Spektrum 1/2016 - Universität Bayreuth
Forschendes Lernen
Die Universität Bayreuth - ein Innovationszentrum für das Bildungssystem
Von Franz X. Bogner und Volker Ulm
Welche wirksamen Strategien gibt es in Europa, um Innovationen nachhaltig in die Schule zu bringen? Dieser Frage ging 2007 eine Expertengruppe der Europäischen Kommission nach, um auf der Grundlage bestehender Erfahrungen Empfehlungen für eine europäische Bildungspolitik zu erarbeiten. Der daraus resultierende Rocard-Report entwickelte erheblichen Einfluss auf die Bildungspolitik in Europa. Explizit wurde darin das deutschlandweite Projekt 'SINUSTransfer' als Leuchtturmprojekt hervorgehoben. Dieses Projekt war als großer und langfristiger Innovationsprozess des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts angelegt. Die Leitung im Bereich der Mathematik lag bei der Universität Bayreuth: "Sinus-Transfer zeichnet sich durch ein langfristiges, in den Schulen durch Zusammenarbeit entwickeltes Konzept aus, das sich besonders auf das Lernen der Schüler konzentriert. Das Konzept behandelt didaktische Schwierigkeiten im naturwissenschaftlichen Unterricht und regt Lehrer zum Nachdenken und zur Bewertung des eigenen Unterrichts an, um dessen Qualität ständig zu verbessern. Eine starke Zusammenarbeit zwischen 0Lehrern der eigenen Schule und anderen Schulen sowie Forschern und Praktikern wird hergestellt. Sinus-Transfer hat sehr positive Ergebnisse gebracht."[1]
In der Folge förderte die Europäische Union eine ganze Reihe von Unterrichtsentwicklungsprojekten, vor allem an der Universität Bayreuth, die ähnliche Strukturmerkmale wie 'SINUS-Transfer' aufweisen sollten. Beispielsweise wurden oder werden die Projekte 'PATHWAY', 'KeyCoMath', 'CREATIONS' von Bayreuth aus koordiniert. In den Projekten 'Open Discovery Space', 'GreeNET' oder 'Inspiring Science Education' war bzw. ist die Universität Bayreuth federführender Workpackage-Leader.
Alle genannten EU-Projekte zielen darauf ab, innovative pädagogisch-didaktische Konzepte im Schulsystem zu verankern. Sie setzen auf "forschendes Lernen" - im Englischen: "Inquiry-based Science Education (IBSE)". Im Rocard-Report heißt es dazu: "Naturwissenschaftlicher Unterricht durch Inquiry-based Science Education ... hat sich in der Primar- und Sekundarstufe als wirksame Methode erwiesen, um das Interesse und den Kenntnisstand der Schüler zu steigern, und dabei gleichzeitig auch noch die Motivation der Lehrkräfte zu fördern." Der Bericht hebt hervor, dass forschendes Lernen bei schwachen wie bei starken Schülerinnen und Schülern erfolgreich und mit dem Streben nach Bestleistungen vereinbar sei. Zudem wirke es sich positiv auf das Interesse von Mädchen an den Naturwissenschaften aus. Forschendes Lernen und herkömmliche deduktive Unterrichtskonzepte schließen sich - so der Bericht - keineswegs aus und sollten daher im naturwissenschaftlichen Unterricht kombiniert werden, um unterschiedlichen Denkarten und Altersgruppen gerecht zu werden.[2]
Beim forschenden Lernen sind die Schülerinnen und Schüler in hohem Maße selbst aktiv. Sie arbeiten sich eigenständig und kooperativ in ein für sie unbekanntes Phänomen ein, das sie subjektiv als komplex wahrnehmen. Dabei geht es nicht um das Erlernen vorgegebener Fakten. Vielmehr wird der Lernprozess in ähnlicher Weise organisiert und strukturiert, wie es auch für universitäres Forschen charakteristisch ist. In der amerikanischen Literatur ist von den 5E die Rede: "Engage, Explore, Explain, Elaborate, Evaluate". Typische Phasen forschenden Lernens im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht sind daher:
Die Schlüsselpersonen für Innovationen des Unterrichts sind zweifelsohne die Lehrkräfte. Ihre Überzeugungen, Haltungen und professionellen Kompetenzen sind maßgeblich für den Unterricht und damit das individuelle Lernen der Schülerinnen und Schüler verantwortlich. Systematische, langfristig konzipierte Lehrerfortbildung hat daher in den erwähnten nationalen und internationalen Projekten der Universität Bayreuth eine zentrale Rolle.
