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UNIVERSITÄT/039: Interdisziplinarität - eine Geisteshaltung, aber kein Fetisch (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! - Mai 2011 - Forum der Universität Tübingen

Eine Geisteshaltung, aber kein Fetisch

Interdisziplinarität ist in Mode. Sie bringt Fördergelder und im Idealfall wissenschaftliche Erkenntnis. Aber sie darf nicht zum Selbstzweck werden. Die attempto!-Redaktion sprach mit dem Rektor der Universität Tübingen, Professor Bernd Engler, über Chancen, Risiken und Grenzen einer breit angelegten wissenschaftlichen Zusammenarbeit der Disziplinen.


attempto!: Herr Engler, wie würden Sie Interdisziplinarität beschreiben?

Engler: Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, die in diesem Kontext mitunter bemüht werden, um eine gewisse Trennschärfe zu entwickeln: Interdisziplinarität, Transdisziplinarität oder auch Multidisziplinarität. Entscheidend für die Interdisziplinarität ist etwa, dass Kernkompetenzen in einem Fachbereich in Kommunikation mit solchen in einem anderen Fachbereich treten. Die jeweiligen Disziplinen, die in Interaktion treten, bleiben nach diesem Konzept in der Sache unangetastet. Anders bei der Transdisziplinarität: So ist zum Beispiel Biochemie nicht Biologie plus Chemie, nicht nur eine bloße Überlappung oder fragwürdige Synthese sondern ein Überblenden von Fragestellungen und Methoden der beiden Bereiche, das ein völlig neues Wissenschaftsgebiet mit einem genuin neuen Selbstverständnis hervorbringt. Transdisziplinarität als Konzept geht davon aus, dass sich die alten Disziplinen eben nicht mehr disziplinär verhalten, sondern in einen neuen Aggregatszustand eintreten. Mittlerweile stellen wir in vielen Wissenschaftsfeldern aber bereits eine Interaktion von mehr als zwei Bereichen fest, wie zum Beispiel in den Lebens- oder Kognitionswissenschaften. Hier entstehen interdisziplinäre Innovationen, die weit über die bekannten Überlappungs- und Transformationsphänomene hinausgehen. In diesem Zusammenhang sprechen viele gern von Multidisziplinarität.

attempto!: Wie sehen sie vor diesem Hintergrund die Zukunft der einzelnen Fachdisziplinen?

Engler: Ich bin überzeugt, dass die disziplinäre Forschung bestehen bleibt, ist sie doch die Grundlage jedweder Interdisziplinarität. Nur sie garantiert eine solide Basis für die Forschung. Die aktuelle Entwicklung zeigt jedoch auch, dass das allzu enge Verständnis von Disziplinarität in Auflösung begriffen ist.

attempto!: Wo kann die Forderung nach Interdisziplinarität problematisch werden?

Engler: Interdisziplinarität darf auf keinen Fall ein Fetisch sein, den man vor sich her trägt, weil sie gerade en vogue ist. Sie braucht immer die disziplinäre Kernkompetenz und auch den fachlichen Gegenstand, der sie überhaupt erst erfordert. Man darf Interdisziplinarität nicht nur verfolgen, um bestimmten Förderformaten zu entsprechen. Transdisziplinarität oder Multidisziplinarität laufen die Gefahr des wissenschaftlichen Dilettierens, sobald die Forscher aus der eigenen Kernkompetenz heraustreten. Größere und hinreichend ausdifferenzierte Einrichtungen sind hier im Vorteil. Sie können leichter die Fachexpertise verschiedenster Disziplinen zusammenbringen. Diese Voraussetzungen haben kleine Institute nicht. Multidisziplinarität wird ein Einzelner in einer wirklich gültigen Art und Weise nie erreichen können.

attempto!: Das heißt, eine Person allein kann nicht interdisziplinär sein, es braucht mindestens zwei?

