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THEORIE/009: Vom Bilderbogen zum Comic Strip


Vom Bilderbogen zum Comic Strip


Man kennt die Darstellungen aus Geschichtsbüchern: Auf einem mittelalterlichen Marktplatz drängt sich vor einer großen Tafel, auf der eine farbenprächtige Bildergeschichte zu erkennen ist, eine Zuschauermenge, die den Geschichten, Versen oder Liedern lauscht, die ein Schausteller mit bühnenreifer Dramatik zum Besten gibt. Mit seinem Zeigestock weist er von Bild zu Bild und läßt durch seine Erläuterungen das Ereignis noch einmal lebendig werden. Diese Darbietungen waren ausgesprochen beliebte Veranstaltungen und die Auftritte der fahrenden Sänger und Erzähler wurden jedesmal mit Spannung erwartet. Für einen Großteil der Menschen stellten diese Bilderbogen eine der seltenen Möglichkeiten dar, sich über aktuelle Geschehnisse zu informieren, denn nur die wenigsten - nach Schätzungen etwa jeder zehnte - konnten lesen oder schreiben.

Eine andere, ebenfalls sehr beliebte Form der Bilderbogen waren Holzschnitte oder Kupferstiche, die Bildergeschichten enthielten, denen erläuternde Texte, oft auch in Versform, beigefügt waren. Diese Einblattdrucke, im 16. Jahrhundert auch Bildserien mit mehreren aufeinanderfolgenden Blättern, fanden das Interesse aller Bevölkerungsschichten. Sie waren unter anderem deshalb so beliebt, weil sie auch von Analphabeten verstanden werden konnten.

Kein Lebensbereich blieb den Bilderbogen verschlossen. Es gab Darstellungen von Moritaten, satirische, unterhaltende oder belehrende Bildergeschichten ebenso wie illustrierte Sprichwörter oder Porträts von berühmten Persönlichkeiten. Man konnte sich aber auch in mehr katalogartige Abbildungen von Moden, Frisuren, oder Uniformen vertiefen. Die Möglichkeit einer kontinuierlichen Darstellung, die wie eine Art "Film" wirkte, der entweder durch den Erzähler mit seinem Zeigestock oder durch die Betrachtung des gedruckten Bilderbogens zum "Laufen" gebracht wurde, gab diesem Medium seinen besonderen Reiz. Später wurde die Darstellungsweise des Bilderbogens auch von illustrierten Zeitschriften - überwiegend humoristischen oder satirischen Blättern - übernommen und erfreute sich auch hier großer Beliebtheit. Ein anderes populäres Beispiel sind Wilhelm Buschs betextete Bildgeschichten, die in aller Welt bekannt geworden sind.

Eine entscheidende Neuerung trat um die Wende zum 20. Jahrhundert ein: Die ersten Comic Strips entstanden. Im Unterschied zu den bisher erschienenen Bildergeschichten wurden in "The Yellow Kid" (R.F. Outcault, New York, 1896) und "The Katzenjammer-Kid" (Rudolf Dirks, New York, 1987) die Texte den Personen in Form von Sprechblasen zugeordnet. Dadurch, daß der Text nun direkt im Bild stand, änderte sich die Art der Wahrnehmung der Bildgeschichte: Während man bei untertitelten Bildfolgen Bild und Text getrennt - nacheinander - wahrnimmt und die Verbindung durch Hin- und Herspringen mit den Augen herstellt, erscheint bei Sprechblasen- Comics der Text im selben Moment, in dem man das Bild betrachtet. Das macht die Bildgeschichte lebendiger und erhöht Spannung und Dramatik.

Außerdem kann die Sprechblase durch verschiedene Attribute auch die Art, wie gesprochen wird und die Stimmung verbildlichen. Die Größe der Schrift weist auf die Lautstärke hin, in der gesprochen wird, Blümchenranken um die Sprechblase herum versinnbildlichen einen lieblichen, einschmeichelnden Tonfall, Eiszapfen vermitteln eine frostige Atmosphäre. Bei einer stacheligen Umrandung "hört" man förmlich den Schrei, der ausgestoßen wird, während eine gestrichelte Linie auf Flüsterton hinweist. Gedanken, die nicht laut ausgesprochen werden, kann man an der "Denkblase" in Wolkenform erkennen.

Von Amerika aus trat der Comic Strip seinen Siegeszug an. Zunächst erschienen ausschließlich komische Bildergeschichten als Beilage in Tageszeitungen, weil man sich davon eine Belebung des Verkaufs erhoffte. Eine Rechnung, die sehr zur Zufriedenheit der Verleger aufging. Die Leserschaft liebte schon bald ihre komischen kleinen Helden und wollte sie nicht mehr missen.

Auch bei den frühen Comics trug die Möglichkeit, sie auch ohne Worte zu verstehen, wie schon bei den Bilderbogen zu Beliebtheit und Verbreitung enorm bei: Die USA und besonders die Metropole New York waren um die Jahrhundertwende von einer Vielzahl europäischer Einwanderer überschwemmt, die zum großen Teil kein Englisch konnten. Und die gezeichneten Geschichten mit ihrer einfachen Sprache ermöglichten den Einwanderern einen leichten Zugang zur neuen Sprache.

1929 erschien dann das erste eigenständige Comic-Heft, das Nachdrucke der inzwischen ungeheuer populären Zeitungsstrips enthielt. Eine weitere Neuerung waren die ebenfalls im Jahre 1929 erstmals erschienenen Abenteuer-Comics. Der nach einer Romanvorlage gezeichnete "Tarzan" war der erste realistisch gezeichnete Comicheld (Sein Zeichner Harold Foster gelangte später mit "Prinz Eisenherz" zu Weltruhm). Zu ihm gesellte sich noch im selben Jahr die Science-Fiction-Serie "Buck Rogers", die ausschließlich für den Comic geschaffen wurde.

Man kann sagen, daß der Markt in den folgenden Jahrzehnten förmlich explodierte. Inzwischen kann man auch von den Comics behaupten, daß ihnen kein Lebensbereich verschlossen geblieben ist. Heute gibt es alle möglichen Arten von komischen Comics, Abenteuer-, Western- und Science-Fiction-Strips, Geschichten mit Super- oder Antihelden, Horror oder Krimi, Tiere, Kinder ... und das alles in verschiedensten darstellerischen Variationen, naturalistisch, komisch, übertrieben, pingelig oder flott gezeichnet, in Farbe oder Schwarzweiß.

Sicherlich gibt es im Comic-Genre - wie in jedem anderen auch - qualitativ Bessere und Schlechtere, vielfach trifft man aber immer noch auf eine pauschale Verdammung aller Comics. Sie findet ihren Ursprung wahrscheinlich in einer Verkennung der beabsichtigten einfachen Darstellungsform sowohl der frühen Bildergeschichten als auch der Comics - eines eigentlich sehr positiven Merkmals, weil sie auf diese Weise für jedermann verständlich waren und man nicht "gebildet" sein mußte, um sich an den Darstellungen zu erfreuen. Die gezeichneten Bildergeschichten trugen dazu bei, daß auch "ungebildete" Menschen eine Möglichkeit hatten, sich zu informieren oder zu unterhalten.

Man kann annehmen, daß diejenigen, die "den Comic" grundsätzlich und allgemein in Grund und Boden verdammen, sich weder einen Überblick über die Vielfalt verschafft haben, die inzwischen auf dem Markt vorhanden ist, noch sich mit den ausgeklügelten darstellerischen Methoden beschäftigt haben, mit denen der Zeichner eine Story zum Leben erweckt.

19. Januar 2007