Typischerweise werden für die Projektarbeit Netzwerke von Schulen gebildet, teilnehmende Lehrkräfte sind über einen längeren Zeitraum eingebunden. Die Lehrkräfte werden in regelmäßigen Treffen mit innovativen didaktischen Konzepten - wie zum Beispiel forschendem Lernen - vertraut gemacht. Eine Herausforderung besteht dabei darin, den Lehrkräften nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern ihre Handlungskompetenzen im Unterricht weiterzuentwickeln. Um diese Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, erarbeiten die Lehrkräfte im Fortbildungsnetzwerk kooperativ Unterrichtsmaterialien, mit denen sie innovative Konzepte in ihren Klassen im Unterricht umsetzen und erproben. Die dabei gewonnenen Erfahrungen werden im kollegialen Netzwerk ausgetauscht und reflektiert. Auf dieser Basis werden die Unterrichtsmaterialien und -konzepte gemeinsam überarbeitet und ggf. verbessert. Insgesamt dient das Arbeiten an und mit konkreten Unterrichtsmaterialien für den Schulalltag dazu,
Im Zuge der genannten europäischen Projekte war und ist die Universität Bayreuth gemeinsam mit zahlreichen europäischen Partnerinstitutionen Impulsgeber und Begleiter für Entwicklungsprozesse im Schulsystem.
Die universitätstypische Einheit von Forschung und Lehre gibt es an der Universität Bayreuth auch im Bereich der Lehrerbildung. Forschungsergebnisse finden unmittelbar Eingang in Lehrveranstaltungen, Seminare und Praktika werden direkt in aktuelle Forschungsprojekte eingebettet.
So ist beispielsweise das Schülerlabor zur Bio- und Gentechnik (Lehrstuhl Didaktik der Biologie) mit der Lehramtsausbildung gekoppelt. Basierend auf der Theorie des fachdidaktischen Wissens ist das Lehramtsmodul Lernen und Lehren im Lernort Labor mit dem Schülermodul Genetischer Fingerabdruck verknüpft.[3] Das Lehramtsmodul bereitet fachliches Vorwissen auf und setzt sich mit wesentlichen Komponenten des fachdidaktischen Lehrerwissens (Pedagogical Content Knowledge, PCK) auseinander - zum Beispiel mit bekannten, alternativen Schülervorstellungen.[4] Innerhalb einer Woche lernen Kleingruppen mit jeweils vier Studierenden innerhalb des innovativen Ansatzes einen Rollenwechsel. Dies geschieht dadurch, dass sie innerhalb einer Unterrichtswoche mit jeweils immer neuen Schülerkursen von der Schüler- über die Tutor- in die Lehrerrolle hineinwachsen. Zunächst führen sie als zusätzliche Schülergruppe die Experimente selbst durch, um mögliche Lernschwierigkeiten aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern wahrzunehmen. In den kommenden Tagen betreuen sie zwei Schülergruppen als Tutoreninnen und Tutoren, und schließlich unterrichten sie als Lehrkraft einen Unterrichtsabschnitt. Hier können sie aus den zu Beginn wahrgenommenen Lernschwierigkeiten eigene instruktionale Änderungen umsetzen, um derartige Schwierigkeiten zu vermeiden. Eine begleitende Studie stellte die wesentlichen Ergebnisse dieses einmaligen Moduls dem internationalen Publikum vor.[5]
Die Universität Bayreuth setzt aber nicht nur in Bezug auf Studieninhalte, sondern auch bei der Organisationsform der Lehramtsstudiengänge Maßstäbe. Als eine der beiden ersten Universitäten in Bayern führte sie bereits 2006 Bachelor- und Master-Strukturen im Lehramtsstudium ein. Das Bayreuther Lehrerbildungsprofil weist dabei eine Reihe charakteristischer Strukturmerkmale auf:
Begabtenförderung im Lehramtsstudium - dies ist der neueste Innovationsimpuls, den die Universität Bayreuth in der Lehrerbildung setzt. Zum Wintersemester 2016/17 richtet sie im Elitenetzwerk Bayern den ersten Elitestudiengang für Lehramtsstudierende ein. Der Studiengang "MINT-Lehramt PLUS" richtet sich an besonders begabte und leistungsfähige Studierende der Fächer Biologie, Chemie, Informatik, Mathematik und Physik für das Lehramt an Gymnasien. Er bietet ihnen Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, die über die Angebote der regulären Lehramtsstudiengänge substanziell hinausgehen. Die Studierenden können ihre fachlichen Kompetenzen im MINT-Bereich erweitern, indem sie das breite Angebot fachwissenschaftlicher Masterstudiengänge nutzen und zudem anhand speziell eingerichteter Lehrformen in aktuelle Forschungsgebiete der Fachwissenschaften und der Fachdidaktiken vordringen. Charakteristisch sind dabei der interdisziplinäre Austausch und eine Einbettung in internationale Forschung mit vielfältigen Freiräumen für persönliche Schwerpunktsetzungen.