Engler: Ja - und nein. Wenn jemand beispielsweise Amerikanistik und Theologie studiert, dann bringt er bereits ein gewisses Maß an interdisziplinären Kompetenzen mit. Jeder Forscher sollte es sich allerdings als Selbstverpflichtung auferlegen, Disziplinarität immer noch als seine eigentliche wissenschaftliche Fundierung zu betrachten.

attempto!: Haben Sie selbst in Ihrem wissenschaftlichen Leben als Amerikanist schon interdisziplinär gearbeitet? Engler: Ich bin als Literaturwissenschaftler akademisch sozialisiert worden. In meiner Dissertation habe ich aber eine stark geschichtswissenschaftliche Akzentuierung entwickelt. Im Laufe meiner weiteren Forschungen habe ich mich später mit Fragen des Millenarismus beschäftigt, der religiösen Heilserwartung, die das amerikanische Denken seit der frühesten Auswanderung der europäischen Siedler nach Amerika begleitete. Das bedeutete, dass ich mich sehr intensiv mit den Wurzeln dieses Denkens in der abendländischen Theologie auseinandersetzen musste. Ich denke, dass ich hinsichtlich theologischer Fragestellungen eine Kompetenz erworben habe, die weit über den ursprünglichen Kern des Faches Amerikanistik hinausweist.

attempto!: Welche Rolle spielt Interdisziplinarität für das Profil der Universität, für ihr Selbstverständnis?

Engler: Sie ist eine Geisteshaltung, das Endprodukt eines Sich-Öffnens gegenüber Fragestellungen, die nicht die alltäglichen eines Faches sind. Insofern ist sie auch das Produkt eines wachen und offenen Geistes. Hier sind wir im Zentrum des akademischen Bildungsauftrages - junge Menschen soweit mit Fragestellungen zu konfrontieren, dass sie das ständige Hinausgreifen über das Bekannte, den Akt der bewussten Selbstbefremdung, zum Programm ihrer eigenen Bildungsbiografie erheben. In diesem Sinne hat sich die Universität Tübingen natürlich mit einigen ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen bestens positioniert - angefangen beim Forum Scientiarum oder dem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften bis hin zur Förderung der Schlüsselqualifikationen oder etwa dem Studium Oecologicum. Interdisziplinarität kann aber keine Programmatik sein, die dem Wissenschaftsbetrieb verordnet wird. Sie kann bestenfalls gezielt ermöglicht werden. Eine solche Ermöglichungsform sehe ich etwa in der Zentrumsbildung, die sich ja primär der Interaktion über die traditionellen Grenzen der Disziplinen hinaus verschreibt. Wenn wir mit solchen Ermöglichungsszenarien produktiv umgehen, wird auch die Wissenschaft große Fortschritte machen.

attempto!: Ist auch die Graduiertenakademie, die ja jetzt entsteht, eine solche Ermöglichungsform?

Engler: Ich sehe die Graduiertenakademie und auch die bereits praktizierten Promotionsverbünde oder Mini-Graduiertenkollegs als wichtige Schritte, das Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses für den Mehrwert, der sich aus einem interdisziplinären Dialog ergibt, zu wecken. Nur wenn dieser Mehrwert erkennbar wird, wird auch der offene Geist überhaupt als eine positive Herausforderung begriffen und eben nicht als etwas, dem man nur nacheifert, um wissenschaftlich "in" zu sein. Der eigentliche Impuls für Interdisziplinarität muss sich von der Sache her ergeben.

attempto!: Wie weit kann Interdisziplinarität gehen, wie entfernt können die Disziplinen sein, die sich zusammentun?

Engler: Es gibt, zumindest im abstrakten Sinne, keine Begrenzung für Interdisziplinarität, zumindest solange die Disziplinen kommunikationsfähig bleiben. Man kann freilich nicht zwei Personen zusammenbringen, die sich eigentlich nichts zu sagen haben, und dann glauben, allein durch das bloße Miteinander sei schon ein Mehrwert entstanden. Disziplinen haben ihre eigene Wissenskultur und auch ihre eigenen Formen der Wissenskommunikation entwickelt. Auch wenn sich manche Disziplinen sehr schwer tun, mit anderen eine gemeinsame Sprache zu finden, stellt das Bemühen um eine solche Sprache eine meines Erachtens ausgesprochen wichtige geistige Übung dar. Es sollte keine grundsätzlichen Berührungsängste geben, aber wenn man feststellt, dass die Kommunikation miteinander oder die Interaktion von Methoden die Beteiligten nicht weiter bringt, dann erübrigt sich natürlich auch Interdisziplinarität.


Das Gespräch führten Gabriele Förder und Michael Seifert.


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Quelle:
attempto! - Mai 2011, Seite 6-7
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
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Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011