstücken einer mondänen, weltmännischen, sehr männlichen Forschheit. Er lässt sich neben einem toten Büffel, einem erlegten Löwen fotografieren, später neben riesigen Fischen, die zur Schau aufgehängt sind. Ende der 30er Jahre legt er sich einen Vollbart zu. Im Zweiten Weltkrieg erscheint er mit Militärkäppi und einer sonderbaren Drahtbrille, die an den Kriegsheimkehrer Beckmann in Draußen vor der Tür erinnert. Sein Bart wird grau, dann weiß. Das sind die Bilder des 50-Jährigen, die um die ganze Welt gehen.

Mit Der alte Mann und das Meer, seinem letzten vollendeten Werk, schrieb Hemingway, der damals erst 53 Jahre alt war, noch einmal ein sensationell erfolgreiches und weltweit verbreitetes Buch. Eine Art Vorstudie, in der vom Kampf eines alten Fischers mit einem riesigen Fisch erzählt wird, hatte Hemingway 1936 unter dem Titel "Auf dem blauen Wasser" veröffentlicht. Das eigentliche Vorbild ist 100 Jahre älter: Melvilles Roman vom weißen Wal Moby Dick, das größte Buch der amerikanischen Literatur. Vielleicht wollte Hemingway, als er seine Erzählung in nur zehn Wochen fast ohne Korrekturen niederschrieb, mit Melville wetteifern; die posthume Rivalität würde einige despektierliche Bemerkungen über den Verfasser des Moby Dick erklären, den er gleichwohl nicht zu erreichen, geschweige zu überbieten vermochte. Hemingways Erzählung ist ein Meisterwerk von bescheidenerer Dimension. Es trug wesentlich dazu bei, dass dem Autor 1954 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde.

Trotzdem sind die frühen Kurzgeschichten Hemingways wichtigster Beitrag zur Literatur des 20. Jahrhunderts: die 49 Stories, die unter eben diesem Titel gesammelt erschienen. Ihr knapper, lakonischer Stil war eine unentbehrliche Schule für die jüngeren Schriftsteller, auch wenn sich dieser Stil bald wie eine epidemische Krankheit ausbreitete. "Es gab eine Zeit, da war Hemingway für mich und für viele meiner Altersgenossen ein Gott", schrieb der italienische Schriftsteller Italo Calvino. "Was wir von ihm lernten, war die offene und großzügige Haltung, der praktische, technische und moralische Einsatz für die Dinge, die getan werden müssen, der klare Blick, die Weigerung, sich selbst zu erforschen und zu bemitleiden, die Bereitschaft, eine Lektion des Lebens oder den Wert einer Person in einem rasch hingeworfenen Satz oder einer Geste zu erfassen. Vor allem aber hat er einen Stil entwickelt, der seine Lebensauffassung vollendet zum Ausdruck bringt, eine Sprache bar aller Geschwätzigkeit und allen Bombasts, die klarste realistische Sprache der modernen Prosa."


Idol mehrerer Generationen

Mit historischer Verspätung entfaltete sich Hemingways Wirkung auch in Deutschland. Er lieferte das Modell für Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Andersch und Siegfried Lenz, vor allem mit seinen Kurzgeschichten. "Mein Vorbild Hemingway" hieß 1966 ein Aufsatz von Siegfried Lenz, worin er den Einfluss des amerikanischen Vorbilds bis hin zur Abhängigkeit eingestand: "Jede eigene Erfahrung musste ich durch eine Zollstation schmuggeln, an der Hemingway die Kontrollen vornahm: Er konfiszierte gleichmütig oder ließ achselzuckend passieren; so entschieden hatte ich ihn als Vorbild anerkannt."

Hemingway wurde zum Idol gleich von mehreren Generationen von Autoren, in den 20er bis 40er und noch in den 50er Jahren. Damals gab er ein Interview für die Zeitschrift The New Yorker und strich darin seinen literarischen Rang heraus: "Ich bin ein merkwürdiger alter Mann. Ich habe ganz in der Stille angefangen und zunächst einmal Mister Turgenjew geschlagen. Dann habe ich hart trainiert und schlug Monsieur Maupassant. Dann habe ich zwei Runden mit Monsieur Stendhal gehabt, die zweite, glaub ich, war für mich." Er fügte hinzu: "Aber ich bin nicht so verrückt, mit Mister Tolstoi in den Ring zu gehen. Da müßte ich schon noch ein Stück besser werden. - Es macht Spaß, mit fünfzig seinen Titel noch einmal zu verteidigen. Ich bin niemals unter 'Genie' gelaufen, aber ich nehme es mit allen den guten Jungen auf, die neu dazugekommen sind." "Als er dies sagte", schreibt die Interviewpartnerin, "senkte er den Kopf, setzte den linken Fuß vor und schlug einen linken, dann einen rechten Haken in die Luft." "Die Hauptsache", fuhr er fort, "dass man sich nicht 'anschlagen' lässt."

Welch ein Leben! Hemingway überstand zwei Weltkriege, den Spanischen Bürgerkrieg, Revolutionen, Verwundungen, Autounfälle, Flugzeugabstürze, Stierkämpfe, Scheidungen, Krankheiten, gleich mehrere literarische Generationen, sogar den Nobelpreis, und, wie Wolfgang Koeppen schrieb, "sein Tod wartete wie in der Parabel vom Gärtner des persischen Königs geduldig in Sun Valley auf ihn". Es war ein Tod von eigener Hand, der das Leben des Erfolgreichsten der verlorenen Generation tragisch-ironisch krönte und beschloss. Koeppen hat noch hinzugefügt: "Er bewegte sich gerne zu den Grenzen des Lebens hin. Wie die Stierkämpfer suchte er die Minute der Wahrheit. Aus Todesnähe und Todeserfahrung, aus Todesgedanken und Todesfurcht schuf er sein so einschlagendes, von den meisten als Lebenslust empfundenes Werk. Wie Stendhal verschrieb sich Hemingway der Wahrheit. Was er erreichte, war Legende."


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011, S. 95-99
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2011