AUTOREN
Prof. Dr. Volker Ulm ist Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik und ihre Didaktik und Direktor des Zentrums für Lehrerbildung (ZLB) der Universität Bayreuth.
Prof. Dr. Franz X. Bogner ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Biologie und Direktor des Zentrums zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts (Z-MNU) der Universität Bayreuth.
[1] "Sinus-Transfer is characterized by a long-term, school-based and
collaborative approach that is focused on students' learning. It
relates to didactical problems in science classrooms and stimulates
teachers to evaluate and reflect their teaching in a process of
continuous quality development. During the process a strong
cooperation is established between teachers within and between schools
as well as between researchers and practitioners. The impact of
Sinus-Transfer is very positive", in: European Commission: Science
Education Now - A Renewed Pedagogy for the Future of Europe. European
Communities. Brüssel 2007 (Rocard-Report), S. 15.
Vgl. die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Naturwissenschaftliche
Erziehung jetzt: Eine erneuerte Erziehung für die Zukunft
Europas":
http://ec.europa.eu/research/science-society/document_library/pdf_06/report-rocard-on-science-education_de.pdf, S.15.
[2] "Inquiry-based science education (IBSE) has proved its efficacy at both primary and secondary levels in increasing children's and students' interest and attainments levels while at the same time stimulating teacher motivation. IBSE is effective with all kinds of students from the weakest to the most able and is fully compatible with the ambition of excellence. Moreover IBSE is beneficial to promoting girls' interest and participation in science activities. Finally, IBSE and traditional deductive approaches are not mutually exclusive and they should be combined in any science classroom to accommodate different mindsets and age-group preferences." (Rocard-Report, ebd., S. 2).
[3] Franz-Josef Scharfenberg und Franz X. Bogner, Instructional efficiency of changing cognitive load in an out-of-school laboratory. In: International Journal of Science Education, 32(6), S. 829-844 (2010); Franz-Josef Scharfenberg und Franz X. Bogner, A new two-step approach for hands-on teaching of gene technology: Effects on students' activities during experimentation in an outreach gene technology lab. In: Research in Science Education, 41(4), 505-523 (2011).
[4] Franz-Josef Scharfenberg und Franz X. Bogner: Investigation of Students' Alternative Conceptions of Terms and Processes of Gene Technology, International Scholarly Research Network Education (2013), (Article ID 741807).
[5] Franz-Josef Scharfenberg und Franz X. Bogner: A New Role-Change Approach in Pre-service Teacher Education for Developing Pedagogical Content Knowledge in the Context of a Student Outreach, in: Lab. Research in Science Education (2015, online first).
Rocard-Bericht der Europäischen Kommission, Science Education
Now - A Renewed Pedagogy for the Future of Europe:
http://ec.europa.eu/research/science-society/document_library/pdf_06/report-rocard-on-science-education_en.pdf
Elite-Programm "MINT-Lehramt PLUS" im Elitenetzwerk Bayern:
www.mint-lehramt-plus.bayern
*
Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juli 2016, Seite 14-17
Herausgeber: Universität Bayreuth
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Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.
veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2016
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