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FILMKRITIK/005: Buenos Aires 1977 - Chronik einer Flucht (SB)


Vorfeldmanöver der heute perfektionierten Repression




"Buenos Aires 1977" führt uns zurück in eine Zeit, in der Folter noch als Inbegriff von Unmenschlichkeit galt. Eine bessere Zeit war es nicht, denn es herrschte Diktatur und die Folterkeller wurden niemals leer. Doch wer meint, es gelte eine finstere Vergangenheit zu bewältigen, um die lichte Gegenwart geläutert und versöhnt zu genießen, sitzt einem verhängnisvollen Irrtum auf. Wer die Jahre der Militärjunta studiert und sich nicht mit wohlfeilen Erklärungsmustern zufrieden gibt, wird darauf stoßen, daß man den damaligen Schub gesellschaftlicher Repression als Vorfeldmanöver der heutigen Entwicklung begreifen kann. Die Diktatur Argentiniens und anderer lateinamerikanischer Länder war weder ein Ausrutscher der Menschheitsgeschichte, noch das Zufallsprodukt einer historischen Gemengelage, sondern eine in wesentlichen Teilen strategisch in Stellung gebrachte Etappe der Herrschaftssicherung. Da wir heute in einer Zeit leben, in der Folter und zahlreiche andere Formen innovativer Verfügungsgewalt weithin für selbstverständlich erachtet und keines grundsätzlichen Einwands mehr gewürdigt werden, mag es um so wichtiger sein, sich mit einer früheren Entwicklungsstufe des Gewaltapparats auseinanderzusetzen, in der sich Menschen noch dagegen aufgelehnt haben.

Wenn heute in den Ländern Südamerikas die Bereitschaft wächst, sich mit diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte zu befassen, ist dies nicht zuletzt dem Zweck geschuldet, die nicht minder verheerende Gegenwart zu verschleiern. Die Greuel der Juntazeit mögen Vergangenheit sein, doch die Verelendung weiter Bevölkerungsteile ist gewachsen, Hunger, Krankheit und früher Tod bestimmen die Lebensverhältnisse in zunehmendem Maße. Nicht von ungefähr findet die Aufarbeitung dieser Greuel unter dem Vorzeichen einer Aussöhnung statt, die dazu geeignet ist, aktuelle Widersprüche auszublenden.

Lange herrschte in Argentinien die Auffassung vor, man solle die Vergangenheit besser ruhen lassen, um alte Wunden nicht wieder aufzureißen. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren führte jedoch dazu, daß sich das gesellschaftliche Klima in dieser Frage änderte. So haben die Opfer des Regimes und ihre Angehörigen den Kampf um Aufklärung und Sühne der Greuel nie aufgegeben. Zudem ist eine Generation, die in Teilen zu den Verfolgten der Juntazeit gehörte, in Ämter und Positionen nachgerückt. Ende der 1990er Jahre wurden vielerorts "Wahrheitstribunale" abgehalten, bei denen man Zeugenaussagen sammelte und Täter beim Namen nannte. Damals durften die Gerichte die Menschenrechtsverletzungen jedoch nur ermitteln und dokumentieren, während Strafen angesichts der geltenden Amnestie kaum möglich waren. Dennoch wurden in dieser Zeit in tausenden Fällen von Entführung und Mord Ermittlungsakten angelegt, auf die die Justiz heute zurückgreifen kann.

Im Jahr 2001 befand ein argentinisches Bundesgericht, daß die Amnestiegesetze verfassungswidrig seien, und zwei Jahre später wurden sie vom Parlament außer Kraft gesetzt. Im Juni 2005 erklärte schließlich der Oberste Gerichtshof die Amnestiegesetze für verfassungswidrig, was von Präsident Néstor Kirchner, der selbst unter der Junta einige Zeit inhaftiert war, ausdrücklich begrüßt wurde. Damit war der Weg frei, Menschenrechtsverletzuungen der Juntazeit zu ahnden. Seither haben argentinische Gerichte mehr als 1.000 Fälle wiederaufgenommen. Gegenwärtig befinden sich über 200 ehemalige Repressionskräfte in Haft, wobei die meisten aus Altersgründen unter Hausarrest stehen.

Im Jahr 1973 kehrte Juan Domingo Perón auf Drängen María Estela de Peróns, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, aus dem Exil nach Argentinien zurück, wo er sofort wieder zum Präsidenten gewählt wurde. Alt und krank starb er jedoch bereits ein Jahr später im Juli 1974, worauf seine Frau, die unter dem Namen Isabel bekannt war und das Amt der Vizepräsidentin bekleidet hatte, ohne Wahl seine Nachfolge antrat. Es folgte eine kurze Periode zunehmend gewalttätiger Verhältnisse, bis das Militär am 24. März 1976 putschte und die Macht übernahm.

Dem Wüten der Junta in Argentinien, die das Land von 1976 bis 1983 mit eiserner Faust regierte, sind je nach Schätzung zwischen 11.000 und 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Nachdem das Militärregime im Gefolge der verheerenden Niederlage im Krieg um die Malvinas von einer demokratisch gewählten Regierung abgelöst worden war, hielt die Furcht vor einer Rückkehr der Junta noch lange an, was maßgeblich dazu beitrug, die beiden Amnestiegesetze "La Ley de Punto Final" (1986) und "La Ley de Obediencia Debida" (1987) auf den Weg zu bringen.

Die Militärjunta überzog das Land mit einer Welle der Repression und schuf ein Klima der Furcht und exzessiven Gewalt. Zahlreiche Menschen wurden verschleppt, gefoltert und getötet. Schon seit Jahrzehnten gibt es umfangreiche Berichte von Überlebenden aus den Folterkellern, die zweifelsfrei belegen, daß auch US-Amerikaner und Europäer bei der Tortur zugegen waren. Zudem ist die Zusammenarbeit ausländischer Konzerne mit der Junta zur Unterdrückung gewerkschaftlicher Arbeit dokumentiert. Von einer Enthüllung oder einem Skandal zu sprechen, wenn man weitere Details über die Urheber und Mitwisser der damaligen Greueltaten erfährt, wäre daher nachgerade absurd und gäbe der Propagandalüge neue Nahrung, man habe nichts gewußt.

So argumentierte man jahrzehntelang auch in Washington, wo die heutzutage unter Krokodilstränen zur Schau getragene Zerknirschung, man habe damals zu spät reagiert und zu lange geschwiegen, der dreisten Leugnung der eigenen Mittäterschaft die Krone aufsetzt. Keine drei Monate nach dem Putsch kam es am 10. Juni 1976 in Santiago de Chile zu einem Treffen zwischen US-Außenminister Henry Kissinger und seinem neuen argentinischen Amtskollegen Admiral César Augusto Guzzetti. Bei diesem Gespräch hinter verschlossenen Türen, dessen Protokoll inzwischen freigegeben und publiziert worden ist, gab Kissinger den argentinischen Militärs klare Signale, was man in Washington von ihnen erwartete. Als Admiral Guzzetti darüber klagte, daß man vor allem mit dem Problem des "Terrorismus" zu kämpfen habe, antwortete Kissinger: "Wir sind uns bewußt, daß Sie eine schwierige Periode zu bewältigen haben. Es ist eine merkwürdige Zeit, in der sich politische, kriminelle und terroristische Aktivitäten so vermischen, daß man sie nicht klar voneinander unterscheiden kann. Wir gehen davon aus, daß Sie die Autorität wiederherstellen müssen."

Kann man Folter als Kulmination gesellschaftlicher Repression überhaupt filmisch in Szene setzen, ohne den Zuschauer unweigerlich in die Immunreaktion panischen Entsetzens oder voyeristischen Konsums einer Blut- und Gewaltorgie zu treiben? Wenn überhaupt eine Annäherung möglich ist, die das Unvermittelbare nicht erträglich macht, jedoch die abgrundtiefe Auslieferung und Verlassenheit der Opfer gewissermaßen überbrückt, so ist das Regisseur Israel Adrián Caetano gelungen. Indem er den Akt der Folter allenfalls andeutet, macht er eine Auseinandersetzung mit den Qualen der Opfer und den Strategien ihrer Peiniger möglich, welche den physischen und psychischen Torturen dennoch nichts von ihrem Schrecken nimmt.

Die Angst in den Gesichtern der Gefangenen, ihre geschundenen Körper, das Gebrüll der Folterer und die gierige Brutalität der Sadisten, dazu der wiederholte Wechsel der Perspektive, die mitunter gleichsam durch die Augen der Täter und Opfer blicken läßt, zieht den Zuschauer immer tiefer in die Logik der Repression. Die perfide Spaltung in Schuldige und Unschuldige ergreift Besitz von den Häftlingen, die sich in ihrer Verzweiflung gegeneinander wenden. Die schwindende Hoffnung auf Entkommen klammert sich an jede Finte der Verhörspezialisten und bezichtigt zugleich die Mitgefangenen, durch Ungehorsam Strafe zu provozieren und die Freilassung zu verhindern.

Der Film basiert auf einem autobiographischen Bericht Claudio Tamburrinis, der auf Grund einer Denunziation in eine geheime Foltervilla verschleppt wurde, wo man ihm unter grausamen Qualen ein Geständnis abpressen wollte. Vergeblich versuchte er die Peiniger von seiner Unschuld zu überzeugen, bis er sich schließlich zu dem Schluß durchrang, daß es keinen Ausweg aus dieser Hölle gab und mit drei anderen Gefangenen nach 120 Tagen die Flucht ergriff. Alle vier entkamen, und zwei der Folteropfer sagten später in Verfahren gegen ihre Peiniger aus.

"Buenos Aires 1977" ist ein authentischer Bericht, indem er die Erfahrungen eines vom Regime verschleppten Opfers zu einer Dramaturgie verarbeitet, die den Zuschauer in den quälenden Bann zügelloser Gewalt und Erniedrigung schlägt und nicht zuletzt mit seiner eigenen Beteiligung an jener Ordnung konfrontiert, der auf so unerbittliche Weise zur Durchsetzung verholfen wird. So sei dieser Film all jenen empfohlen und ans Herz gelegt, denen es der Verödung des Denkens und Deformation kritischen Geistes zum Trotz noch immer zutiefst widerstrebt, sich an der Debatte zu beteiligen, unter welchen Umständen Folter zu tolerieren und legalisieren sei.


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Buenos Aires 1977 - Crónica de una fuga Argentinien 2006 103 Min. Regie: Israel Adrián Caetano Buch: Israel Adrián Caetano, Esteban Student, Julian Loyola Kamera: Julián Apezteguía Darsteller: Rodrigo de la Serna, Nazareno Casero, Pablo Echarri


6. November 2007